Srutam matipurvam dvyaneka dvadasa bhedam (20)
Wissen, das aus externen Quellen gewonnen wird (sruti), hat seinen Ursprung immer in Sinneswissen.
Es gibt zwei Arten von Schriften[45], die wiederum in zwölf bzw. viele Arten unterteilt sind. (20)
Wissen aus externen Quellen (sruti) hat einen weit größeren Wirkungsbereich als reines Sinnes wissen (mati). Es macht uns auf Erfahrungen aufmerksam, die sich unserem bewußten Verstehen sonst entziehen würden. Es stellt den Bezug zwischen neuen Erlebnissen und unseren bisherigen Vorstellungen vom Leben her. Es liefert uns Modelle, wie wir aus der Vielzahl möglicher Erfahrungswege, die sich uns bieten, diejenigen auswählen können, die uns der Verwirklichung der in uns gefühlten Werte und Ideale näherbringen.
Wissen aus externen Quellen erhalten wir durch die Beschäftigung mit Informationen, die in Schriften oder anderen Datenträgern enthalten sind, wie auch durch mündliche Unterweisung. Da wir dabei Informationen aus materiellen Trägern -Büchern oder Lehrer - aufnehmen, geht dieser Art Erkenntnis immer eine Sinneserfahrung (Hören, Sehen) voraus.[46]
Erkenntnis aus externen Quellen (sruti) entsteht nicht automatisch sobald wir über unsere Sinne Objekte oder Situationen wahrnehmen. Nur wenn wir eine bewußte Anstrengung unternehmen, das Gelesene oder Gehörte auch zu verstehen, erhalten wir Zugang zu dieser Art Erkenntnis. Es ist im wesentlichen unser Wunsch, unser Sehnen, unser 'Drive', unbekannte Bereiche unseres Bewußtseins zu erschließen, die uns die Grenzen unserer gegenwärtigen Verständnisebene überschreiten lassen.
Dabei bestimmt sowohl die Energie, mit der wir diesen Wunsch in die Tat umsetzen, als auch die Stärke unserer Sehnsucht nach Wissen, wie schnell und wie umfassend sich unser 'inneres Blickfeld' erweitert.
Dieser Vorgang wird enorm erleichtert, wenn wir in uns die Bereitschaft trainieren, uns neuen Konzepten zu öffnen. Doch obwohl sich dies einfach anhört, ist es weit schwieriger, als die meisten Menschen glauben.
Eine Öffnung neuen Konzepten gegenüber bedeutet nicht, sich neue Ideen wohlwollend anzuhören, sie zu überdenken und dann wie ein gnädiger Richter zu entscheiden, ob wir sie annehmen wollen oder nicht. Das, was wir dadurch erhalten, ist nur die (intellektuelle) Beurteilung einer Wahrnehmung (avaya - siehe Sutra 15), d.h. es ist Sinneswissen und bleibt es solange, bis wir dem neu Aufgenommenen ermöglichen, auf eine ganz aridere Ebene unseres Bewußtseins vorzudringen.
Die Öffnung neuen Konzepten gegenüber bedeutet, - die inneren Hemmnisse zu überwinden, die sich gegen die neuen Ideen stellen, - uns über die Emotionen klarzuwerden, die uns an alten Vorstellungen festhalten lassen, - den Aufwand zu treiben, ausgediente Konzepte zu überprüfen und über Bord zu werfen, auch wenn all dies unbequem ist, Energie erfordert und ein umfassendes Neu-Überdenken der Welt nötig macht.[47]
Die Punkte, an denen wir ansetzen können, sind leicht festgestellt. Wenn die Präsentation eines (neuen) Konzeptes in uns starke Gefühle hervorruft (Begeisterung, Enthusiasmus, aber auch Ablehnung, Unwillen oder sogar Zorn), dann lohnt es sich, diese Idee genauer zu untersuchen. Gerade diese starken Emotionen sind es nämlich, die uns - positiv wie negativ - an alte Vorstellungen ketten und oft jede Öffnung Neuem gegenüber verhindern.
Selbst wenn die Beschäftigung mit emotionsgeladenen Vorstellungen uns anfangs unangenehm oder sogar peinlich erscheinen mag, ist genau dies jedoch der sichere Weg zur Entdeckung neuer, umfassenderer Ebenen. Die Erforschung dieser neuen Ebenen läßt dann wieder die gleiche Faszination in uns aufsteigen, die schon früher unsere Entdeckung der Welt so enthusiastisch begleitete.
Es lohnt sich also, bei der Konfrontation mit neuen Ideen nicht auf der Stufe der Sinneserfahrung stehenzubleiben, sondern den Aufwand zu treiben, mit diesen Impulsen bewußt in die weit intensivere Verständnisebene externen Wissens (sruti) vorzudringen.
Dieser bewußte Aufwand baut die karmischen Blockaden ab, die sich in Form behindernder Vorstellungen und Konzepte äußern. Eine neutrale oder positive Haltung Neuem gegenüber ist daher eine der wesentlichen Vorbedingungen für ein Vordringen zu diesem intensiveren Verständnis. Formales Lernen oder rein intellektuelles Verstehen externer Informationen - selbst wenn diese aus bewußtseinserweiternden Schriften stammen - erschließt diesen Zugang nicht.
Über welchen unserer Sinne wir externes Wissen aufnehmen, hat keinen Einfluß auf die Erkenntnis, die wir daraus gewinnen. So wie ein Transportmittel seine Eigenschaften nicht auf das überträgt, was damit transportiert wird, so wird auch externes Wissen nicht von dem Sinneskanal beeinflußt, über den es unser Bewußtsein erreicht.
Wissen, das uns die Entfaltung unseres Bewußtseins erkennen und verstehen läßt (samyag jnana), ist ein Spezialfall dieser Wissensart. Es entsteht, wenn wir uns beim Erlangen von Erkenntnis von unserem Gespür für Wachstum leiten lassen.
Wir erfahren dies als plötzliches Aufsteigen einer immensen Freude, - begleitet von einem dynamischem Verstehen, das uns auf einer zuvor unbekannten Ebene eine intuitive Neuordnung von Gedanken und Gefühlen erfahren läßt. Wir erkennen klar, wie die erhaltenen Erkenntnisse unsere Entwicklung vorantreiben, und dieser Einblick durchflutet uns mit Inspiration und neuer Energie.
Irrtum, Mißverstehen und Zweifel sind dabei ausgeschlossen, da unser Verständnis für die Zeit, in der wir diesen Zustand erfahren, nicht von karmischen Blockaden beeinträchtigt ist. Mit nachtwandlerischer Sicherheit verfolgen wir nun nur die Impulse, die uns in immer umfassendere Ebenen führen.
Unser Gespür für Wachstum entsteht zwar primär durch den Wegfall karmischer Blockaden, kann aber auch durch eine intensive Beschäftigung mit Schriften hervorgerufen werden, die die Erweiterung unseres Bewußtseins beschreiben.
Auch die Anleitung derer, die auf diesem Weg weiter fortgeschritten sind, kann unser Gespür für Wachstum aktivieren. Zuweilen genügt dazu schon deren reine Anwesenheit.
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Mit den Schriften, die im Text des Sutra erwähnt werden, sind die Werke der Jains gemeint, die sich im weitesten Sinne mit der Entwicklung des Bewußtseins beschäftigen.
Die Schriften wurden ursprünglich von den tirthankaras gelehrt, tirthankaras (Wegbereiter) sind Menschen, die den Zustand der Allwissenheit erreicht haben und von dort aus ihr Wissen weitergeben, tirthankaras befinden sich nicht im Zustand der Befreiung, doch ist sichergestellt, daß sie in den befreiten Zustand übergehen werden.
Nach Aussage der Jains erlangen nur wenige Menschen den Status eines tirthankaras, da nach Erreichen der Allwissenheit eine spezielle Stabilität vorhanden sein muß, die ein Verbleiben in körperlicher Form überhaupt ermöglicht.[48]
Die Hauptschüler der tirthankaras zeichneten deren Wissen in umfangreichen Werken auf. Spätere Lehrer schrieben dann kürzere Werke, die das Wissen in einfacher Form vermittelten.
Das Tattvarthasutra listet hier keine einzelnen Werke, sondern führt nur die generellen Kategorien auf, in die die Schriften unterteilt werden. Anhang 5 enthält diese Kategorien im einzelnen.
Hiermit endet der Abschnitt, der sich mit indirektem Wissen befaßt.
Der folgende Teil beschreibt direktes Wissen.
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Direktes Wissen wird von uns unmittelbar und ohne den Umweg über die Sinne oder externe Faktoren aufgenommen. Wir erhalten es durch
- Hellsicht und Telepathie (avadhi),
- das unmittelbare Erkennen der geistigen Aktivität anderer (manah-paryaya)
und - Allwissenheit (kevali).
Die beiden ersten Kanäle geben uns Zugang zu begrenztem Wissen, während Allwissenheit die gesamte Realität umspannt und keine Grenzen hat.
Hellsicht (avadhi) kann auf zwei verschiedene Weisen entstehen: Sie ist entweder angeboren, oder manifestiert sich nach dem Wegfall von Karma, das diese Art Erkenntnis blockiert.
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Ein Festhalten an überkommenen Vorstellungen läßt ein Leben leicht in einer Statik erstarren, die oft für Stabilität gehalten wird. Spätestens wenn unser Bewußtsein den gegenwärtigen Körper verläßt, wird diese Statik jedoch endgültig aufgebrochen. In dem Zustand, in dem wir uns danach befinden, erkennen wir klar, wieweit unsere Vorstellungen der Realität entsprechen und wieweit weitere körperliche Erfahrungen nötig sind, um Zugang zu umfassenderen Erkenntnisebenen zu erhalten.
In zukünftigen Verkörperungen stellen wir uns dann u.U. erneut einem Umfeld, in dem wir starre und irrtümliche Vorstellungen auflösen können. Wenn wir eine erneute Konfrontation damit vermeiden wollen, dann empfiehlt es sich, bereits in diesem Leben flexibel und positiv auf die Präsentation neuer Ideen zu reagieren.
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Mahaviras Lehren revitalisierten das Wissen um den Weg zur Befreiung und hatten wesentlichen Einfluß auf die jetzige Form des Jai-nismus. Mahavira versammelte während seiner Präsenz als tirthankara etwa eine halbe Million Schüler um sich, von denen eine große Zahl noch während seiner Lebenszeit die Befreiung erlangt haben soll.