Mati shruta vadhayo viparyayashcha (31)
- Sinneswahrnehmung (mati)
- Informationen aus externen Quellen (sruti) und
- außersinnliche Wahrnehmung (avadhi)
können auch fehlerhafte Erkenntnisse vermitteln. (31)
Wie entsteht Irrtum?
Wir erfahren Irrtum, wenn wir Vorstellungen auf unsere Wahrnehmung projizieren, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.
Wir erfahren Irrtum, wenn unser Gespür für Wachstum - unser untrüglich fehlerfreier Einblick in die Realität - nicht aktiv ist.
Die Ursache von Irrtum ist nicht der Wahrnehmungsvorgang selbst - wie oft geglaubt wird. Wenn wir uns von dem Gespür für Wachstum leiten lassen, nehmen wir exakt die gleichen Formen, Farben etc. wahr wie jemand, der falschen Vorstellungen unterliegt. Irrtum entsteht dann, wenn wir uns bei der Verarbeitung unserer Wahrnehmung nicht am Sinn der Realität orientieren (Sutra 2).
Irrtum manifestiert sich in Form von
- Zweifel, Skepsis, Unsicherheit (samshaya)
Zweifel und Skepsis lehnen Einblicke, die unsere Ansichten und Aktivitäten ändern könnten, ab, bevor sie uns stimulieren können. Obwohl wir mehr oder weniger klar erkennen, was wir ändern müßten, weisen wir dieses Angebot einer Neuorientierung zurück. Zweifel und Skepsis sind immer ein Ausdruck der eigenen inneren Unsicherheit.
Zweifel und Skepsis übernehmen (lernen) wir entweder von 'Vorbildern' oder wir geben einem sozialen Druck nach, der fordert, daß wir etablierte Meinungen, Tabus und Abläufe nicht erschüttern dürfen.
- Verkennen der Wahrheit (viparyaya)
Dies ist die Überzeugung, daß unsere eigenen Ansichten richtig sind, selbst wenn sie nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.
Modelle, die auf fehlerhaften Annahmen aufbauen, erscheinen uns oft erstaunlich logisch. Solange unser Denken in derartigen Modellen gefangen ist, können wir jedoch die Fehler in deren Grundkonstruktion nicht entdecken. Ohne das Modell von einer Perspektive aus zu hinterfragen, die außerhalb liegt, bleibt unser Bewußtsein in die Grenzen des fehlerhaften Modells eingeschlossen.
Das Festhalten an fehlerhaften Vorstellungen veranlaßt uns oft, alle auftretenden Erfahrungen und Ereignisse unbewußt daraufhin zu überprüfen, ob sie auch in das irreführende Modell passen oder nicht. Ereignisse, die sich nicht einordnen lassen, werden ignoriert, als unwichtig angesehen, vergessen, oder nicht einmal wahrgenommen, - ohne daß wir diesen Vorgang bewußt steuern.
- Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit, Konfusion (anadhayavasaya)
Nachlässigkeit ist Desinteresse an allem, was geistiges Wachstum fördern könnte. Im weiteren Sinne drückt jede Achtlosigkeit anderen Personen oder Sachen gegenüber immer auch fehlende Achtung vor uns selbst aus.
Gleichgültigkeit ist die Tendenz, den Zustand des Irrtums und der unzulänglichen Konzepte nicht zu beenden, obwohl sich Gelegenheiten dazu ergeben. Wir fühlen den Impuls, unsere eingefahrenen Verständnismechanismen zu überprüfen oder neue Aktivitätsmuster auszuprobieren, verzichten aber aus Bequemlichkeit darauf, dem zu folgen.
Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit - egal wem oder was gegenüber - behindert jedes innere Wachstum. Wir erhalten nur dann stabilen und bewußten Zugang zu höheren Dimensionen unseres Bewußtseins, wenn wir alle Energie und Fähigkeit intelligent auf dieses Ziel richten.
Konfusion äußert sich oft in der Verwechslung von Ursache und Wirkung oder in der Annahme falscher Ursachen. So glauben beispielsweise viele, daß Leidenschaft durch Materie ausgelöst wird (z.B. wenn wir ein begehrenswertes Objekt oder Wesen wahrnehmen). In Wirklichkeit wird Leidenschaft aber nur von uns selbst (unseren Gedanken und Emotionen) erzeugt und dann auf das entsprechende Objekt projiziert.
Irrtum entsteht
- aus uns selbst heraus
und - durch Einfluß Anderer - d.h. wenn wir Konzepte, Lehren und Glaubenssysteme, die auf Irrtum beruhen, annehmen (glauben).
Beide Varianten blockieren unsere Fähigkeit, den Weg zu tieferem Verständnis und innerer Expansion zu finden.
Einwand:
Unser Gespür für Wachstum kann doch nicht ständig aktiv sein, sodaß wir zu jeder Zeit wahres Wissen erkennen. Dazu müßten unser Bewußtsein und unsere Sinne fehlerlos und perfekt funktionieren. Solange wir von Karma nicht völlig frei sind, sind wir hierzu nicht fähig.
Weiterhin - warum sollte jemand, dessen Gespür für Wachstum nicht aktiv ist, nicht zu manchen Zeiten ebenfalls wahre Erkenntnis erhalten, selbst wenn dies nicht dauerhaft ist?
Und was ist schließlich mit all denen, die unbekannte Dinge entdecken - z.B. im Bereich der Wissenschaft, - und die zu den gleichen authentischen Ergebnissen und Schlußfolgerungen kommen wie andere? Ist dies nicht ebenfalls wahre Erkenntnis?
Antwort:
Es gibt zwei Arten von Lebewesen: - die, die Freiheit von allen Beschränkungen erreichen wollen und ihr Leben darauf ausrichten (bhavya), - und die, die sich hauptsächlich um das materielle Leben kümmern und diese Freiheit nie erfahren werden (abhavya).
Alle, die wirklich nach totaler Freiheit streben, entwickeln einen speziellen Spürsinn dafür, welche Handlungslinien und Erkenntnisse sie ihrem Ziel näherbringen. Sie sind fähig, die Komponenten ihres Lebens so zu arrangieren, daß die Entfaltung ihres Bewußtseins dadurch unterstützt wird.
Alle, die nicht nach dieser Freiheit streben, konzentrieren sich hauptsächlich auf den materiellen Bereich der Realität (mitunter auch subtilere Aspekte wie Kunst, idealistische Forschung etc.). Doch so intelligent, klar und umfassend die Erkenntnisse derartig ausgerichteter Menschen auch sein mögen, sie sind und bleiben temporär und tragen nicht zu deren innerem Wachstum bei. Jeder vermeintliche Fortschritt ist zufällig und bleibt instabil.[57]
Die Antwort setzt sich im nächsten Sutra fort:
Wir selbst entscheiden, zu welcher Klasse wir gehören. Entweder entwickeln wir unsere potentiellen Fähigkeiten, die in allen Lebewesen vorhanden sind, oder wir entscheiden uns, dies nicht zu tun. Wir sind bhavya, wenn wir unserem Gespür für Wachstum folgen und aktiv unser Bewußtsein entfalten. Wenn wir diesem Gespür nicht folgen (abhavya), werden wir totale Freiheit auch nicht erreichen.
Alle abhavyas verwechseln törichterweise 'Potential' und 'Verwirklichung' miteinander. Sie beruhigen sich mit der Vorstellung, daß sie ja 'jederzeit' mit ihrer Entwicklung beginnen könnten.
Zwischen Potential und seiner Verwirklichung besteht jedoch ein gewaltiger Unterschied. Bei allem, was wir jetzt - in der Gegenwart - nicht tun, wissen wir nie, ob wir es überhaupt je tun werden, und ob die gleichen förderlichen Umstände dazu je wieder eintreten werden. - Und wir wissen auch nicht, ob wir dies in unseren letzten 10.000 Verkörperungen nicht ebenfalls immer wieder auf morgen verschoben haben, - und uns dann wundern, warum die Dinge in 'diesem' Leben nicht so laufen, wie wir es wünschen. Wenn wir uns jetzt entscheiden, Impulse zu neuem Handeln abzulehnen, programmieren wir uns darauf, dies auch in Zukunft zu tun.