Unser Körper arbeitet wie eine vor Aktivität brodelnde und kochende Großfabrik. Doch sogar den Puls- und Herzschlag, sowie die Zirkulation des Blutes nehmen wir nur wahr, wenn wir unsere Aufmerksamkeit gezielt darauf richten, denn unser Geist verarbeitet vorrangig die Wahrnehmungen der Sinne. Die subtileren Vorgänge in unserem Körper können wir nur wahrnehmen, wenn wir den Geist mithilfe unserer spirituellen Praxis darauf ausrichten. Je besser es uns gelingt ihn auf die Wahrnehmung der subtilen Vorgänge in unserem Inneren zu konzentrieren, desto näher kommen wir einem Verständnis der subtilen Bereiche unserer Existenz.
Wie wirkt sich ein umfassenderes Verständnis des Geistes aus? Es führt zu Selbstdisziplin. Wir haben einen Pfad ohne Fußspuren gewählt, auf dem wir niemandem folgen oder niemanden imitieren können. Haben wir diesen Weg erst einmal eingeschlagen, wird sich unser Geist nicht mehr mit ausgedehnten Wanderungen in der Außenwelt beschäftigen, sondern sich auf die Entwicklung des eigenen Bewusstseins konzentrieren. Das bedeutet Selbstdisziplin.
Wir müssen uns keine Sorgen um die Länge unserer Reise und die zu überwindende Entfernung machen. Unsere Reise ist kurz, obwohl sie uns lang und beschwerlich erscheint, so lange wir die Dinge nicht im richtigen Blickwinkel betrachten. Gewöhnlich haben wir keine Ahnung, auf welche Weise wir erkennen.
Die Reise ist kurz, und das zu erreichende Ziel ist jener Zustand unseres Wesens, in dem wir nur wahrnehmen und verstehen müssen. Wir werden so zu Erkennenden und Wissenden. Mit dem Erreichen dieses Zustands sind wir am Ende unserer Reise.
Wir leben zwischen den beiden Einheiten Erkennen und Wissen, die durch den Strom der Lebenskraft in unserem Inneren miteinander verbunden sind. Strömt die Lebenskraft in Richtung dieser beiden Einheiten und man empfindet sich als Erkennenden und Wissenden, wird der Pfad immer länger und die Entfernung vom Ziel der Reise immer größer. Man trifft auf ein Hindernis nach dem anderen und fühlt sich ohne einen Hoffnungsstrahl in der Dunkelheit verloren.
König Bharata schickte einst die folgende Botschaft an seinen Bruder Bahubali: "Du lebst in Taxila, ich in Ayodhya. Zwischen uns sind Hügel, Wälder, Flüsse und vieles mehr, denn wir leben Meilen voneinander entfernt. Doch all das ist unerheblich, denn es gibt niemanden zwischen uns. Deshalb sind wir einander so nahe, obwohl uns physisch Meilen trennen."
Werden Erkenntnisfähigkeit und Wissen der Seele nicht durch den Strom der Lebenskraft voneinander getrennt, sind Erkenntnisfähigkeit und Wissen eins. Wenn mit der Lebensenergie Täuschung und Gebundensein eintreten, beginnt der Strom der Lebensenergie in entgegengesetzte Richtungen zu fließen.
Existenz und Spiritualität beinhalten zwei Dinge: Erkenntnisfähigkeit und Energie, ohne Energie keine Erkenntnisfähigkeit. Gemäß dem Kamashastra können Erkenntnisfähigkeit und Wissen nur erlangt werden, wenn das Antaraya Karma vollständig aufgelöst worden ist. Erkenntnisfähigkeit und Wissen sind absolut und in ihrer reinen Form in Verbindung mit Beziehungen nicht wirksam. Selbst wenn die Folgen von Handlungen, in deren Natur die Irreführung von Erkenntnisfähigkeit und Wissen liegt, aufgelöst worden sind, sind Wissen und Erkennen der Wahrheit nicht möglich, solange die zur Lösung des Antaraya Karma aufgewendete Energie nicht mit dem Prozess des Erkennens und Wissens verschmolzen ist.
Ohne diese Verschmelzung können die Augen nicht sehen, die Ohren nicht hören und der Geist nicht denken als Folge des Energiemangels im Gehirn. Sobald die Lebensenergie diejenigen Gehirnzentren nicht mehr durchströmt, welche mit den Sinnesorganen verbunden sind, funktioniert beispielsweise ein ansonsten gesundes Auge nicht mehr. Das gilt nicht nur für alle Sinnesorgane, sondern auch für den Geist. Der Stillstand des Blutkreislaufs führt zum Stillstand des Stroms der Lebensenergie, was die partielle Lähmung des Körpers, bzw. die Inaktivierung von Teilen des Gehirns zur Folge hat. Erkenntnisfähigkeit und Wissen werden vom Strom der Lebensenergie abgesondert. Bevor Erkenntnisfähigkeit und Wissen verhindernde Vorstellungen abgebaut werden können, muß das Antaraya Karma aufgelöst werden. Ohne Lebensenergie funktioniert es nicht.
Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Richtung, in welche die Energie fliesst. Ist es die falsche Richtung, muß sie geändert werden. Ohne das kann es keine Transformation der Persönlichkeit geben. Selbst wenn man es möchte, ist Transformation ohne Änderung der Richtung der Lebensenergie nicht möglich.
Religiöse Schriften und die Lehren religiöser Führer haben die Grundsätze ihrer Religion nicht als bloße Übung metaphysischen Denkens vorgelegt. Manche nehmen an, dass Religion und Philosophie sie lediglich interpretieren, anstatt sie zu verändern. Das ist deshalb falsch, weil eine spirituelle Lebensart (Sadhana), die nicht darauf abzielt, das Leben zu verändern, nicht für sich in Anspruch nehmen kann, eine religiöse Philosophie im wahren Sinn des Wortes zu sein.
Ich spreche nicht von einer Veränderung des sozialen Systems der Welt, denn das ist nicht Aufgabe spiritueller Philosophien. Dennoch kann nicht behauptet werden, dass spirituelle Philosophie nicht dazu in der Lage ist das Leben des Einzelnen zu verändern. Sie bringt neue Orientierung in das Denken eines Menschen, was sich in einer Veränderung seiner Persönlichkeit und seines Wesens zeigt. Diese Transformation ist so vollkommen, dass man sich fragt, ob er noch derselbe ist oder ob sich ein neuer Geist seines Körpers bemächtigt hat.
Die während unserer Reise zu überwindende Entfernung ist kurz. Das Ende unserer Reise ist der Zustand des Erkennenden und Wissenden. Dieser Zustand kann durch die Umleitung des Stroms der Lebensenergie in Richtung Erkenntnisfähigkeit und Wissen geschehen. Es gibt keine andere Möglichkeit das Ziel zu erreichen. Während unserer Reise müssen wir das Wesen der Lebensenergie verstehen und lernen, wie wir ihre Richtung ändern können.
Manche möchten dieses Ziel gar nicht erreichen, weil es ihnen nicht attraktiv erscheint. Alle Menschen wünschen sich Gesundheit, ein langes Leben, Glück und Frieden. Jeder in der Gesellschaft wünscht sich Gesundheit und ein langes Leben. Jeder weiss, dass er eines Tages sterben muss, doch möchte er den Tod solange wie möglich aufschieben. Niemand möchte ein Leben voller Elend und Unglück, jeder möchte ein friedliches Leben in Wohlstand. Aber können wir Frieden ohne Weisheit finden? Können wir ein langes und gesundes Leben in Wohlstand ohne geistigen Frieden leben? Das ist unmöglich. Der Weg jener Menschen ist das Gegenteil von dem, was wir beschrieben haben. Ihre Präferenzen sind Gesundheit, langes Leben, Wohlstand und Frieden.
Doch sie werden die Reihenfolge ihrer Präferenzen ändern müssen. Frieden kommt nur durch Unterscheidungsfähigkeit, Wohlstand durch Frieden und Gesundheit durch Wohlstand.
Unterscheidungsfähigkeit bedeutet analysieren, trennen. Es enthält die Zurückweisung der Vorstellung, dass alles beliebig ist. Wir müssen den Weg verstehen, auf dem wir gehen, damit wir begreifen, was Unterscheidungsfähigkeit bedeutet.