Das Leben eines Menschen, der in der Welt des Geistes lebt, ist anders als dasjenige eines Menschen, dessen Leben vom Geben und Nehmen bestimmt wird. Beide leben in der Welt, beide sind nicht müßig. Im Acarang Sutra heißt es, dass ein Mensch, dem ein spirituelles Leben vergönnt ist, auf der Grundlage seines freien Willens handelt. Wer ein Leben des Gebens und Nehmens führt, handelt nicht auf dieser Grundlage, sondern reagiert nur. Er tut anderen das, was sie ihm tun. Derartige Reaktionen negieren den freien Willen und nehmen jedem ethischen Wert seinen Sinn.
In der modernen Ethik ist die Frage nach einem an der Moral orientierten Leben ausführlich erörtert worden. Kant beispielsweise vertritt die Auffassung, dass unsere Handlungen eher von Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein bestimmt sein sollten, als von Mitleid oder der Vorstellung, anderen Gutes zu tun. Handlungen auf der Grundlage derartiger Empfindungen sind keine moralischen Handlungen. Nur vom freien Willen eines Menschen bestimmte Handlungen sind moralisch, deshalb sollten wir auf der Grundlage von Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein handeln.
Kants Auffassung ist korrekt. Mitleid und Wohltätigkeit sind Reaktionen auf die miserablen Lebensbedingungen anderer Menschen. Freundlichkeit hingegen ist keine Reaktion. Sie beruht auf der Einstellung, dass jedes Lebewesen eine Seele hat wie wir und wir ihm deshalb freundschaftlich begegnen.
Freude über Lob und Ärger über Tadel sind auch Reaktionen. Reaktionen werden weder von einer Philosophie, noch von einer Überzeugung hervorgerufen. Sie entstehen aufgrund von reaktiven Impulsen. Im Acarang Sutra heißt es, dass der freie Wille (Anyatha Viavahara) die Grundlage allen Handelns sein muss. Derartiges Handeln ist kreativ und reagiert nicht auf äußere Einflüsse. Die Handlungsweise eines spirituellen Menschen ist kreativ auf der Basis seines Pflichtgefühls und Verantwortungsbewusstseins, ohne dass er auf das Geben und Nehmen des Lebens schaut. Ein spiritueller Mensch hilft anderen nicht, weil sie ihm geholfen haben oder schadet ihnen nicht, weil sie ihm geschadet haben.
Einst gab es zwei Mönche (Munis), die keine Übereinstimmung finden konnten. Einer ging zum anderen und entschuldigte sich für sein Verhalten. Der andere hörte sich die Entschuldigung an und schwieg. Daraufhin ging der Mönch, der sich entschuldigt hatte, zu seinem Mentor und beklagte sich, dass der Muni kein Wort mit ihm gesprochen habe, obwohl er sich entschuldigt hatte. Der Mentor bemerkte: „Es spielt überhaupt keine Rolle, ob er deine Entschuldigung angenommen hat oder nicht. Falls du dich in Erwartung seiner Freundschaft entschuldigt hast, war es keine aufrichtige Entschuldigung, sondern ein pragmatischer Akt.“
Das Leben eines spirituellen Menschen besteht nicht aus Reaktionen. Er schließt keine Kompromisse, sondern ist großmütig. Er erwartet keinen Ertrag. Er handelt aus dem Bewusstsein, die Aufgaben zu erfüllen, die das Leben ihm stellt. Anyatha Viavahara bezeichnet ein Bewusstsein, das aus der Erkenntnis gewonnen wurde, dass etwas ungeachtet seiner Konsequenzen getan werden muss.
Wer einfach nur reagiert, bleibt nicht im Gleichgewicht. Ein ausgeglichener Geist ist nicht parteiisch. Er steht über Günstlingswirtschaft, Vorlieben und Abneigungen und Süße oder Bitterkeit.
In den Upanishaden gibt es folgende Geschichte:
Ein Rishi (Seher) namens Jajali unterzog sich langwährenden spirituellen Übungen. Er stand bewegungslos, sein Haar wuchs und wurde grau, Vögel bauten ein Nest auf seinem Kopf und legten ihre Eier dort. Die Jungen schlüpften und wurden flügge, der Rishi stand still. Allmählich begann er sich etwas auf seine Standfestigkeit einzubilden. Plötzlich sprach eine göttliche Stimme zu ihm: „Rishi, deine Praxis ist noch nicht ausgereift. Geh’ zum Kaufmann Tuladhara und schau, was du von ihm lernen kannst.“ Der Rishi war wütend. Er fühlte sich von der göttlichen Stimme beleidigt. Dennoch machte er sich auf den Weg zu Tuladhara und beobachtete den Kaufmann in seinem Laden. Die Kunden kamen und gingen, der Kaufmann war ständig mit der Skala seiner Waage beschäftigt. Unablässig hielt er seine Augen auf sie gerichtet. Als der Kaufmann sich anschickte, seinen Laden zu schließen, sprach ihn der Rishi an. „Bist du Tuladhara?“ Der Angesprochene bejahte dies und wunderte sich, wie der Rishi auf ihn gekommen sei. „Ich bin gekommen,“ sagte der Rishi, „um mich mit deiner spirituellen Praxis vertraut zu machen. Was ist dein Geheimnis?“ Der Kaufmann erwiderte: „Ich habe keine spirituelle Praxis, und es gibt auch kein Geheimnis. Ich bin nur ein einfacher Kaufmann und halte meine Augen ständig auf die Skala meiner Waage gerichtet, um sicher zu gehen, dass die Waagschalen im Gleichgewicht bleiben. Das hat auch meinen Geist ins Gleichgewicht gebracht.“
Mentales Gleichgewicht führt zu einem Zustand des Geistes, der letztendlich zu einem Zustand meditativer Versenkung (Samadhi) führt. Der Rishi begann zu realisieren, dass er sein mentales Gleichgewicht noch nicht erlangt hatte. Wäre sein Geist im Gleichgewicht, wäre er nicht so stolz auf seine spirituelle Leistung gewesen. Ein in sich ruhender Geist lässt sich durch nichts aus dem Gleichgewicht bringen. Angst vor dem Tod, Stolz, Buchführen über Geben und Nehmen, Lob und Tadel etc. bringen den Geist aus dem Gleichgewicht. Ein wahrhaft spiritueller Mensch hält seinen Geist im Gleichgewicht, seien die Umstände nun günstig oder nicht.
Handeln im Gleichgewicht ist das zweite Prinzip des spirituellen Trainings. Das dritte Prinzip sind bewusste Handlungen anstelle von Reaktionen. Die Handlungen eines Durchschnittsmenschen gründen sich auf Gefühlen. Erkenntnisse und Gefühle sind zweierlei. Die erste Manifestation des Bewusstseins findet auf der Ebene der Gefühle statt, die nächsthöhere auf der Ebene der Erkenntnisse. Wenig entwickelte Lebewesen können nur empfinden und handeln auf der Grundlage ihrer Empfindungen, nicht auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse. Bäume beispielsweise handeln auf der Grundlage von Empfindungen. Spielt man einem Baum Musik vor, empfindet er die Schwingungen des Klangs und bewegt seine Äste und Blätter dementsprechend.
Gefühle spielen eine große Rolle im Umgang mit unseren Kindern. Handeln auf der Grundlage von Erkenntnissen ist ihnen gegenüber nicht von Erfolg gekrönt. Unsere Sinnesorgane werden oft mit Kindern verglichen. Durch Haut, Zunge und Nase gewonnene Erfahrungen basieren auf Empfindungen, durch Ohren und Augen gewonnene Erfahrungen hingegen auf Erkenntnissen. Empfindungen werden häufig von Vorlieben oder Abneigungen beeinflusst. Der spirituell orientierte Mensch lässt sich weder von Vorlieben, noch von Abneigungen beeinflussen. Er nimmt die Empfindungen als reine Empfindungen und vermischt sie nicht mit Vorlieben oder Abneigungen. Er kennt Freude und Leid. Er möchte sie wahrnehmen, anstatt sie zu empfinden. Freud- und Leidempfindungen produzieren Vorlieben und Abneigungen in uns. Diese Vorlieben und Abneigungen wiederum erzeugen mentale Spannungen. Der spirituelle Mensch ist frei von Vorlieben und Abneigungen.
Orientierung an der Wirklichkeit ist der vierte Grundsatz für die Handlungen eines spirituellen Menschen. Ein spiritueller Mensch bindet sich nicht an materielle Objekte zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Er freut sich zwar, wenn sie ihre Funktion perfekt erfüllen, doch weiß er, dass sie nicht dazu da sind, um Freude zu bereiten, obwohl man das leicht miteinander verwechseln kann. Wer viele materielle Objekte zu seiner Verfügung hat, ist nicht automatisch glücklich, und wer nicht, ist nicht automatisch unglücklich. Glücklichsein gründet sich auf einem ausgeglichenen Geist, der Alphawellen produziert, die Glücksgefühle in uns auslösen. Der kanadische Neurologe Wilder Penfield (1891-1976) hat herausgefunden, dass der Mensch umso ausgeglichener ist, je weniger nervöse Spannungen er produziert. Eine Schwäche für materielle Objekte erzeugt nervöse Spannungen im Geist, was sich auf die Funktion der Drüsen auswirkt und sie aus dem Gleichgewicht bringt. Auf diese Weise können Sorgen fast chronisch werden. Der spirituelle Aspirant hingegen macht dem ein für alle mal ein Ende, indem er sich an der Wirklichkeit orientiert, statt an materiellen Objekten, die nur Illusionen erzeugen. Als ersten Schritt auf dem Weg zur Befreiung muss man sich von seinen Illusionen lösen, um Täuschungen zu vermeiden, die letztendlich nur Kummer und Gram bringen.
Niemand kann den Nutzen des Überlebenstriebs leugnen. Doch sollte man nicht vergessen, dass die Ursache aller Sorgen unsere Neigung zur Bindung an materielle Objekte ist. Wenn wir uns dagegen spirituell orientieren, erleben wir beglückende Ruhe.