Narakatairyagyonamanusadaivani (10)
Karma, das Dauer und Ort der nächsten Verkörperungen) (ayu) festlegt, äußert sich durch Manifestation des Körpers eines jiva in folgenden Lebensbereichen:
- als naraka d.h. als Wesen, das sich in höllischen[17] Bereichen aufhält,
- als deva d.h. als Wesen, das sich in himmlischen Bereichen aufhält,
- als Mensch, und
- als Tier oder Pflanze. (10)
In diesem Sutra stellt das Tattvarthasutra klar, daß einem jiva d.h. ein Lebewesen, dessen grundlegende Natur Bewußtsein ist, der gesamte Bereich des Universums für Verkörperungen in mannigfaltigster Form zur Verfügung steht. Sinn dieser Verkörperungen ist der Gewinn von Erfahrungen, die der jiva individuell für notwendig hält, bzw. zu denen er sich intuitiv und emotional hingezogen fühlt.
Hier liegt zwar die Frage nahe, warum ein Lebewesen nicht die permanente Verkörperung als deva also in himmlischen Bereichen allen anderen Bereichen vorziehen würde, doch gibt es darauf eine einfache Antwort: Ein Aufenthalt in himmlischen Bereichen bietet bei aller idealisierter Vorstellung, die Religionen gerne propagieren, nicht die gesamte Palette an Erfahrungen und Erkenntnissen, die ein Lebewesen auf seinem Weg zur Befreiung (moksa) in selbstbestimmter Weise durchlaufen will.
So veranlaßt beispielsweise ein tiefes Verlangen nach rachsüchtigen oder grausamen Gedanken und/oder Handlungen die Verkörperung in Bereichen, die von Wesen mit gleichartiger Haltung bewohnt werden und in denen dieses Verlangen befriedigt werden kann, ohne daß dadurch Wesen mit anderem Lebensziel gestört werden.
Obwohl uns auf unserer jetzigen Verkörperungsebene ein Aufenthalt in 'höllischen' Bereichen als extrem negativ erscheinen mag, ist diese Betrachtungsweise doch nur relativ. Wie 'höllisch' mag für einen von Harmonie und Frieden umgebenen Bewohner der 'himmlischen' Bereiche erst unsere oft rech chaotische und gewalttätige Welt erscheinen?
Wesentlich ist, diese vier Lebensbereiche als durchlässig zu betrachten, wobei wir durch unsere ureigenen Wertvorstellungen, Ideen und emotionale Dynamik zu den Bereichen hingezogen werden, die die Verwirklichung unserer Wertvorstellunge und Ideen am besten unterstützen. Sobald die entsprechende Erkenntnisse gewonnen sind, d.h. sobald das entsprechend Zeitkarma (ayu) aufgelöst ist, wird sich dem jiva die Möglichkeit eröffnen, den respektiven Bereich zu verlassen, um sich anderen Erfahrungen auszusetzen. Es ist dies ein Prozeß, den wir alle schon oft erfahren haben, selbst wenn unser westliches Weltverständnis im Augenblick verhindert, daß wir uns daran erinnern dürfen.
Wesentlich ist weiterhin, daß hier nicht ein (religiöses) Konzept von Himmel und Hölle im Sinne von 'Belohnung' und 'ewiger Seligkeit' oder 'Bestrafung' und 'ewiger Verdammnis' gemeint ist, sondern ein Mechanismus, der den jiva in diejenigen Lebensumstände stellt, die für seine Entwicklung, seine Wünsche und seine Möglichkeiten ideal sind. Es ist ein freiwilliger Weg, den jeder Einzelne durch sein Verhalten in der Gegenwart definiert.
Für den im westlichen Kulturkreis aufgewachsenen Menschen mag diese Unterteilung und besonders die ersten beiden Klassen ungewohnt sein und schnell dem Bereich der religiösen Fabel oder einer eher einfältigen höheren Instanz von Belohnung und Bestrafung zugeordnet werden.
Diese Art der mystischen Zuordnung meinen die Jains jedoch nicht. Es handelt sich hier um eine umfassende Klassifizierung von Lebensformen, die im zweiten bis vierten Kapitel des Tattvarthasutra detailliert beschrieben werden.
Die westliche Wissenschaft die unsere Lebensmodelle zum wesentlichen Teil prägt beschäftigt sich nicht mit diesen Bereichen und kann daher auch nichts über sie aussagen.