Wer auf dem spirituellen Weg die auf Sinneseindrücken beruhenden reaktiven Gefühle hinter sich gelassen hat, macht sich allmählich eine neutrale Haltung gegenüber Freud und Leid zu Eigen. Die neutrale Haltung gegenüber Freud und Leid ist kein Endziel des spirituellen Weges, sondern Hinweis auf eine weitere Transformation der Persönlichkeit, über die man mithilfe ständiger Selbstbeobachtung hinausgelangen muss, damit der Strom des Bewusstseins nicht unterbrochen wird. Nur durch erhöhte Wachsamkeit gelingt es, die anfänglichen Wechselwirkungen zwischen Aufflammen des Bewusstseins und Trägheit in eine stabile Präsenz des Bewusstseins umzuwandeln. Die Tiefe der spirituellen Erfahrungen führt zu einem koordinierten Strom von Bewusstsein und Handlung. Immer seltener bringt Trägheit die Flamme des Bewusstseins zum Verlöschen.
Manche philosophischen Schulen betonen das Primat des Wissens, andere das des Handelns. In der Spiritualität wurde beides zuerst voneinander unterschieden und auf den Bereich der Logik übertragen, was zur Trennung der ursprünglichen Einheit von Bewusstsein und Handeln führte. Doch in der spirituellen Praxis können wir Bewusstsein und Handlung nicht trennen, sie bilden eine Einheit.
Im Zustand der Erleuchtung gehen Geist und Instinkte Hand in Hand miteinander. Der Geist ist an jeder Handlung beteiligt, jede Handlung ist dann rational. Jede Aktivität des Körpers ist eine bewusste Aktivität. Selbst die instinktiven Aktivitäten finden unter Federführung des Bewusstseins statt. Der erleuchtete Mensch ist stets wachsam, er verbindet seinen Geist mit jeder Handlung, die er ausführt, er lässt seinen Geist niemals hinter einer Handlung zurück. Diese Wachsamkeit ist das Ergebnis der dritten Persönlichkeitstransformation, in der Denken und Handeln eine Einheit sind.
Mit der weiteren Entwicklung von Spiritualität und Bewusstsein findet eine vierte Transformation statt, welche eine leidenschaftslose Haltung des Geistes bewirkt. Der spirituelle Aspirant erreicht den als Vitaraga bekannten Zustand, der durch die Reinheit des von Leidenschaften und Zu- und Abneigungen freien Bewusstseins charakterisiert ist. Der Einfluss der Leidenschaften auf den Geist schwindet, das Selbst wird nicht mehr durch äußere Einflüsse konditioniert, es konditioniert sich selbst. Man zentriert sich im Selbst, es gibt keine Bindung an äußere Dinge mehr. Jeder Antrieb kommt aus dem Selbst. Reines, unkonditioniertes Wissen kann sich in einem entfalten.
Zwischen Freiheit von den Leidenschaften und Allwissenheit besteht kein Unterschied, denn Allwissenheit bedeutet unkonditioniertes Wissen und Einsetzen des Bewusstseins, frei von den Einsickerungen der Leidenschaften. Mit diesem Einsetzen des Bewusstseins verschwindet die Trägheit ein für alle Mal und die damit einhergehende leidenschaftslose Geisteshaltung bewahrt das Bewusstsein vor neuerlicher Verunreinigung. Allwissenheit ist das Auftauchen reinen Bewusstseins.
Gewinnen wir einen Eindruck von unserem eigenen Dasein, stehen uns Einsichten zur Verfügung, welche Voraussetzung für die vom Selbst bestimmte Neugestaltung des Individuums sind. Einsicht versetzt uns in die Lage, eine neutrale Geisteshaltung einzunehmen. Sie ist das erste Ergebnis der Wahrnehmung unsereres wahren Daseins, die Neutralität des Geistes das zweite. Neutralität wirkt sich in zweierlei Hinsicht aus: Nähere Betrachtung der Dinge mit Gleichmut. Nur wer neutral ist, kann die Dinge im richtigen Licht sehen. Wer nicht neutral ist, vermag das nicht, denn er bindet sich an das Angenehme oder sein Gegenteil. Neigungen und Aversionen wirken dem Verständnis entgegen und verhindern, dass wir uns ein korrektes Bild von den Dingen machen können. Der neutral eingestellte Mensch lässt sich aufgrund seines mentalen Gleichgewichtes weder von angenehmen Dingen anziehen, noch von unangenehmen abstossen.
Einsichtsfähigkeit bewirkt Neutralität, Neutralität Gleichmut und Gleichmut einen ausgeglichenen Geist.
Am Ende der spirituellen Entwicklung steht die Ganzwerdung, im Sinne von Heilung des Individuums. Voraussetzung dafür ist der Verzicht auf das empirische Selbst, die Persönlichkeit. Dieser Verzicht führt den Menschen zu seinem tatsächlichen und uneingeschränkten Dasein. Dieses uneingeschränkte Dasein des Selbst beginnt dort, wo das empirische Selbst aufhört. Haben wir die Grenzen des empirischen Selbst überschritten, treten wir in unser reines Dasein, und das Selbst ist in sein eigenes Dasein eingegliedert. Es wird zum Alleinherrscher in seinem Reich, das ist das Ergebnis der spirituellen Entwicklung. Allerdings ist es nur sehr schwer zu erlangen.
Wir unterscheiden drei Zeitkategorien
- Vergangenheit
- Gegenwart
- Zukunft.
Die Jaina beziehen den Ausdruck Pratikraman (sich auf das Selbst zurückziehen) auf die Vergangenheit, Alocana (Selbstbeobachtung) auf die Gegenwart und Pratyakhyana (Entsagung) auf die Zukunft.
Die Auswirkungen vergangener Taten als unerwünscht zu bezeichnen ist deshalb wenig sinnvoll, weil sie schon erlebt und erfahren wurden. Man braucht die Handlungen der Vergangenheit nicht zu bedauern. Das einzige, was man in Bezug auf die Vergangenheit tun kann, ist, die Seele wieder in ihren natürlichen Zustand zu versetzen.
Gegenwärtige Handlungen sollte man versuchen geistig wahrzunehmen, da sie bisher noch nicht erfahren werden können, weil sie sich erst noch manifestieren und reifen müssen. Man kann sie nicht aufhalten, weil der Mensch handeln muss um zu leben, doch müssen sie kritisch begleitet und evaluiert werden. Künftige Handlungen müssen erst noch ausgeführt werden. Patanjali, Autor der Yoga-Sutras, rät zur Vermeidung vorhersehbaren, künftigen Elends.
Nur von künftigen Handlungen kann gesagt werden, dass sie vielleicht unerwünschte Folgen haben werden. Deshalb sollte man den Geist nicht mit vergangenen Handlungen beschäftigen, sondern ihn die Gegenwart wahrnehmen und die Folgen künftiger Handlungen bedenken lassen. Die größte Gefahr droht uns von künftigen Handlungen, die besser vermieden werden, weil sie voraussichtlich unerwünschte Auswirkungen zeigen werden.
Durch Transformation der Persönlichkeit kann man unerwünschte Konsequenzen künftiger Handlungen vermeiden. Die spirituelle Praxis wäre bedeutungslos, wenn sie die mentalen Sperren nicht auflösen könnte. Wenigstens sollte man versuchen, dem Ideal leidenschaftslosen Handelns näher zu kommen und damit den innerem Wandel beginnen. Wir erfahren das Leben als Abfolge von Freud und Leid, doch die Versuche zur Disziplinierung des Selbst können nur fruchten durch das Erleben der reinen Freude. So bricht man mit der Gewohnheit, das Leben als Abfolge von Freud und Leid zu betrachten.
Es gelingt nur nach längerer Praxis stets mit voller Aufmerksamkeit in Kontakt mit dem Selbst zu sein. Am besten beginnt man eine Stunde oder zwei Stunden täglich bewusst zu laufen, zu gehen oder zu stehen. Ohne dieses bewusste Herangehen ist die Ganzwerdung der Persönlichkeit nicht möglich. Manchmal fühlt man Freude, manchmal Kummer, doch sollte man sich darin üben, seine Aufmerksamkeit von den Sorgen abzuziehen und sie nur noch der Freude an der gewählten bewussten Tätigkeit zuteil werden lassen.
Das Praktizieren von Ausgelichenheit ist sehr schwer, wir sollten daher keine sofortigen Ergebnisse erwarten, wenn wir uns noch nicht voll entfaltet und von den Auswirkungen unserer Taten gelöst haben. Auch die Früchte der Spiritualität reifen nicht an einem Tag. Allerdings sollten wir versuchen, unser Bewusstsein so rein wie möglich zu halten und es nicht mit den aus Sinneseindrücken generierten reaktiven Gefühlen vermengen. Mit der Entwicklung von Ausgeglichenheit beginnt die Transformation der Persönlichkeit. Doch müssen wir damit anfangen es zu tun, darüber nur zu reden macht wenig Sinn.
Der Töpfer legt einen Klumpen Ton auf seine Scheibe und sobald sie sich zu drehen beginnt, formt er mit den Händen einen Krug daraus. Der Ton würde die Form des Kruges nicht annehmen, hätte der Töpfer nicht mit dem Formen begonnen. Solange der Tonklumpen nicht zu einem Krug geformt worden ist, kann man mit ihm kein Wasser schöpfen.
Ziel der spirituellen Praxis ist die individuelle Neugestaltung des Menschen. Transformation der Persönlichkeit ist die Vollendung der spirituellen Praxis.