Pramananayair adhigamah (6)
Erkenntnis (Wissen) über die Realität erhalten wir
- durch Erfassen der Gesamtheit aller möglichen Eigenschaften, Erscheinungsformen und Spielarten der Elemente (pramana)
und - durch Teilsichten, die die Elemente und deren Eigenschaften etc. von bestimmten Perspektiven aus betrachten (naya). (6)
In der westlichen Hemisphäre der Welt haben wir im allgemeinen die Vorstellung, daß Wissen etwas von uns Getrenntes ist, etwas, das wir erst aufwendig durch Erfahrung, Experimente oder Nachdenken herausfinden müssen.
In krassem Gegensatz dazu verstehen die Jains Wissen als einen grundlegenden und untrennbaren Bestandteil des individuellen Bewußtseins. Danach tragen wir die Gesamtheit allen Wissens ständig in uns, und es ist lediglich unser begrenztes Vermögen, das verhindert, daß wir uns dessen in vollem Umfang bewußt werden.
Da wir im Westen recht ausschließlich auf das externe Wissensmodell ausgerichtet sind und nie mit alternativen Betrachtungsweisen konfrontiert werden, mag uns die Vorstellung absurd erscheinen, alles Wissen bereits in uns zu tragen. Der Stolz, mit dem wir auf das in den letzten drei Jahrhunderten akkumulierte Wissen blicken, vernachlässigt jedoch völlig, daß wir kaum eine Vorstellung davon haben, wie all die gesammelten Fragmente zu einem kohärenten Ganzen zusammenpassen könnten, geschweige denn, wohin uns diese ständig wachsende Menge an Daten überhaupt führen soll.
Das Modell der Jains liefert jedoch nicht nur einen umfassenden Überblick über Gewichtung, Reichweite und den Gültigkeitsbereich von Wissen, sondern liefert auch eine klare Orientierung, wohin Erkenntnis führen sollte.
Der Unterschied zwischen den beiden Modellen kommt daher, daß der Westen nur eine der beiden Erkenntnismöglichkeiten nutzt, die uns zur Verfügung stehen, und dazu noch die, die nur eine begrenzte Sicht der Realität erlaubt (naya - s.u.). Überdies konzentriert sich das westliche Modell fast ausschließlich auf einen einzigen Aspekt (die Mechanismen der Materie[22]) des Realitätsspektrums und versucht damit das Funktionieren der gesamten Wirklichkeit zu erklären.
Die Jains nutzen dagegen beide Erkenntnismöglichkeiten um ein immer umfassenderes, integriertes Gesamtbild der Realität aufzudecken, statt sie lediglich in weitere Teilbereiche aufzuteilen. Sie haben außerdem nie vergessen, - daß Erkenntnis ein individuelles Erlebnis ist, - daß externes Wissen, das in Büchern oder anderen Speichermedien aufgezeichnet ist, solange keine Bedeutung für uns hat, wie wir es nicht aktiv in unser Bewußtsein integrieren, - und daß auch das formale Lernen von Inhalten wirkungslos bleibt, solange wir es nicht in individuelle Erfahrung verwandeln.
Der Text des Sutras stellt beide Erkenntnismöglichkeiten vor: