Der individuelle Lebensimpuls (jiva) ist Bewußtsein.
Bewußtsein ist leicht zu beschreiben, selbst wenn eine Vielzahl verwirrender Konzepte dafür existiert. Bewußtsein ist ein Fundament, das vor der Erfahrung von Dingen, Beziehungen und Gefühlen vorhanden sein muß. Alle Gedanken und Zustände wie Freude, Schmerz etc. brauchen ein Zentrum, ein Subjekt, einen Träger, zu dem sie gehören und der sie erfährt. Einfacher ausgedrückt: Ein Gefühl braucht notwendigerweise ein Wesen, das fühlt. Erkenntnisse und Emotionen können nicht im Nichts existieren, noch kann Wollen oder Denken aus dem Nichts entstehen.[12]
Der individuelle Lebensimpuls - jiva - unser Bewußtsein - hat eine Reihe außergewöhnlicher Eigenschaften, von denen wir bisher nur einen kleinen Teil kennen und einsetzen.
Wissen ist eine der wichtigsten dieser Eigenschaften. Es liefert den Schlüssel zu dem unbekannten Teil unseres Bewußtseins. Aus diesem Grunde konzentriert sich das erste Kapitel des Tattvarthasutras auch hauptsächlich auf dieses Thema.
Im westlichen Kulturkreis interpretieren wir Wissen üblicherweise als die ständig wachsende Menge externer Informationen, deren schieres Volumen allein schon eine umfassende Kenntnis unmöglich zu machen scheint.
Doch diese Art externer Information ist weit von dem entfernt, was die Jains damit meinen.
Die Jains gehen davon aus, daß Wissen die eigentliche Natur unseres Bewußtseins ist. Sie verstehen Wissen als einen grundlegenden und untrennbaren Bestandteil des individuellen Bewußtseins, das damit die Quelle und die Gesamtheit allen Wissens in sich trägt.
Was immer an externem Wissen in Büchern oder anderen Speichermedien aufgezeichnet ist, bleibt solange ohne Bedeutung für den individuellen Menschen, wie er es nicht aktiv in sein Bewußtsein integriert. Auch das formale Lernen von Inhalten bleibt wirkungslos, solange wir es nicht in individuelle Erfahrung verwandeln.
Nur wenn Wissen zur Erweiterung des eigenen Erfahrungsbereiches eingesetzt wird, - zum Bewußtmachen von Erlebnissen und zum Überdenken und Ändern der eigenen Haltungen und Aktivitäten, - dann erst wandelt es sich zu einem natürlichen Bestandteil unseres Lebens. Es wird dann auch nicht mehr als neu oder als etwas Besonderes empfunden, sondern trägt zur Steuerung unseres Lebens bei, ohne daß uns das oftmals bewußt ist. Ohne diese Einbindung in individuelles Bewußtsein und Erfahrung wird Wissen nicht lebendig, sondern bleibt eine vom Menschen getrennte Komponente.
Wissen, das für den Menschen Bedeutung hat, wird daher von den Jains in erster Linie als eine individuelle, subjektive und aktive Bewußtseinserfahrung verstanden. Die Masse externer Informationen, die der Westen als Wissen ansieht, ist bestenfalls Rohmaterial, das erst durch unmittelbare Erfahrung in lebendiges, aktives Wissen gewandelt werden muß, bevor es für uns Bedeutung haben kann.
Doch die Jains gehen weit darüber hinaus, Wissen nur als integrierten Bestandteil unseres Bewußtseins anzusehen. Nach den Jains trägt jede individuelle Manifestation von Bewußtsein (d.h. jedes Lebewesen) ALLES nur mögliche Wissen bereits in sich.
Konkret ausgedrückt: Wo immer wir uns auch befinden, es ist stets die Fülle des gesamten Wissens in uns. Daß wir es nicht vollständig wahrnehmen liegt daran, daß bestimmte Mechanismen Teilbereiche dieses Wissens blockieren. Wenn der Abbau dieser Blockaden zuvor unzugängliche Bereiche erreichbar macht, dann kann jedes beliebige Ereignis an jedem beliebigen Ort uns dies bewußt machen. Es ist daher nicht notwendig, bestimmte Orte aufzusuchen, um uns dort Wissen zu 'holen', oder zu warten bis wir im Besitz 'besseren' Wissens sind. Wenn wir ein umfassenderes Verständnis der Welt und letztendlich Befreiung erreichen wollen, brauchen wir uns nur Zugang zu dem in uns vollständig vorhandenen Wissensschatz zu verschaffen.
Wie revolutionär dieses Konzept ist, wird deutlich, wenn wir die absolute Unabhängigkeit betrachten, die wir dadurch erhalten. Da alles Wissen bereits in uns vorhanden ist, brauchen wir niemanden - keine Kirche, keinen Guru, keine wie auch immer geartete Organisation - die uns Wissen geben oder vorenthalten könnten. Wir müssen nur den Weg finden, es in uns zu aktivieren und bewußt wahrzunehmen.
Alle Menschen haben einen intuitiven Zugang zu diesem Weg. Er steht ihnen jederzeit offen, ohne daß sie dazu erst bestimmtes formales Wissen studiert haben müßten.
Es gibt aber auch externe Quellen, über die wir uns gezielt Wissen aneignen können, das in höhere Bewußtseinsebenen führt: Es sind die Beschreibungen derer, die diesen Weg bereits erfolgreich beschritten haben.[13]
Diese Beschreibungen berichten über 14 Bewußtseinsebenen (gunasthanas), die die Menschen auf ihrem Weg zur Befreiung durchschreiten. Jede der Ebenen ist charakterisiert durch die sich darin manifestierenden Handlungsmuster und psychischen Ausrichtungen, durch die Zeit, die wir uns darin aufhalten können und durch die Entwicklungsmöglichkeiten, die uns die Ebene bietet. Aufgrund dieser Merkmale unterscheiden sich die einzelnen Ebenen auch deutlich in Lebensgefühl und Lebensinhalt voneinander.
Durch Kenntnis unserer aktuellen Stufe und der darin wirkenden Mechanismen können wir unser Handeln viel effektiver auf die Themen der einzelnen Ebenen ausrichten. Dadurch vermeiden wir Anstrengungen, die erst auf höheren Stufen zum Erfolg führen können.[14]
Es ist nicht nötig, daran zu glauben, daß höhere Bewußtseinsebenen erfahrbar sind, eine neutrale, neugierige und experimentierfreudige Haltung reicht für anfängliche Schritte in diese Richtung völlig aus. Mit den ersten Erfolgen - größere Klarheit der Wahrnehmung, schnelleres Erkennen einengender Konzepte und Vorurteile, etc. - erhalten wir genügend Bestätigung, um weiteren Anleitungen in diese Richtung Vertrauen entgegenzubringen.
Wissen ist jedoch nicht die einzige Eigenschaft des jiva - unseres Bewußtseins. Nach den Jains trägt jeder von uns, - d.h. jedes Lebewesen - ein Potential in sich, das eine atemberaubende Weite und Tiefe an Wissen, Macht, Fähigkeiten und der Erfahrung von Glück umfaßt. Dieses Potential kann jederzeit von uns bewußt erlebt werden. Sobald der Weg dorthin einmal eingeschlagen ist, ist es nur eine Frage der Zeit, wann dieses Potential sich uns real eröffnet.
Selbstverständlich steht es jedem frei, an ein Weltbild zu glauben, das Materie und deren Mechanismen als das zentral Bestimmende im Universum annimmt. Doch läßt dieses Modell als einzig möglichen Lebensinhalt bestenfalls den Erhalt der Rasse zu, - und selbst dies wäre langfristig ebenfalls völlig bedeutungslos. Die Vorstellung von einer Sinnlosigkeit des individuellen Lebens verhindert jedoch bereits im Ansatz jede Suche und jeden Zugang zu einem über das Materielle hinausgehenden Sinn des Lebens.
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In dem Maße, in dem wir diese Vorurteile annehmen, blockieren wir auch unseren eigenen Zugang zu neuen Erfahrungsebenen.
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