Mithyadarsanaviratipramadaka kasayayoga bandhahetavah (1)
Fünf Faktoren veranlassen die Bindung eines Lebewesens (jiva) an karmische Mechanismen:
- das Mißverstehen der Weltmechanismen (mithya-darsana),
- die Tendenz, diesen Zustand der fehlerhaften Konzepte, der Täuschung und des Irrtums fortdauern zu lassen (und nicht zu beenden, obwohl sich Gelegenheiten dazu ergeben) (avirati),
- Nachlässigkeit des Handelns, Sprechens und Denkens (pramada),
- ungezügeltes Ausleben der Leidenschaften (ksaya),
- die drei Arten des Handelns (yoga[1] - d.h. die Aktivitäten des Körpers, der Sprachorgane und des Geistes). (1)
Das Mißverstehen der Weltmechanismen hat fünf Hauptursachen:
- Einseitiger Standpunkt
Die Welt (Personen, Dinge, Situationen, Konzepte, etc.) wird nur von einem Blickwinkel (Standpunkt) aus betrachtet. Die Vielschichtigkeit, die jeder Komponente dieser Welt zugrunde liegt, wird ignoriert. Sie ist damit einem weiterführenden (expandierenden) Verständnis nicht mehr zugänglich.[2]
- Falsche Konzepte
Auf Erscheinungen, die in der Welt beobachtet werden, wird ein Modell projiziert, das nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt.
Modelle, die auf fehlerhaften Annahmen aufbauen, haben (leider) oft die Eigenschaft, in sich logisch zu erscheinen. Solange das Denken in derartigen Modellen gefangen ist, gibt es sogut wie keine Möglichkeit, Fehler in deren Grundkonstruktion zu entdecken. Wenn kein Standpunkt bekannt ist, der außerhalb des Modells liegt und von dem aus es hinterfragt werden kann, bleibt das eigene Weltverständnis in den Grenzen des Modells eingeschlossen.
Dies hat jedoch den psychologischen Effekt, daß alle auftretenden Erfahrungen und Ereignisse (bewußt oder unbewußt) daraufhin überprüft werden, ob sie in das entsprechende Modell passen oder nicht. Ereignisse, die sich nicht einordnen lassen, werden ignoriert, als unwichtig angesehen, vergessen, oder nicht einmal wahrgenommen.[3]
- Zweifel, Skepsis, Zögern
Obwohl ein - zu welchem Grad auch immer - klarer Einblick in die wahren Weltmechanismen (temporär) vorhanden ist, wird aufgrund von Zweifeln oder einer angelernten oder sozial opportunen Skepsis dieses Angebot einer Neuorientierung von Verständnis und Handlung nicht angenommen.
Zögern verursacht, daß der Zeitpunkt des temporären Einblicks verstreicht, ohne daß er Auswirkungen auf das Leben des jiva haben konnte.
Beide Mechanismen blockieren ein Ausbrechen aus dem Kreis des bekannten Lebens.
- Sinnlose Verallgemeinerung
Das unbedachte oder nachlässige Ausdehnen eines Konzeptes oder Modells auf Bereiche, in denen es keine Gültigkeit hat und die dadurch auch nicht korrekt erfaßt werden können. Dies dokumentiert eine 'Gleich-Gültigkeit' dem Leben oder Teilbereichen des Lebens gegenüber. Es ignoriert den individuellen Wert der einzelnen Komponenten des Lebens. Sinnlose Verallgemeinerung unterstützt daher keine weiterführende Erkenntnis.
- Unwissenheit
Die Unfähigkeit festzustellen, welcher Weg zu umfassenderem Verständnis und zu geistigem Wachstum führt. Unwissenheit wird durch zwei Mechanismen verursacht:
- natürliche Unwissenheit geht darauf zurück, daß ein jiva auf seinem Weg durch den Zyklus körperlicher Manifestationen sich noch nicht alles, ihm potentiell zur Verfügung stehende Wissen erschlossen hat.
- Unwissenheit entsteht durch das Annehmen (Glauben) der falschen Lehren anderer. Dieser Mechanismus läßt sich wiederum in vier Arten unterteilen:
- natürliche Unwissenheit geht darauf zurück, daß ein jiva auf seinem Weg durch den Zyklus körperlicher Manifestationen sich noch nicht alles, ihm potentiell zur Verfügung stehende Wissen erschlossen hat.
- Der Glaube, daß die Ereignisse der Welt nur durch das Zusammenspiel von Zeit, Raum, Materie, etc. ausgelöst werden.
- Der Glaube, daß die Ereignisse der Welt nicht durch die Aktivität in Zeit, Raum, Materie, etc. beeinflußt werden können.
- Der Glaube, daß eine spirituelle Dimension des Lebens nicht nachweisbar ist, aber auch nicht auszuschließen wäre (z.B. Agnostizismus).
- Der Glaube, daß moralisches und diszipliniertes Verhalten, und/oder der selbstlose Dienst an der Gesellschaft die gesamte spirituelle Dimension des Lebens ausmacht (z.B. Konfuzianismus).
Die Tendenz, den Zustand der Täuschung, des Irrtums und der fehlerhaften Konzepte fortdauern zu lassen (und nicht zu beenden, obwohl sich Gelegenheiten dazu ergeben).
Dies ist eine Art Trägheit, die geistiges Wachstum behindert. Obwohl ein (temporärer) Einblick in die wahren Weltmechanismen vorhanden ist und der Impuls existiert, aktiv die eigenen eingefahrenen Handlungsmechanismen zu überprüfen und eventuell neue Handlungsarten auszuprobieren, wird aus Bequemlichkeit darauf verzichtet. Diese Tendenz manifestiert sich u.a. als:
- Gleichgültigkeit anderen Lebewesen gegenüber. - z.B. eine Ungerührtheit, ob andere Lebewesen durch das eigene Handeln verletzt oder in ihren Lebensäußerungen gestört werden und
- die ungezügelte Anhaftung an das Ausleben der fünf Sinne.
Nachlässigkeit des Handelns, Sprechens und Denkens bezieht sich nicht nur auf fehlende oder eingeschränkte Präzision bei allen Aktivitäten, die geistiges Wachstum hervorbringen sollen, sondern auch auf eine Gleichgültigkeit den Mechanismen gegenüber, die den Zyklus von Geburt und Wiedergeburt verlängern (siehe Kapitel KONTAKT MIT KARMA, Sutra 5).
Im weiteren Sinn sind damit jedoch alle wie auch immer gearteten Aktivitäten gemeint, da Nachlässigkeit anderen Personen (oder Sachen) gegenüber im Grunde genommen immer eine fehlende Achtung auch vor der eigenen Person ist. Nachlässigkeit - egal wem oder was gegenüber - behindert das geistige Wachstum, da eine Bewußtwerdung umfassenderer Verständnisebenen nur durch Einsatz aller einem jiva zur Verfügung stehenden Energien und Fähigkeiten möglich wird.
Ungezügeltes Ausleben der Leidenschaften - bezieht sich auf alle Handlungen, die von Ärger, Stolz, Falschheit und Gier geprägt sind. Diese Haltung koppelt den derart handelnden jiva an Mechanismen, die Kontakt mit und das Verstehen von weiterführendem Wissen blockieren.
Die drei Arten des Handelns (yoga) - beziehen sich auf die Aktivitäten des Körpers, der Sprachorgane und des Geistes, wie sie zu Beginn des vorigen Kapitels beschrieben wurden.
Jede Art von Handlung konfrontiert jiva mit karmischen Mechanismen. Ob diese Konfrontation nur kurz ist, oder zu einer Anhaftung an einen bestimmten Handlungstyp führt, hängt nur vom Verhalten und der inneren Haltung des jiva ab:
- Handlungen, die durch Leidenschaften ausgelöst werden, verlängern den Zyklus von Geburt und Wiedergeburt des handelnden Lebewesens, während
- Handlungen, die nicht durch Leidenschaften beeinflußt werden, nur eine vorübergehende, flüchtige Wirkung haben.
Diese fünf Faktoren veranlassen die Bindung eines Lebewesens (jiva) an Karma. Dabei kann jeder einzelne dieser Faktoren für sich allein die Bindung auslösen. Wie stark diese Bindung ist, wie lange sie andauert, wie sie sich äußert und wann sie aufgelöst wird, ist Thema dieses Kapitels.
Im ersten Entwicklungszustand des Menschen (gunasthana)[4] sind alle fünf Faktoren aktiv.
Im zweiten und dritten Entwicklungszustand fällt das Mißverstehen der Weltmechanismen kurzzeitig weg.
Im vierten Entwicklungszustand sind nur noch vier Faktoren aktiv, das Mißverstehen der Weltmechanismen entfällt grundlegend.
Im fünften und sechsten Entwicklungszustand entfällt die Tendenz, den Zustand der Täuschung fortdauern zu lassen. Noch aktiv sind Nachlässigkeit, die milderen Formen der Leidenschaften und die drei Arten des Handelns.
Im siebten, achten, neunten und zehnten Entwicklungszustand entfällt Nachlässigkeit. Noch aktiv sind subtile Ebenen der Leidenschaften und die drei Arten des Handelns.
Im elften, zwölften und dreizehnten Entwicklungszustand sind nur noch die drei Arten des Handelns aktiv.
Im vierzehnten Entwicklungszustand wird kein Karma mehr gebunden.
So blockiert beispielsweise die Wissenschaft mit dem einseitig mechanistischen Modell, das sie auf die Natur projiziert, das Verständnis für fast alle Erscheinungen des intuitiven Bereiches. Intuition, Vorahnungen, wortlose Kommunikation und plötzliches Verstehen umfassender Zusammenhänge sind jedoch natürliche und häufig auftretende Erfahrungen, die im täglichen Leben auch mühelos gehandhabt werden.
Da diese Erfahrungen nicht in das rein materieorientierte Modell der Wissenschaft passen, werden sie von ihr als suspektes, absonderliches und unnatürliches Verhalten interpretiert. Wer etwas wahrnimmt, von dem die Wissenschaft glaubt, das es nicht existiert, erhält den Ruch des Abnormen, des sozialen Außenseiters. Für alle, die die Welt von diesem einseitigen Blickwinkel aus betrachten, errichtet sich dadurch eine fast unüberwindbare Hürde vor der Erforschung dieser Bereiche. Der Zugang zu den reichen Dimensionen psychologischer Tiefe ist somit blockiert.
Ein Beispiel dafür ist das erst vor ca. hundert Jahren entstandene, inzwischen aber weit verbreitete Konzept des zufälligen Entstehens von Leben aus der Vermischung primär materieller Substanzen im Flutsaum der Meere. Dieses (unbewiesene) Konzept propagiert die Vorstellung daß Leben eine eher unwichtige Variante chaotisch durcheinanderwirbelnder Materiemassen ist, der kein über die reine Existenz hinausgehender Wert zugeordnet werden kann. Als einzig möglicher Lebensinhalt wird bestenfalls der Erhalt der Rasse anerkannt.
Die daraus folgernde Vorstellung von der Sinnlosigkeit eines individuellen Lebens verhindert bereits im Ansatz jede Suche und jeden Zugang zu einem über das Materielle hinausgehenden Sinn des Lebens.