Das Tattvarthasutra (wörtlich: 'Aphorismen, die den Sinn der Realität erläutern') ist ca. 1800 Jahre alt. Es wurde von dem indischen Weisen Umasvami im zweiten oder dritten Jahrhundert nach Christi Geburt geschrieben. Umasvami faßt darin das zu seiner Zeit bekannte Wissen der Jains in einem Werk zusammen.
Der Beginn des Jainismus wird oft mit dem Leben des Propheten Mahavir (599 bis 527 v. Chr.) gleichgesetzt, doch gilt als erwiesen, daß die Jains bereits in der Indus Valley Zivilisation existierten, der ältesten Hochkultur Asiens (ca. 3000 v. Chr.). Nach den Geschichtsdaten der Jains reicht der Ursprung des Wissens jedoch in noch ältere Zeiten zurück. Die Jains sehen das Tattvarthasutra als ihre zentrale Schrift an.
'Sutren' (kurze Merksätze) und deren Interpretation durch Kommentare entwickelten sich in Zeiten, in denen eine Aufzeichnung auf Papier oder andere Medien nicht existierte und Wissen mündlich von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Sutren sind daher knapp gefaßt und halten sich an ein komplexes Regelwerk, das die Bedeutung eines Wortes beispielsweise schon durch seine Position festlegt. Damit Wissen in möglichst reiner Form erhalten blieb, hielten sich auch die Kommentatoren der Sutren an feste Regeln. Diese Methode funktionierte so perfekt, daß komplexe Informationen, deren Ursprung Tausende von Jahren zurückliegt, unsere Zeit nahezu vollständig intakt erreichten.
Einem im westlichen Kulturkreis aufgewachsenen Menschen mag die Wissensübermittlung in Form von Sutren anfangs fremdartig und ungewohnt erscheinen. Die komplexen Regeln und der formale Stil blockieren leicht den Zugang zu Werken dieser Art, - insbesondere wenn sie wörtlich und nahe am Originaltext übersetzt sind.
Das darin enthaltene Wissen ist jedoch hochaktuell, selbst wenn sein Ursprung in vorgeschichtlichen Zeiten liegt. Für die heutige Suche nach einem SINN JENSEITS DER MATERIELLEN ÜBERSÄTTIGUNG bietet das Tattvarthasutra den Schlüssel zu einer ungeahnten Ausdehnung des menschlichen Erfahrungsbereiches.
Um dieses Wissen einem breiten Leserkreis zugänglich zu machen, wurde der Text mit einem modernen Kommentar versehen. Damit Text und Kommentar leichter lesbar sind, wurden außerdem bei der Transliteration der Sanskrit-Worte alle Akzente eliminiert. Die in Klammern aufgeführten Sanskrit-Worte dienen nur dazu, die behandelten Inhalte eindeutig zu bezeichnen und deren Identifizierung zu vereinfachen.
Das Tattvarthasutra besteht aus drei inhaltlich deutlich voneinander abgegrenzten Teilen:
Kapitel 1
breitet das Gesamtbild eines Universums aus, in dem die Verwirklichung der Ideale, Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte, die wir in unserem Inneren tragen, das wesentliche Thema ist. Es beschreibt die Methoden, mit denen wir verborgene Fähigkeiten unseres Bewußtseins entwickeln können. Es stellt die Kanäle dar, über die wir Wissen erhalten - darunter auch die Funktion und Steuerung übersinnlicher Wahrnehmung und die Mechanismen, mit denen sich Wahrheit von Irrtum trennen läßt.
Kapitel 2 bis 5
definieren die Ebenen, auf denen sich Leben manifestieren kann. Sie gehen weiterhin auf Funktion und Aufgaben von Zeit, Raum, Materie und anderen Grundelementen dieser Welt ein.
Kapitel 6 bis 10
beschreiben die Ursachen der Blockaden und Beschränkungen unseres augenblicklichen Zustandes und gehen dann auf die Mechanismen ein, mit denen sich diese Ursachen beseitigen lassen.
Das letzte Kapitel
behandelt den Übergang in einen Zustand, in dem karmische Mechanismen den Menschen nicht mehr blockieren und er ungehinderten Zugang zu seinem gesamten Potential gewinnt.
Die PRAKTISCHE Umsetzung dieses Wissens in Handlung, das Verstehen der eigenen Handlungsmechanismen und die konkrete Entfaltung potentieller Fähigkeiten bietet das Buch KARMA: DER MECHANISMUS von Hermann Kuhn, das den Komplementärband zu diesem Buch bildet. Es enthält die Teile des Tattvarthasutra, die sich auf KARMISCHE MECHANISMEN beziehen und für den Menschen der heutigen Zeit relevant sind (Kapitel 6, 8 und einen Teil des Kapitels 9).
Das vorliegende Buch enthält das erste Kapitel des Tattvarthasutra. Der begleitende moderne Kommentar basiert zum Teil auf einem Kommentar (Sarvarthasiddhi), den der Inder Pujapada im siebten oder achten Jahrhundert nach Christi Geburt schrieb. Dabei wurde Wert darauf gelegt, den Einblick in die Größe des menschlichen Potentials und dessen Erforschung und Ausbildung unmittelbar auf unser tägliches Leben zu beziehen und in anwendbarer Weise darzustellen.