Die Teilsicht, die die Elemente und deren Eigenschaften etc. von einer bestimmten Perspektive aus betrachtet, (naya)
ist ein präzises Instrument, das einen besonderen Zustand oder ein bestimmtes Merkmal eines Elementes hervorhebt.
Teilsichten (nayas) sind einzelne Aspekte oder Teilbereiche von pramana. Ihr Ursprung liegt immer in pramana, d.h. sie gehen immer aus einer Gesamtschau hervor.
Sinn der Teilsichten (nayas) ist es, uns spezielle Bereiche dessen, was wir durch pramana erkannt haben, besonders bewußt zu machen. Sie betrachten pramana aus einer eingeschränkten Perspektive und lenken unsere Aufmerksamkeit wie mit der Lupe auf einen speziellen Aspekt.
Auch für die Kommunikation von Erkenntnissen haben Teilsichten beträchtlichen Wert. Sie definieren genau für welche Ebenen ihre Aussagen gelten und vermeiden dadurch Verwirrung, Unklarheit und Mißverständnisse.
Wie pramana haben auch die Teilsichten (nayas) eine Struktur. Sie gelten immer nur in einem der vier Realitätsbereiche, d.h.:
- der Ebene der Bezeichnungen, in der wir ausschließlich Namen und Begriffe verwenden (nama),
- der Ebene der geistigen Struktur, auf der wir die Erfahrungen auswählen, die unsere persönliche Vorstellung von der Wirklichkeit formt (sthapana),
- der Ebene der reinen Elemente, die die Grundlage für die identische Wahrnehmung der Realität durch verschiedene Menschen bildet (dravya)
oder - der Ebene der gegenwärtigen Verwirklichung, in der sich einzelne Eigenschaften der Elemente in der Gegenwart manifestieren (bhava).
Ihre Aussagen betreffen weiterhin entweder
- die sich nicht verändernden, allgemeinen Merkmale der Elemente (dravyartika),
oder - deren ständig wechselnden Spielarten, Aspekte und Erscheinungsformen (paryayarthika).
Sutra 33 beschreibt in sieben Schritten, wie wir durch Teilsichten (nayas) ein klares Verständnis der Realität erhalten.
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Der westliche Kulturkreis ist hauptsächlich auf Teilsichten (naya) ausgerichtet. Unser gesamtes Verständnis von Wissen, d.h. - die Tendenz, Beobachtungen und Erfahrungen in 'Daten* auszudrücken, - die Bemühung, Qualität quantifizierbar zu machen, - sind im Kern der Versuch, die Realität in kleine und kleinste Teilbereiche aufzuteilen. Nach Vorstellung der Anführer dieser Denkrichtung soll die Welt dadurch einfacher zu verstehen und leichter zu handhaben sein.
Nur leider tritt dadurch genau das Gegenteil ein. In der Fülle der Details, die uns überflutet, fehlt jede Orientierung.
Nun könnte pramana diese Gesamtschau mühelos liefern. Unsere Fähigkeit, die komplexesten Situationen blitzschnell erfassen und verstehen zu können, würde den Großteil des gegenwärtigen Datenwustes schnell als unwichtig erkennen und zu wesentlicheren Lebensinhalten übergehen. Die überwiegende Mehrheit der Menschen ist mit der Anwendung dieser Fähigkeit - pramana - ja auch bestens vertraut, da sie sie hauptsächlich durchs Leben bringt.
Unsere Aufmerksamkeit wird jedoch durch Erziehung und Medien von dieser bestens funktionierenden und hochpräzisen Fähigkeit vollständig abgelenkt. Das schnelle Erfassen komplexer Situationen wird als so selbstverständlich angesehen, daß wir eine systematische Ausbildung und Erweiterung dieser Fertigkeit kaum in Betracht ziehen würden.
Wir erkennen jedoch intuitiv, daß Betonung der Teilsichten (d.h. das, was durch Schule und Medien übermittelt wird) uns nicht die unmittelbare und umfassende Erfahrung vermittelt, die wir von pramana gewöhnt sind. Gelehrt werden Details, gelebt wird jedoch pramana und daher stammt auch die große Beziehungslosigkeit zwischen individuellem Leben und Wissenschaft[26].
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit pramana zuwenden, werden wir schnell entdecken, daß uns diese Fähigkeit neue Erfahrungsebenen erschließt, die weit interessanter sind und mehr Erfüllung und Zufriedenheit bringen als ein Leben, das hauptsächlich auf das Erlangen optimalen körperlichen Komforts gerichtet ist.
Ursprung der fast ausschließlichen Ausrichtung des Westens auf Teilaspekte (naya) ist die Wissenschaft. Sie zerteilt die Realität in kleine Teilbereiche und analysiert diese dann unter bestimmten Fragestellungen. Die meisten Wissenschaftler, die sich in diesen Untersuchungen engagieren, tun dies mit der idealistischen Vorstellung, dadurch nachvollziehbare Aussagen über Eigenschaften und Verhalten der untersuchten Objekte liefern zu können.
Gegen diesen Ansatz ist auch grundlegend nichts einzuwenden. Zweifelsohne sind unsere physischen Lebensumstände mit Hilfe systematischer Forschung komfortabler geworden, und dies erklärt auch die Popularität und das hohe Ansehen dieser Denkrichtung. Unglücklicherweise leitet die Wissenschaft aus diesem Erfolg jedoch das Recht ab, die gesamte Realität mit Mechanismen erklären zu wollen, die nur im Teilbereich der Materie Gültigkeit haben.
Die Verbreitung dieses Dogmas ist so erfolgreich, daß ein Großteil der Menschheit inzwischen Aussagen über die Welt nur dann als 'wahr' akzeptiert, wenn diese sich auch mit materiellen Mechanismen erklären lassen. Selbst wenn wir in unserem täglichen Leben ständig andere Mechanismen erfahren und handhaben, verhindert dieser Anspruch der Wissenschaft von vornherein eine ernsthafte und systematische Beschäftigung mit unseren weit umfassenderen, intuitiven Anlagen.
Die Überbewertung der partiellen, analytischen Betrachtungsweise (naya) lenkt unsere Aufmerksamkeit völlig von der Fähigkeit ab, die kompliziertesten Gesamtsituationen mühelos zu erfassen und damit umgehen zu können. Dies ignoriert den Wert von pramana und verhindert dessen Erforschung und Ausbildung.