Vyanjanasyavagrahah (18)
Wahrnehmung (avagraha) nimmt Objekte und Abläufe undeutlich wahr. (18)Wahrnehmung (avagraha) ist die erste Stufe des Sinneswissens (mati). Unsere unmittelbare Wahrnehmung nimmt Objekte und Abläufe auf so unklare, vage Art auf, daß wir uns darüber weder eine Vorstellung (iha) bilden, noch das Aufgenommene beurteilen oder einordnen können.
Der Sutrentext legt dar, daß Wahrnehmung unabhängig davon abläuft, ob später eine Verarbeitung (Interpretation, Speicherung etc.) stattfindet. Das bedeutet, daß vieles, das wir wahrnehmen, niemals die Bewußtseinsschwelle zu unserer Aufmerksamkeit überschreitet.
Dieser Vorgang ist ein weiterer Filter, der zwischen der Wirklichkeit und unserem Bewußtsein Hegt. Er funktioniert jedoch auf einer völlig anderen Ebene als darshana (siehe Sutra 15). darshana legt im Wesentlichen fest, ob eine Tendenz in Richtung auf ein Objekt überhaupt entstehen kann.[4] Avagraha dagegen nimmt Gegenstände und Objekte sehr wohl wahr, gibt sie jedoch nur dann zur bewußten Verarbeitung frei, wenn die Wahrnehmung andauert oder ausreichend oft erfolgt.
Ein Beispiel verdeutlicht diesen Vorgang:
Ein Tongefäß wird nicht durch zwei, drei Tropfen naß. Erst wenn es immer wieder benetzt wird, wird seine Feuchtigkeit erkennbar. Ähnlich verhält sich Materie in ihren Eigenschaften als Klang, Geruch, etc. In den ersten zwei oder drei Momenten können wir nicht klar bestimmen, was wir da gehört, gespürt oder gerochen haben. Wenn wir das Ereignis jedoch wiederholt wahrnehmen, wird es bestimmbar.
Das Bewußtwerden einer Wahrnehmung (avagraha) läuft daher in zwei Schritten ab:
- Wir nehmen etwas Unbestimmbares wahr. Unsere Aufmerksamkeit wird davon peripher berührt, richtet sich aber nicht voll auf die Erfahrung.
- Die Wahrnehmung tritt erneut auf. Unsere Aufmerksamkeit engagiert sich, die Erfahrung wird deutlich und ist damit zur weiteren (bewußten) Verarbeitung bereit.
So theoretisch sich dieser Ablauf anhören mag, so konkret und unmittelbar erfahren wir ihn in unserem Leben. So arbeitet beispielsweise die heutige Werbung gerne damit, bestimmte Impulse nur unterschwellig, - d.h. auf der ersten (undeutlichen) Stufe - zu vermitteln.
Auch etwas Unbestimmbares, Vages, das wir nur auf Stufe 1 wahrnehmen, vermittelt uns das gesamte Spektrum, das ein Objekt oder ein Ablauf in sich trägt (siehe Sutra 17). Wenn uns auf Stufe 1 beispielsweise das Gefühl übermittelt wird, ein bestimmter (unnützer) Gegenstand sei attraktiv, dann tragen wir von nun an die unterbewußte Tendenz zu einem Impulskauf in uns.
Die Werbung hat großes Interesse daran, unsere Aufmerksamkeit nicht bis zu Stufe 2 vordringen zu lassen. Sobald wir nämlich den Inhalt der Werbung bewußt in uns aufnehmen und anfangen darüber nachzudenken, ist die Chance groß, daß wir die Wertlosigkeit des Gegenstandes klar erkennen. Der von der Werbung angestrebte spontane Kauf ist dann unmöglich, da wir einen bewußten Entschluß dagegen gefällt haben.
Werbung dieser Art ist besonders wirksam, wenn unser Gehör, unser Geschmackssinn und die taktile Wahrnehmung engagiert sind. Die undeutliche Wahrnehmung gilt nämlich nicht für alle Sinnesorgane.