Das Gespür für Wachstum : Reinkarnation

Autor*in:  Image of Hermann KuhnHermann Kuhn
Veröffentlicht: 26.08.2014

Karma wird oft mit Reinkarnation assoziiert. Nicht zu Unrecht; - zwar bezieht sich der Begriff Karma eindeutig auf die Gegenwart, doch steht er ebenso eindeutig im Kontext aufeinanderfolgender Verkörperungen. Dieses Modell wird im westlichen Kulturkreis oft als abstrus abgetan und ohne nähere Kenntnis und mit mildem Lächeln in den Bereich phantastischer orientalischer Fabel verwiesen.

Dabei wird aber leicht vergessen, daß auch unsere westliche Vorstellung von Existenz nur ein Modell ist. Die Annahme, daß Leben aus dem Nichts geschaffen wird, kurz eine körperliche Form annimmt, um danach mit einem anderen Körpertyp recht ewig in Himmel oder Hölle zu verweilen, geht auf religiöse Ansichten zurück, die logischen Argumenten kaum zugänglich sein dürften.

Seit sich die Wissenschaft mit der Idee durchgesetzt hat, daß nur das existiert, was physisch wahrnehmbar ist, sind Himmel und Hölle gestrichen und unser Leben (und unser Bewußtsein) auf ein zufälliges Zusammenspiel von Chemikalien reduziert, das vor Geburt des Körpers und nach seinem Tod nicht existiert und daher im ganzen kaum Bedeutung hat.

Nun ist jedes Modell - egal ob göttlichen Ursprungs, wissenschaftlich bewiesen oder praktisch erprobt - immer nur eine geistige Vorstellung, ein Raster, das auf einen Set persönlicher Erfahrungen projiziert wird. Dabei werden einige Erfahrungen in ihrer Bedeutung erhöht und der Rest an Wichtigkeit reduziert oder ignoriert.

Unglücklicherweise schließt dies oft Teile der Realität aus, die wesentliche Funktionsmechanismen unseres Lebens enthalten. Diese fehlenden Teile lassen sich vom Inneren des Modells aus - also unter Verwendung der modelleigenen Logik - auch nicht erschließen. Wir können oft noch nicht einmal erahnen, daß außerhalb unserer begrenzten Konzepte weitere gültige Perspektiven liegen. Solange wir also starr an einem einzigen Modell orientiert sind, besteht immer die Gefahr, daß uns ein Teil der Realität nicht zugänglich ist.

Ohne Modelle können wir jedoch nicht leben. Wir brauchen eine bewußte Vorstellung von den Mechanismen, die uns durchs Leben bringen. Da aber kein geistiges Modell existiert, das die gesamte Vielfalt, Tiefe und Dynamik des Lebens umfassen könnte, macht es auch wenig Sinn, den Glauben an eins dieser Systeme als Anlaß zu nehmen, die Beschäftigung mit anderen Modellen prinzipiell abzulehnen.

Karma und Reinkarnation sind ebenfalls nichts anderes als Konzepte, die auf den Lauf der Welt projiziert werden. Sie sind nicht heilig, und es gibt mit Sicherheit auch Bereiche, in denen sie keine Gültigkeit haben. Karma und Reinkarnation umfassen jedoch ein weit breiteres Spektrum der Realität, als viele andere (westliche) Modelle. Sie eröffnen uns damit Lebensbereiche, die andere Modelle als nicht zugänglich ansehen.

Reinkarnation ist die Manifestation unseres Drangs, all die Werte, Ideale und Ideen körperlich zu erfahren, die wir tief in unserem Inneren tragen. Unser gegenwärtiges Leben ist der reale Ausdruck dieses Drangs. Das, was wir im Augenblick erfahren, IST Reinkarnation! Wir selbst haben bewußt all die Umstände angezogen, in denen wir uns gegenwärtig befinden. Wir selbst kreierten all die Herausforderungen, Spannungen und unmöglichen Situationen, durch die sich die in uns verborgenen Werte physisch ausdrücken können. Wir tun dies, weil wir diese Vorstellungen in vorangegangenen Leben nicht erfüllen konnten.

Nicht alles, was wir erfahren möchten, muß von dem sozialen Umfeld, in dem wir uns verkörpern, auch als positiv angesehen werden. Wir mögen gegen Normen anstürmen, starre Regeln brechen, unser Leben und das Leben anderer durcheinanderbringen und vieles mehr, doch - unabhängig davon, welche Ziele wir im konkreten Fall verfolgen - wir werden immer von dem gleichen intensiven Drang angetrieben, unsere inneren Werte zu manifestieren. Einige dieser Werte mögen sich verwirklichen, andere mögen Widerstand finden und fehlschlagen, und wieder andere lösen sich spurlos auf, sobald wir sie bei ihrer Realisierung als unwichtig erkennen. Doch ist dies nur ein Teil des Lernprozesses, dem wir uns unterworfen haben. Das Wichtigste bei all unseren Idealen, Ideen, Aktivitäten und Gefühlen ist, daß wir sie überhaupt manifestieren, - daß wir sie nicht in unserem Inneren zurückhalten, - daß wir das, was wir in uns fühlen, in der materiellen Welt ausdrücken.

Wenn wir unseren gegenwärtigen Körper verlassen, dann nehmen wir die gesamte Fülle von Erfahrungen, all die Reife und Souveränität, die wir während dieses Lernvorgangs gewonnen haben, mit. Wir mögen uns sogar entscheiden, detaillierte Erinnerungen in unser nächstes Leben mit hinüberzunehmen, doch ist dies selten. Wir ziehen es fast immer vor, neue Leben nicht durch die deutliche Erinnerung vergangener Ereignisse zu beeinflussen.

Der Tod ist eine Erfahrung, die stark überbewertet wird. Tod ist nichts anderes, als daß unser Bewußtsein den vertrauten physischen Körper verläßt und andere Existenzebenen erfährt. Tod ist nichts anderes als das, was wir erfahren, wenn wir träumen. Wenn unser Bewußtseins in den Traumzustand übergeht, sehen wir es als selbstverständlich an, daß wir unseren physischen Körper nicht mitnehmen. Er bleibt im Bett zurück, während wir in einen 'Traum'-Körper schlüpfen, der sich ebenso real anfühlt, wie unser materieller Körper. Dieser 'Traumkörper aber ermöglicht uns vielfach Erfahrungen, die weit flexibler, intensiver und aufregender sind, als es in unserem materiellen Körper je möglich wäre.

Wir verlieren nie unsere Identität wenn wir in unsere Träume eintreten. Wir nehmen unser bekanntes 'Ich' immer mit. Und selbst wenn wir in unser Traum-Identität die außergewöhnlichsten Dinge erleben, fühlen wir uns dabei völlig normal und vertraut mit unserer Umgebung.

Obwohl wir unseren physischen Körper jede Nacht mehrfach auf diese Weise verlassen, sehen wir gewöhnlich keine Verbindung zwischen unseren Traumerfahrungen und dem Mechanismus des Todes. Der Tod ist aber auch nur ein Herausgehen unseres Bewußtsein aus dem materiellen Körper. Sicher, - die Situation kommt uns gravierender vor, da wir dabei nicht in einen speziellen physischen Körper und seine vertraute Umgebung zurückkehren. Aber - haben wir uns je gefragt, was aus den vielen 'Traumkörpern' geworden ist, die wir beim Aufwachen in unseren 'Traumwelten' zurücklassen? Wenn unser Bewußtsein sich erst einmal von einer bestimmten Wahrnehmungsebene gelöst hat, nimmt unser neuer Körper und die neue Umgebung, in der wir uns dann befinden, unsere Aufmerksamkeit so vollständig gefangen, daß wir unser vorangegangenes Bezugssystem völlig vergessen - unabhängig davon, ob wir die Option haben dorthin zurückzukehren (Traum) oder nicht (Tod).

Und - ebenso wie unsere Identität, Charakter und Erinnerung weiterbestehen wenn unser Bewußtsein eine Traumwelt betritt, so nehmen wir auch all unsere Identität, Charakter, Weisheit und alles, was wir sind und gelernt haben, mit uns, wenn wir den materiellen Körper endgültig verlassen.

Die Furcht und Unwilligkeit, mit der der Westen den Tod betrachtet, hat seinen Ursprung in der Vorstellung, daß unser gegenwärtiges Leben das Einzige ist, das wir je haben, - und daß es diese Chance nie wieder geben wird, wenn wir sie verpassen.

Dies ist ein plastisches Beispiel dafür, wie sehr starre Vorstellungen und Glaubenssysteme die Bandbreite unseres Lebens einschränken. Solange wir daran glauben, daß wir nur ein einziges Leben haben, werden wir immer versuchen, soviel Sinnesgenüsse wie möglich darin unterzubringen. Speziell in unserer Jugend konzentrieren wir uns ja fast ausschließlich auf körperliche Erfahrungen. Wie selbstverständlich übernehmen wir die gängige Ansicht, daß ältere Körper dazu weniger imstande sind und daß jede Erfüllung, deren Ursprung nicht auf der materiellen Ebene liegt, weit schwieriger zu erreichen ist. Und die wenigsten halten es überhaupt für möglich, daß andere Dimensionen des Lebens uns weit mehr Faszination und Ekstase bieten können.

Unglücklicherweise übertragen viele diese Ausrichtung auf materielle Genuß auch in den reiferen Teil ihres Leben. Statt die begrenzte Bandbreite der Sinnesgenüsse zu erkennen und uns Zugang zu weit interessanteren Dimensionen zu verschaffen, versuchen wir bestimmte positive Erfahrungen unserer Jugend zurückzuholen und erneut zu erleben - oft mit immer geringerem Erfolg je älter wir werden. Am Ende unseres Lebens blicken wir dann resigniert zurück und fragen uns, was das nun alles sollte. Doch obwohl wir zweifelsohne weitere Chancen - weitere Leben - erhalten werden dies herauszufinden, verfehlen wir mit dieser Frage völlig das eigentliche Thema.

Die weit interessantere Frage ist: in welche Richtung gehen wir nun? Was ist unsere Intention nachdem wir diesen physischen Körper verlassen haben?

All die Werte und Ideen, die wir in unserem aktuellen Leben nicht manifestieren konnten, nehmen zum Zeitpunkt unseres Todes die Form unerfüllter Sehnsüchte an. Diese Sehnsüchte ziehen uns dann wieder in Lebensumstände hinein, die uns erneut Möglichkeiten bieten, unerfüllte Bedürfnisse auszuleben.

Es ist jedoch eine Illusion zu hoffen, daß wir die ersehnte Erfüllung im nächsten Leben finden werden, wenn wir JETZT keine aktiven Schritte unternehmen, unsere Sehnsüchte Wirklichkeit werden zu lassen. Solange wir nur dasitzen und darauf warten, daß etwas passiert, werden wir nie die ersehnte Erfüllung erreichen - und NIE bedeutet in diesem Fall ein endloses Wiederholen unserer gegenwärtigen unbefriedigenden Umstände.

Was hindert uns daran, uns jetzt den Herausforderungen zu stellen, von denen wir uns angezogen fühlen? Wenn unser nächstes Leben uns mit gleichartigen Umständen konfrontieren wird wie wir sie gegenwärtig erfahren, was gibt uns dann die Hoffnung, daß wir uns dann bewähren werden, wenn wir es jetzt - in der Gegenwart - nicht schaffen, uns zur Verwirklichung unserer Ideen durchzuringen?

Die Vorstellung, daß das jetzige Leben unsere allererste Verkörperung ist und daß alle folgenden Leben im körperlichen Rahmen RE-inkarnationen sind, ist absurd und unlogisch. Vor unserer jetzigen Inkarnation erfuhren wir bereits eine lange Kette von Leben. Und - solange wir es vermeiden, unsere inneren Werte und Ideale konkret in Handlung umzusetzen, wird eine ebenso lange und gleichförmige Kette immer vor uns liegen.

Jetzt ist der Zeitpunkt, an dem wir etwas tun können. Unsere Gegenwart ist die einzige Zeit, in dem wir handeln können. Wenn wir diese Kraft auf andere - zukünftige - Re-inkarnatio­nen übertragen, dann übergeben wir die Steuerung unseres Lebens an eine diffuse Zukunftsvorstellung, die nie Wirklichkeit werden wird.

Die Tatsache, daß uns das Thema dieses Buches interessiert, ist ein deutliches Anzeichen dafür, daß unser Bewußtsein nicht mehr vollständig von rein materiellen Lebensthemen angezogen wird, und daß wir - bewußt oder unbewußt - nach anderen - interessanteren - Erfahrungsebenen suchen.

Quellen
Titel: Das Gespür für Wachstum Ausgabe: 1999, 2000 Verlag: Crosswind Publishing, 31505 Wunstorf ISBN: 3-9806211-7-0 HN4U Online Edition: 2014

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