Yoga wird im westlichen Kulturkreis generell als ein System indischer Körperübungen angesehen, die den Menschen auf sanfte Weise in einen Zustand körperlichen und mentalen Gleichgewichts bringen sollen. Dieses Verständnis wird jedoch seiner Bedeutung im Umfeld des Hinduismus nicht gerecht.
Yoga bildet eines der sechs klassischen Systeme hinduistischer Philosophie. Seine Entwicklung wurde vor ca. 1500 Jahren abgeschlossen. Ein Element dieses Systems behandelt die korrekte Körperhaltung (asana) des Menschen in Vorbereitung und während der Meditation. Aus den Übungen, die diesem Element zugeordnet sind, entwickelte sich die westliche Vorstellung von Yoga.
Die Bedeutung, die das Tattvarthasutra dem Begriff yoga zuordnet, hat mit dem westlichen Verständnis und auch mit dem hindui-stischen Philosophiesystem Yoga nichts gemein. Das Tattvarthasutra definiert yoga als eigenständigen Begriff, dessen charakteristische Bedeutung bisher nur den Jains bekannt war.
Im Kontext des Tattvarthasutra bezeichnet yoga die Aktivitäten des Körpers, der Sprachorgane und des Geistes. Diese drei Aktivitätsarten stellen den Kontakt zwischen Bewußtsein und karmischer Materie her. yoga (wörtlich: 'das Verbinden zweier oder mehrerer Komponenten') ist daher die Hauptursache dafür, daß ein Lebewesen karmische Mechanismen aktiviert, aus denen eine Bindung an bestimmte Handlungsinhalte entstehen kann.
Selbst nach vollständiger Auflösung aller behindernder und wis-sen-verschleiernder Karmas bleibt Aktivität eine Eigenschaft des jiva (Bewußtseins). Ein jiva im Zustand der Befreiung (moksa) verliert daher nicht die Möglichkeit zu handeln, nur bindet er durch seine Aktivitäten kein Karma mehr an sich.