Das Gespür für Wachstum : Pramana - Das Erfassen der Gesamtheit aller möglichen Aspekte, Eigenschaften und Erscheinungsformen der Elemente

Autor*in:  Image of Hermann KuhnHermann Kuhn
Veröffentlicht: 22.06.2014
Aktualisiert: 22.06.2014
Das Erfassen der Gesamtheit aller möglichen Aspekte, Eigenschaften und Erscheinungsformen der Elemente (pramana)

erfahren wir als das unmittelbare, sofortige undvollständige Begreifen komplexer Situationen. So übernatürlich uns die Fähigkeit auf den ersten Blick auch erscheinen mag, so selbstverständlich und mühelos üben wir sie im täglichen Leben aus. Ohne den ständigen Einsatz dieser Art Gesamtschau - pramana[22] - hätten wir kaum Chancen zu überleben.

pramana äußert sich im blitzartigen und vollständigen Erkennen vielschichtiger, beziehungsreicher und verflochtener Situationen, für die eine intellektuelle Analyse der einzelnen Komponenten viel zu lange dauern würde. Wir üben diese Fähigkeit mit nachtwandlerischer Sicherheit aus, sind uns aber fast nie bewußt, wie komplex der Vorgang eigentlich ist.

Ein Beispiel: Wir möchten eine Straße überqueren. Wir sehen ein Auto, dessen Kurs sich mit unserem geplanten Weg kreuzen könnte. In diesem Augenblick - bevor wir uns entscheiden, ob wir die Fahrbahn betreten oder nicht - erfassen wir die Gesamtheit der Situation in all ihrer komplexen Vielfalt.

Wir registrieren die Geschwindigkeit des Wagens, die Breite der Straße und damit die Möglichkeit des Fahrers, uns auszuweichen. Wir ziehen die Sichtverhältnisse in Betracht (Tag, Nacht, wolkenverhangen, neblig, oder klare Sicht), die Straßenbeschaffenheit (trocken, naß, Eis, Asphalt, Schotter, Sand) und die Schnelligkeit des Wagens in Bezug auf diese Faktoren. Wir prüfen, ob andere Passanten sich anschicken, die Straße vor uns zu überqueren und den Wagen dadurch möglicherweise zum Abbremsen veranlassen könnten. Die Form des Wagens läßt uns bedenken, daß dieser Typ hauptsächlich von jungen, aggressiven Fahrern bevorzugt wird. Ein - wie auch immer vages - Gefühl teilt sich uns mit, daß es der Fahrer eilig haben könnte.

Wir kalkulieren unsere Kraft und Konstitution, die andere Straßenseite sicher zu erreichen; - und auch Bereitschaft und Vermögen, mit einem Spurt die Überquerung zu beschleunigen, sollten wir uns verkalkuliert haben. Wir erwägen, ob wir die Straße noch vor dem Wagen kreuzen müssen, d.h. wieweit wir unter Zeitdruck stehen, - eine Überlegung, die noch weit komplexere psychologische Dimensionen mit einbezieht.

All dies und noch viel mehr nehmen wir im Bruchteil einer Sekunde vollständig auf, wägen es gegeneinander ab und fällen dann blitzschnell und mit nachtwandlerischer Sicherheit eine Entscheidung. Sicher, - die Unfallstatistik zeigt, daß einige sich dabei verkalkulieren, doch sind wir damit bis hier und jetzt gekommen, und dies zeigt uns, wie effektiv wir diese Fähigkeit - pramana - ausüben.

Machen wir uns nur einmal die zahllosen, vielschichtigen Situationen bewußt, die wir im Laufe eines Tages durchleben: - die hochkomplizierten körperlichen Entscheidungen, die wir ständig fast unbewußt fällen müssen; - die blitzschnellen Bewertungen, mit denen wir Stärke, Disposition und Strategie von Kommunikationspartnern abschätzen und unsere Taktik darauf einstellen; - das sofortige Erkennen, wieweit äußere und innere Umstände, mit denen wir konfrontiert werden, unseren tieferen Motiven, Ideen und Wertvorstellungen entsprechen und wie wir darauf reagieren sollten.

Bei all diesen Entscheidungen spielt unser Intellekt fast keine Rolle. Zwar übernehmen wir bewußt gut überlegte und mühsam antrainierte Konzepte und Abläufe, doch zeigt sich oft, daß pramana - unser direkter Zugriff auf umfassende Kenntnis - weit stärker ist, als jede verstandesmäßige Vorbereitung. Wenn die Geschwindigkeit einer Bewertung oder Entscheidung lebenswichtig ist, greifen wir fast immer und automatisch auf pramana zurück - auf die Fähigkeit, mit der wir uns so erfolgreich in der Welt behaupten.

Pramana ist die direkte Verbindung zu unserem Bewußtsein. Mit seiner Eigenschaft, die kompliziertesten Zusammenhänge unmittelbar und in einer Gesamtschau erkennen zu können, gibt es uns einen Vorgeschmack davon, welche immensen Möglichkeiten der Erkenntnis noch unentdeckt in uns schlummern.

Die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der wir pramana im täglichen Leben handhaben, zeigt uns, wie einfach, natürlich und ungezwungen auch der Aufbruch in umfassendere Erkenntnisebenen sein kann; - wir richten diese Fertigkeit dabei nur auf neue, expansive Ziele aus.

Die Mühelosigkeit, mit der sich pramana bisher in unserem Leben - vom Kleinkind bis zum Erwachsenen hin - entfaltete, macht deutlich, wie spielerisch ein weiterer Ausbau dieser Anlage sich gestalten kann.

pramana ist der Beweis, daß wir schon jetzt die Fähigkeit haben, uns neue Bewußtseinsdimensionen zu erschließen. Wir brauchen nur den Bereich zu erweitern, den wir damit erfassen.

Die Reichweite von pramana - d.h. wieviel der Realität wir dadurch erkennen und verstehen, und wie klar dieser Einblick ist, - hängt wesentlich davon ab, zu welchem Grad diese Fähigkeit in uns ausgebildet ist. Seinen Ausbau erreichen wir jedoch nicht durch spezielles Training, sondern ausschließlich durch Beseitigen der Blockaden, die dessen Funktionieren behindern.[23]

Die Blockaden werden von unseren eigenen Vorurteilen, Irrtümern und Mißverständnissen[24] hervorgerufen. Sie sind umso stärker, je intensiver wir die Vorurteile, Irrtümer etc. auf die reale Welt projizieren und je mehr wir es (z.B. aus Nachlässigkeit) ablehnen, diese zu korrigieren. Es liegt daher völlig in unserer Hand, wann, wie schnell und in welchem Ausmaß wir diese Hindernisse abbauen, wenn wir den Umfang dessen erweitern wollen, was wir durch pramana erfassen.

Auch die Klarheit von pramana, - d.h. ob unsere Erkenntnis einwandfrei oder fehlerhaft ist - wird davon bestimmt, wieweit karmische Blockaden diese Fähigkeit beeinträchtigen.

Die Reichweite unseres pramana hängt außerdem noch von den Kanälen ab, über die wir es einsetzen. Die Bandbreite und Eigenschaften dieser Kanäle werden von Sutra 9 an ausführlich beschrieben.

Pramana ist unser Schlüssel zu 'höheren', umfassenderen Bewußtseinsebenen. Nur mit pramana können wir die Vielzahl neuer Eindrücke, die wir während einer Bewußtseinserweiterung empfangen, auch bewerten und darauf verstärkend reagieren.

Es ist daher primär die Ausbildung von pramana, durch die wir realen Zugang zu neuen Bewußtseinserfahrungen erhalten, nicht der Einsatz intellektueller Kenntnisse.

Die intellektuelle Analyse neuer Erfahrungen hat durchaus ihren Wert. Sie kann uns bewußt machen, was wir erlebt haben, eine Verbindung zu unseren bisherigen Erfahrungen herstellen und uns damit die Sicherheit und Bestätigung geben, einen bestimmten Weg weiter zu verfolgen.

Intellektuelle Analyse ist jedoch eine Nachbearbeitung, der erst nach Erleben der neuen Erfahrungen Ergebnisse bringt. Der Versuch, Bewußtseinserweiterungen unmittelbar zum Zeitpunkt ihres Auftretens intellektuell analysieren zu wollen, stört diesen Vorgang.

Es gibt zwei Arten von pramana:

    1. direkte Erkenntnis (pratyaksha)
      ist die höchste Form von pramana. Wir erfahren sie in unserem Bewußtsein unmittelbar und ohne Hilfe eines materiellen Trägers (d.h. ohne daß Sinneseindrücke, Bücher oder Lehrer dabei eine Rolle spielen).

      Diese Art Erkenntnis gibt ein so offenbares und klares Verständnis von Sachverhalten und Zusammenhängen, daß es keines Beweises durch andere Faktoren mehr bedarf.

    2. indirekte Erkenntnis (paroksha)
      erwerben wir mit Hilfe eines Mittels oder Trägers (Sinneseindrücke, Bücher, Lehrer etc.).
      Indirekte Erkenntnis kann fehlerhaft sein und muß daher auf ihren Wert hin geprüft werden.

Die Sutren 6 bis 31 erläutern
  • was wir durch pramana erfassen,
  • welche Mechanismen diesen Vorgang steuern
    und
  • wie sich diese Fähigkeit ausbilden und erweitern läßt.

Fußnoten
22:

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23:

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24:

Zum Vorkommen im Text springen

Quellen
Titel: Das Gespür für Wachstum Ausgabe: 1999, 2000 Verlag: Crosswind Publishing, 31505 Wunstorf ISBN: 3-9806211-7-0 HN4U Online Edition: 2014

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