Unterscheidungvermögen ist einer der in der folgenden Reihenfolge zu erreichenden Zustände auf unserer Reise:
Sravana | Hören, |
Jnana | Erkenntnisfähigkeit, |
Vijnana | Unterscheidungsfähigkeit, |
Pratyakhyana | Fähigkeit zur Entsagung, |
Samyama | Selbstdisziplin, |
Samvara | Einströmen von Karma in die Seele stoppen, |
Tapa | Entsagung durchführen, |
Nirjara | Auslöschen der Folgen vergangener Handlungen, |
Akriya | Nicht-Handeln, |
Siddha | Befreite Seele. |
Vijnana bezeichnet das Unterscheidungsvermögen, bzw. die Fähigkeit, zwischen dem Erstrebenswerten und dem nicht Erstrebenswerten unterscheiden zu können, sowie das Nötige zu tun und das Unnötige zu verwerfen. Das Unterscheidungsvermögen erleuchtet unseren Pfad und beginnt wirksam zu werden, nachdem wir gelernt haben zu hören (Sravana) und zu erkennen (Jnana). Solange wir nicht durch unser Unterscheidungsvermögen erleuchtet sind, können wir die Fähigkeit zur Entsagung (Pratyakhyana) nicht entwickeln. Wenn wir diese spirituelle Entwicklungsstufe erreicht haben, geben wir alles nicht Erstrebenswerte von selbst auf. Damit sind wir in der Lage Selbstdisziplin (Samyana) zu praktizieren. Selbstdisziplin verhindert das weitere Einfließen von Karma, und wir haben damit die Stufe erreicht, auf der das Einfließen von Karma in die Seele gestoppt ist (Samvara). Auf dieser Stufe unserer spirituellen Entwicklung sind wir gegen jedwede Hindernisse in unserem spirituellen Fortschritt gewappnet.
Auf der nächsten Stufe unseres spirituellen Fortschritts schaffen wir es Entsagungen (Tapa) auf uns zu nehmen, denn wir sind nun soweit, dass wir uns auf unsere inneren Quellen verlassen können. Wenn wir auf der nächsten spirituellen Entwicklungsstufe die nachteiligen Auswirkungen unserer Handlungen in der Vergangenheit auslöschen (Nirjara), beginnt in uns ein innerer Aufruhr, der mit dieser Ebene einher geht. Die beiden zuletzt genannten Entwicklungsstufen bezeichnen Zielsetzungen, während die vorher genannten die Mittel beschreiben, mit denen wir unsere Ziele erreichen: Samvara wird durch Selbstdisziplin erreicht, Nirjara durch Entsagungen.
Wenn wir von den nachteiligen Folgen unserer gegenwärtigen und vergangenen Taten gereinigt sind, erlangen wir die Stufe, auf der es keine weiteren Handlungen mehr gibt (Akriya). Handlungen werden nicht vom Selbst vollzogen, sie finden außerhalb des Selbst statt. Sowohl unsere Rastlosigkeit, als auch unsere aktiven Tendenzen hören auf, wenn wir diesen Zustand völliger Stabilität erreicht haben. Wir ruhen in uns sellbst und weder innere, noch äußere Faktoren können uns mehr stören. Das ist die befreite Seele, die als Siddha bezeichnet wird. Die befreite Seele erkennt und weiß zugleich. Damit haben wir das Ziel unserer Pilgerreise erreicht, in diesem Zustand manifestiert sich das wahre Wesen unseres Seins: vollkommen, frei von innerer oder äußerer Einmischung, die reine Erkenntnis des Selbst.
Unterscheidungsvermögen ist der erste Leuchtturm auf unserer spirituellen Pilgerreise. Preksha Meditation und Kontemplative Meditation (Anupreksha) helfen bei der Suche nach dem Selbst das Unterscheidungsvermögen entwickeln, ohne welches man keinen Schritt vorankommt. Zwischen dem Strom der Lebensenergie und dem Zustand gleichzeitigen Erkennens und Wissens liegt das tiefe, undurchdringliche Unbewusste. Ohne das Überschreiten der Grenzen des Unbewussten ist kein spiritueller Fortschritt möglich.
Emotionen, Täuschungen, Begierden und Mangel an Unterscheidungsvermögen sind die vier Verteidigungslinien des Unbewussten. Für die Verwirklichung des Selbst reicht es nicht, dass wir unsere Vorlieben und Abneigungen, unser Gebundensein und unsere Aversionen besiegen. Wir müssen schon eine gut überlegte Strategie für den Angriff auf unser Unbewusstes bereit haben. Zuerst müssen wir den Mangel an Unterscheidungsvermögen überwinden, die stärkste Verteidigungslinie des Unbewussten. Die drei anderen sind nicht so stark und können leichter durchbrochen werden.
Mit dem Angriff auf die stärkste Verteidigungslinie des Unbewussten blasen wir zum Angriff auf die tiefliegenden Wurzeln unserer Sorgen und Nöte. Wir müssen uns genau über die Strategie und die spirituellen Übungen im Klaren sein, die wir anwenden wollen.
Mit zwei Übungen müsen wir anfangen: Übungen zur Entwicklung unseres Unterscheidungsvermögens und Übungen für das bewusste Verlassen unseres Körpers (Kayotsarga). Diese Übungen müssen wir über einen Zeitraum von drei bis sechs Monaten durchführen. Wenn wir das durchgestanden haben, können wir das Licht des Bewusssteins leuchten lassen.
Übung zur Entwicklung des Unterscheidungsvermögens (Viveka Pratima)
Wir gehen im Stehen oder Sitzen in den Kayotsarga und halten unseren Geist ruhig. Wir konzentrieren uns auf das Erleben und Beobachten unserer gegenwärtigen Situation und vermeiden das Denken. Während wir denken, halten wir uns an der Oberfläche des Seins auf, das Denken führt uns nicht in die Tiefe, wo wir hin wollen. Gedanken, die uns kommen, nehmen wir wahr und lassen sie wieder gehen, sie sind wie kleine Wellen.
In diesem Zustand erreicht uns der Zorn nicht mehr. Wenn wir zornig sind, verbindet sich unser Zorn mit unserer Lebensenergie und erhält von ihr seine Kraft. Doch sobald wir anfangen ihn objektiv wahrzunehmen, anstatt ihn subjektiv zu empfinden, ist er nicht mehr mit der Lebensenergie verbunden. Damit wird er zu einem vergangenen Ereignis, das unserem Wesen fremd ist und zu dem wir keine Verbindung mehr haben. Die Emotion Zorn löst sich auf, sobald man mit der Selbstbeobachtung beginnt. Auf diese Weise verändern wir uns fast unmerklich. Die Umwandlung ist kein Willensakt des unserem Bewusstsein zugänglichen Teil unseres Geistes, gelangt doch die Wahrnehmung der Emotion bis ins Unbewusste. Wenn wir nicht denken, sondern unser wahres Sein erleben, können wir realisieren, dass Zorn, Stolz, Gier, Gebundensein und Aversionen keine Charakteristika unsereres Seins, sondern Wellenbewegungen auf der Oberfläche unseres Geistes sind.
In den Tiefen des direkt erlebten Seins sind wir allein. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis entwickelt sich unsere Fähigkeit zur Unterscheidung. Wenn wir Zorn, Stolz, Gier, Gebundensein und Aversionen ausschalten, bleibt unser wahres, individuelles Selbst, erleuchtet vom Licht der Unterscheidung, und wir erkennen die Wahrheit unseres Seins (Samyag Darshan). Ist der gordische Knoten des tief Unbewussten durchtrennt, wird das Unterscheidungsvermögen wirksam, und man steht sich selbst gegenüber.
Seit Jahrtausenden bewegt den Menschen die Frage: "Wer bin ich?". Durch die Übung zur Entwicklung des Unterscheidungsvermögen findet man die Antwort: "Das bin ich.".
Die Übungen zur Erlangung des Urteilsvermögens sollte man ausführen, indem man die bewegungslose und ruhige Haltung einer Statue einnimmt. Dieses Konzept einer figurativen Haltung ist sehr hilfreich bei der Erforschung des Selbst.
Übung zum Verlassen des Körpers und Gewahrsein des Selbst (Kayotsarga Pratima)
Kayotsarga bedeutet 'Verlassen des Körpers'. Der Begriff muyacca oder mritarca aus dem Acaranga Sutra bezeichnet den Tod des Körpers. Er bedeutet, dass man den Dharma (vollkommene Stabilität) erst mit dem Tod erlangen kann. Diese Vorstellung ist sehr bezeichnend.
Das Erwachen der Fähigkeit zur Unterscheidung ist die erste Voraussetzung zur Erlangung der vollkommenen Stabilität des Dharma, die nur dann erlangt werden kann, wenn man sich von der Bindung an den Körper befreit hat. Dieser Befreiungsprozess ist Kayotsarga. Wer sein wahres Sein kennenlernen möchte, sollte seinen Körper bewegungslos halten, als sei er tot. Dieser Prozess des Kayotsarga gelangt zur Reife, wenn ein Lebewesen die Einstellung zu seinem Körper ändert und fühlt, dass es physisch tot ist.
Kayotsarga simuliert den Prozess des Sterbens, der Körper wird völlig entspannt, man bewegt sich nicht und unterdrückt auch die kleinste Neigung zur Aktivität. Nur die Vibrationen im Körper und der Atem sind Anzeichen dafür, dass der Körper lebt. Sobald diese aufhören, stirbt der Körper. Im Kayotsarga werden die Vibrationen des Körpers und der Atem sehr schwach, es scheint sogar, als habe man aufgehört zu atmen. Der bewegungslose Körper und schwacher Atem zeigen an, dass der Körper verlassen worden ist.
Durch Kayotsarga setzen wir den Prozess des Unterscheidungsvermögens in Gang. Wenn wir uns nicht mehr mit Körper und Atem identifizieren, können wir erkennen, dass Körper und Atem nicht das Selbst sind. Atem und Sein, Sein und Atem, Körper und Sein, Sein und Körper, Körper und Seele, Seele und Körper, diese Dualität wird vom Unbewussten im Sinne einer falschen Identität ausgelegt. Atem und Körper sind vom Sein der Seele durch diese falsche Identität getrennt.
Wenn es erst einmal klar wird, dass wir den Körper mit all seinen Charakteristika verlassen haben, verlangsamen sich alle Körpervorgänge so stark, dass wir manchmal das Empfinden haben, der Körper sei verschwunden. Das ist nichts unnatürliches, während des Kayotsarga kommt es häufig vor und zeigt an, dass der Prozess des Unterscheidungsvermögens in Gang gesetzt worden ist.
Ein spiritueller Sucher erschien einmal vor einem spirituellen Lehrer (Acharya) und beklagte sich darüber, dass es ihm nicht möglich sei, seine falschen Vorstellungen, seinen Stolz und seinen Egoismus loszuwerden. Er überhäufte den Acharya mit Fragen. Schließlich bat dieser den Fragesteller ihm keine weiteren Fragen zu stellen und empfahl ihm die Übung sich vorzustellen, Körper und Seele seien nicht identisch, sondern voneinander verschieden. Der Fragesteller zog von dannen und befolgte die gegebene Anweisung. Als er nach einer Weile den Acharya wieder aufsuchte, wollte dieser wissen, ob er noch weitere Fragen habe. Der Angesprochene verneinte und erklärte, dass all seine Unklarheiten nun beseitigt seien.
Zweifel und Bedenken gibt es nur, solange wir uns auf dem Gebiet des Intellekts befinden. Sobald wir uns auf das Gebiet des Erlebens begeben, hören sie auf. Sich von anderen belehren lassen oder selbst etwas wissen sind Angelegenheiten des Intellekts. Unterscheidungsvermögen findet sich auf einer höheren Ebene. Die eigenen Anstrengungen in der spirituellen Praxis beginnen mit dem Erwachen der Unterscheidungsfähigkeit, welche dann zu Erfahrungen aus eigenem Erleben führen. Bevor man zur Wahrheit gelangt, muss man sich einer Reihe von Übungen unterziehen.
Viveka Pratima und Kayotsarga Pratima sind zwei Methoden, die zur Wahrheit führen. Wir wollen nun betrachten, was die Entwicklung des Unterscheidungsvermögens oder die Erleuchtung bewirken:
- Ausgeglichenheit
Ausgeglichen sein kann man nicht ohne Unterscheidungsvermögen - Freisetzung in allen Lebensbereichen
In einem Leben voller Bedingungen und Gebundensein gibt es keinen Frieden - Karuna
Freundlich und mitfühlend zu allen - Einsatz für die Wahrheit
Keine Lügen und Falschheit
Ein erleuchteter Mensch, der über die Fähigkeit zur Unterscheidung verfügt, wird zur Wahrheit gelangen, die es ihm ermöglicht, sein wahres Sein zu erkennen.