Das Gespür für Wachstum : Sutra 01

Autor*in:  Image of Hermann KuhnHermann Kuhn
Veröffentlicht: 03.06.2014
Aktualisiert: 25.06.2014

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Samyag darshana jnana charitrani moksa margah (1)

  1. Das Gespür, welcher Weg optimal zur Entfaltung unseres Bewußtseins führt (samyag darshana),
  2. Wissen, das uns diese Bewußtseinsentfaltung klar erkennen und verstehen läßt (samyag jnana) und
  3. die Umsetzung der auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse in Handlung (samyag charitra)

sind der Weg zur Befreiung. (1)


 

Drei Faktoren müssen zusammentreffen, damit eine dynamische Entwicklung in Richtung auf neue, bewußtseinserweiternde Erfahrungen möglich werden kann:

1 - Das Gespür, welcher Weg optimal zur Entfaltung unseres Bewußtseins führt (samyag darshana)

ist die Fähigkeit, aus den unzähligen Handlungsalternativen des täglichen Lebens intuitiv die eine optimale Möglichkeit auszuwählen, die in uns umfassenderes Verständnis auslöst und neue, expansive und interessantere Erfahrungsebenen öffnet.

Intuitives Gespür für diese Art inneres Wachstum ist keine mystische Fähigkeit, die wir erst mühsam mit esoterischen Techniken entwickeln müssen, sondern die spezielle Variante einer völlig normalen Bewußtseinserfahrung, die im Sanskrit darshana genannt wird und Teil unserer Wahrnehmung ist.

Darshana ist intuitives Verstehen; - es ist das emotionale Gewicht, mit dem wir Sinneseindrücke und Erkenntnisse belegen. Durch intuitives Verstehen wählen wir im täglichen Leben aus allen uns zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten denjenigen Weg aus, von dem wir uns gefühlsmäßig[1] am meisten angezogen fühlen.

Unser Intellekt spielt bei dieser Auswahl kaum eine Rolle, da er viel zu langsam ist, um im schnellen Lauf des täglichen Lebens alle Konsequenzen einer Handlung im voraus abwägen zu können.

Wir wissen jedoch, daß unsere Intuition uns auch in die Irre führen und unerwünschte Ergebnisse bringen kann.

Dieses Buch beschreibt daher eine spezielle Variante des intuitiven Verstehens, die Irrtum und fehlerhaftes Verständnis ausschließt. Diese spezielle Variante wird im Sanskrit samyag darshana genannt und in diesem Buch als 'Das Gespür für Wachstum' bezeichnet.

Das Gespür für Wachstum ist eine naturgegebene Fähigkeit unseres Bewußtseins. Seine Entfaltung steht jedem offen. Der Autor des Tattvarthasutras stellte diese Fähigkeit demonstrativ an den Anfang des Werkes und unterstreicht damit deren zentrale Bedeutung für unsere Entwicklung.

Das Gespür für Wachstum befähigt uns, im Ablauf des täglichen Lebens spontan und mit nachtwandlerischer Sicherheit diejenigen Handlungen auszuwählen, die uns der Verwirklichung der in uns vorhandenen immensen potentiellen Fähigkeiten und der Entfaltung immer umfassenderer Wahrnehmung näher bringen. Es versetzt uns in die Lage, irreführende Information intuitiv erkennen und ausschließen zu können.

Unser Gespür für Wachstum ist der wesentliche Schlüssel zu der dynamischen Bewußtseinsentwicklung, die letztendlich zur Befreiung führt. Der Einsatz dieser Fähigkeit und deren Ausbildung zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Werk.

Die eben geschilderten Eigenschaften von samyag darshana (das Gespür für Wachstum) sind jedoch nur der praktische Ausdruck dieses weit umfassenderen Begriffes. Das gesamte Ausmaß und die Tiefe dieses Begriffes wird im nächsten Sutra deutlich.

Sutra 3 beschreibt dann, wie wir unser Gespür für Wachstum entwickeln und ausbauen können.

Sutra 15 beschreibt die einzelnen Stufen unserer Wahrnehmung und stellt dar, auf welche Weise das Gespür für Wachstum uns Zugang zu den Teilen der Realität gibt, die uns zuvor verborgen waren.

 

2 - Wissen, das uns diese Bewußtseinsentfaltung klar erkennen und verstehen läßt (samyag jnana),

macht uns die Mechanismen bewußt, durch die unsere potentiellen Fähigkeiten Wirklichkeit werden.

Wir gehen normalerweise davon aus, daß wir zunächst Wissen erwerben, und dieses dann anwenden, wenn wir uns zuvor unbekannte Erfahrungsbereiche erschließen wollen. In der Praxis ist der Vorgang jedoch genau umgekehrt: Wir erfahren erst etwas Neues und suchen dann mehr oder weniger intuitiv und vielfach auch unterbewußt nach Modellen und Konzepten, die uns diese neuen Erfahrungen erklären und zu unserem bisherigen Lebensverständnis in Bezug setzen können. Dies trifft insbesondere auf Bewußtseinserfahrungen zu, die weit über den Bereich hinausgehen, der uns vertraut ist.

Entgegen herkömmlicher Vorstellungen sind bewußtseinserweiternde Erfahrungen nur selten so intensiv und deutlich, daß wir unmittelbar darauf aufmerksam werden. Die meisten Einblicke in andere (neue) Bewußtseinsebenen sind derart kurz, daß sie uns wie extrem flüchtige, fast irreale Erscheinungen vorkommen. Da wir uns diese Zustände nicht erklären können, werden sie gewöhnlich nach kurzer Irritation zu den vielen anderen, ungeklärten Erlebnissen getan, die unser Leben begleiten und die wir ebenfalls ignorieren.

Wir tragen daher eine Reihe von Erfahrungen in uns, deren Existenz uns nicht oder in nur geringem Maße bewußt ist, die aber wesentliche Informationen darüber enthalten, wie sich andere, umfassendere Existenzstufen anfühlen.

Die Art von Wissen, die im Sutrentext genannt wird (samyag jnana), hat die Aufgabe, uns genau diese Erfahrungen bewußt zu machen und uns den Zugang dazu zu ermöglichen.

Es ist spezielles Wissen, das uns über mehrere Kanäle erreichen kann. Einige dieser Kanäle sind im Westen nicht bekannt oder werden falsch verstanden. Dieses Buch erklärt Bandbreite und Wirkungsbereich jeder dieser Kanäle und beschreibt, welche Art Wissen sie übermitteln.[2]

Auf welche Weise uns dieses Wissen übermittelt wird - durch verbale Erläuterung, das Lesen entsprechender Schriften, oder plötzliches intuitives Verstehen - ist nicht von primärer Bedeutung.

Diejenigen, die bereits Zugang zu umfassenderen Erfahrungsebenen haben, ohne sich dessen bewußt zu sein, werden durch die Vermittlung des Wissens auf diese Öffnung aufmerksam.

Es lohnt sich jedoch in jedem Fall, sich mit dieser Art Wissen zu beschäftigen, da dadurch Bereiche unseres Bewußtseins mit Lebendigkeit gefüllt werden, zu denen wir zuvor kaum Beziehung hatten.

Allein durch Studium oder rein intellektuelle Kenntnis lassen sich neue Bewußtseinserfahrungen nicht erschließen.

Klares Wissen dieser Art macht uns den Teil des Weges bewußt, den wir bereits erfahren haben. Deshalb ist die Beschäftigung mit Konzepten, die die Erweiterung unseres Bewußtseins beschreiben, und die Zuordnung dieser Konzepte zu unseren Erfahrungen ein wesentliches Element des Weges.

Gleichzeitig mit jedem bewußtseinserweiternden Erlebnis erhalten wir auch die Fähigkeit, dieses Erlebnis vollständig zu verstehen. Dies geschieht unabhängig davon, in welchem Maße uns dies beim Eintreten des Ereignisses bewußt ist. Erlebnis und Verständnis sind lediglich zwei verschiedene Aspekte ein und desselben Ereignisses.

Irrtum, Mißverstehen und Zweifel bei der Aufnahme und Anwendung dieses Wissens werden automatisch ausgeschlossen, wenn wir uns dabei von unserem Gespür für Wachstum (samyag darshana) leiten lassen. Dieses untrügliche Gespür läßt uns intuitiv erfühlen, wie sich die erhaltenen Informationen auf unsere Entwicklung auswirken. Wir haben dadurch die Möglichkeit, nur die Impulse anzunehmen, die mit unbeirrbarer Sicherheit in höhere Ebenen führen.

Die Sutren 9-31 beschreiben Reichweite und Funktionsweise der Kanäle, über die wir Wissen erhalten.

 

3 - Die Umsetzung der auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse in Handlung (samyag charitra)

ist die bewußte Entscheidung, den Weg auch zu gehen, der uns aus der Einschränkung von Bewußtsein und Aktivitäten herausführt und inneres Wachstum auslöst.

Viele, die eine Erweiterung ihres Bewußtseins anstreben, sind der Ansicht, daß dies auf rein geistiger Ebene geschieht und ein Zurückziehen von den Aktivitäten der Welt erfordert. Überzeugungen dieser Art führen dann leicht dazu, Aktivität und das Instrument der Aktivität - unseren Körper - geringer zu werten als geistige Bemühungen. Handlungen jeder Art (und oft auch der Körper) werden dabei als lästig empfunden und als störend für die spirituelle Entwicklung abgelehnt.

Der Text des Sutras stellt nun klar, daß Aktivität ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Entwicklungsprozesses ist. Nur durch Umsetzen unserer Erkenntnisse in Handlung wird die Entfaltung unseres Bewußtseins erst möglich. Eine rein geistige Beschäftigung mit esoterischen Inhalten[3] - wie intensiv und ernsthaft sie auch sein mag - vernachlässigt eine der drei wesentlichen Komponenten und kann daher letztendlich auch keine optimale und stabile Bewußtseinsentfaltung hervorrufen.

Handlung ist ein wesentlicher Teil unseres Lebens im Zustand der Verkörperungen. Durch Handlung streben wir nach der Erfüllung (Umsetzung, Realisierung) der im Inneren gefühlten Werte und Ideen. Das emotionale Engagement, mit dem wir unsere Vorstellungen verfolgen, wirkt dabei wie ein Magnet, der all die Komponenten anzieht, die zur Erfüllung dieser Vorstellungen notwendig sind.

Dieses emotionale Engagement läßt uns die Themen unseres Lebens solange erfahren, bis wir optimale Erkenntnis daraus gewonnen haben und unsere emotionale Anhaftung an die (erledigten) Themen fortfällt.

Eine emotionale Bindung an unerledigte Lebensthemen bleibt jedoch auch dann bestehen, wenn wir deren Umsetzung in Handlung ablehnen. Ohne die Umsetzung in Aktivität wird unser Leben immer wieder auf die noch unerledigten Themen gelenkt werden.

Auf inneres Wachstum ausgerichtetes Handeln befähigt uns, die einzelnen Aktivitäten so intelligent anzuordnen, daß unerwünschte Lebensthemen fortfallen oder in kürzestmöglicher Zeit abgehandelt werden.[4] Die Erfahrung umfassenderer Bewußtseinsehenen stellt sich dann automatisch ein.

 

Befreiung (moksa) ist die Entfaltung der höchsten Stufe unserer Fähigkeiten.

Diese Fähigkeiten, die wir auch jetzt schon in uns tragen, erschließen uns nach den Jains eine wahrhaft atemberaubende Weite und Tiefe an Wissen, Macht, Begabung und der Erfahrung von Glück, dem wir im Westen kein vergleichbares Konzept entgegenstellen können. Befreiung wird erreicht durch das Wegfallen aller Elemente, die den uneingeschränkten Einsatz unseres Bewußtseins blockieren. Erst mit dem vollständigen Wegfall der Blockaden erhalten wir Zugang zum höchsten Status all unserer Fähigkeiten.

Ziel der Jaina Philosophie ist es, jedem, der sich dafür interessiert, ein Instrument, eine Methode in die Hand zu geben, mit der er diesen höchsten Status des eigenen Potentials verwirklichen kann. Diejenigen, die diese Methode in die Praxis umsetzen, begeben sich auf einen Weg, an dessen Ziel vollkommene Selbstbestimmtheit und die Entfaltung von Eigenschaften liegt, die üblicherweise nur Göttern (oder einem Gott) zugeschrieben werden. Dieses Ziel wird jedoch nicht in Abhängigkeit vom Segen übergeordneter Wesen, einer übersinnlichen Kraft oder eines Guru erreicht. Die Methode der Jains läßt - allein abhängig vom eigenen Einsatz - Beschränkungen, Blockaden und Grenzen unseres Bewußtseins nach und nach fortfallen. In wachsender Selbstbestimmtheit zeichnet sich unser individueller Weg zu umfassender Erkenntnis dann immer deutlicher ab. Das Tattvarthasutra schildert auf exakte Weise, wie dies möglich ist.

Der Text des Sutras führt drei Elemente auf. Dies bedeutet jedoch nicht, daß jedes Element für sich einen eigenständigen Weg darstellt. Der Text macht deutlich, daß nur das Zusammenspiel aller drei Faktoren:

  1. das intuitive Erfühlen, wie wir optimal Erkenntnis und Erfahrung in uns entfalten,
  2. das bewußte Verstehen der Mechanismen, die in uns neue Erfahrungsebenen erschließen und
  3. die konsequente Umsetzung der Fähigkeiten und Erkenntnisse, die wir dadurch erhalten, in Handlung,

uns den Weg in Bewußtseinsebenen eröffnen, deren Eigenschaften jeden Rahmen westlicher Vorstellungskraft sprengen.

Fußnoten
1:

Zum Vorkommen im Text springen

2:

Zum Vorkommen im Text springen

3:

Zum Vorkommen im Text springen

4:

Zum Vorkommen im Text springen

Quellen
Titel: Das Gespür für Wachstum Ausgabe: 1999, 2000 Verlag: Crosswind Publishing, 31505 Wunstorf ISBN: 3-9806211-7-0 HN4U Online Edition: 2014

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  5. Guru
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