Chaksur achaksur avadhi kevalanam nidra nidranidra prachala prachalaprachala styana griddhayascha (7)
Karma, das Erkenntnis (darshana) behindert, äußert sich durch folgende neun Mechanismen:
- die Behinderung oder Blockade von Erkenntnis, die durch visuelle Wahrnehmung entsteht (chaksu),
- die Behinderung oder Blockade von Erkenntnis, die durch andere Sinnesorgane entsteht (achaksu),
- die Behinderung oder Blockade von Hellsicht (avadhi),
- die Behinderung oder Blockade von Allwissenheit (kevali jnana),
- Schlaf (nidra),
- Tief schlaf (nidranidra),
- Müdigkeit (prachala),
- schwere Schläfrigkeit (Schlaf in sitzender Stellung) (prachalaprachala),
- Schlafwandeln (styangriddhi). (7)
Unter darshana (Erkenntnis) versteht das Tattvarthasutra einen äußerst delikaten Prozeß, der noch vor Beginn des Wahrnehmungsvorgang stattfindet.
Wahrnehmung (avagraha) ist definiert als das erste bewußte Erkennen eines Objektes nach dem Kontakt mit den Sinnesorganen. Diesem Vorgang geht der Prozeß des darshana voraus. Darshana ist die Bewußtseinserfahrung, die in dem Augenblick entsteht, in dem die Sinne zum ersten Mal mit einem Objekt in Kontakt kommen, jedoch noch keine Beschreibung (auch keine undeutliche) der erfahrbaren Eigenschaften des Objektes liefern können.[9]
Karma, das Erkenntnis (darshana) hemmt, blockiert oder behindert daher nicht notwendigerweise den Wahrnehmungsvorgang selbst. Diese Art von Karma verhindert auf einer weit fundamentaleren Ebene, daß die eigentliche Basis für Erkenntnis überhaupt erst entstehen kann. Eine Blockade von Erkenntnis, die durch visuelle Wahrnehmung hervorgerufen wird (chaksu), muß sich daher nicht unbedingt durch einen körperlichen Defekt an den Augen oder dem dahinterliegenden Nervenapparat äußern.[10] Karma, das Erkenntnis hemmt, verhindert, daß eine 'Tendenz in Richtung auf ein Objekt' überhaupt erst entsteht. Das bedeutet, daß wir Dinge und Erfahrungen, die durchaus existieren, nicht wahrnehmen, weil unser Zugang zu diesen Objekten grundlegend durch karmische Mechanismen blockiert ist.
Dies erklärt auch, warum es nicht möglich ist, vollständige Erkenntnis beispielsweise allein durch die Erforschung unserer physischen Umgebung zu erlangen (wie es die Wissenschaft sei rund zweihundert Jahren versucht).
Die karmische Blockade bewirkt, daß wir nur zu Teilbereichen unserer Umgebung bewußten Zugang haben. Die Erforschung dessen, was uns bewußt zugänglich ist, kann daher auch nur mehr oder weniger genaue Details über diesen Teil unserer Umgebung liefern, niemals aber in Bereiche vordringen, die außerhalb dieses Rahmens liegen.
Die Wissenschaft erforscht also einen in sich geschlossenen Teilbereich der Realität. Sie kann über diesen Teilbereich nicht hinausgehen, da bei den Hauptvertretern dieser Denkrichtung der individuelle Zugang zu weiteren Teilen der Realität karmisch blockiert ist.[11]
Nun macht es wenig Sinn, Fähigkeiten und (subtile) Mechanismen, die dem Menschen potentiell zur Verfügung stehen, abzuleugnen, nur weil sie auf individueller Ebene nicht zugänglich sind. Da es nachvollziehbare Methoden[12] gibt, Erkenntnis über diese Fähigkeiten und Mechanismen zu erlangen, steht es jedem frei, eventuell vorhandene ideologische, wissenschaftliche oder religiöse Einschränkungen seiner Erkenntnisfähigkeit zu verlassen und die ihm zugängliche Welt durch den Abbau karmischer Blockaden[13] erheblich zu erweitern.
Wesentlich ist dabei, daß wir den Zugang zu Bereichen, die uns karmisch verschlossen sind, nur auf individueller Ebene und durch Auflösung karmischer Blockaden erhalten können, nicht aber durch eine genauere Erforschung der bereits bekannten Realität.
Die ersten vier Mechanismen, die im Sutra aufgeführt werden, beschreiben die Einschränkung oder vollständige Blockade von Fähigkeiten, die dem Menschen potentiell zur Verfügung stehen.
Die weiteren fünf Mechanismen sind eine Folge von Erschöpfung oder Ermüdung[14], die generell durch das Verfolgen fehlerhafter Konzepte, Irrtum etc. entstehen.
Diese fünf Mechanismen fallen in den höheren Entwicklungsstufen (gunasthana) nach und nach weg, wobei kurz vor Erreichen der dreizehnten Ebene keine der aufgeführten Varianten des Schlafes oder Erschöpfung und Ermüdung mehr auftreten. Vom Ende der zwölften Ebene an ist jede Aktivität derart in Harmonie mit der eigenen Entwicklung und in Übereinstimmung mit dem Sinn des Kosmos, daß dadurch mehr Energie generiert wird, als für eine Handlung aufgewandt wird.
Wir erhalten einen Einblick in diesen Mechanismus, wenn wir hochinspiriert an einem Projekt arbeiten, an dem unser Herz hängt. Obwohl wir uns dabei körperlich und geistig verausgaben mögen, versorgt uns unsere Inspiration weit über unsere normalen Grenzen hinaus mit Energie. Wieviel mehr Energie wird erst ein Mensch gewinnen, der der Befreiung von allem Karma nahe ist.
Auch in weniger fortgeschrittenen Entwicklungsstufen kann es vorkommen, daß Schlaf und Tiefschlaf die Erkenntnisfähigkeit des Menschen für kurze Zeit nicht mehr überdecken. Diese Art des 'wachen Schlafes' tritt normalerweise während der Nachtruhe auf und wird als vibrierendes Wachsein des Geistes erfahren, während der Körper sich in einem Zustand tiefer Ruhe befindet. Es ist eine angenehme Erfahrung, die anfangs oft als Schlaflosigkeit interpretiert wird, da das gewohnte Absinken in Traum oder Tiefschlaf und die damit verbundene Lösung des Bewußtseins vom physischen Körper nicht eintritt. Am nächsten Morgen ist der Körper jedoch vollständig ausgeruht, obwohl für die Dauer dieses Zustandes geistig 'kein Auge zugemacht' wurde.
Aufgrund dieser Merkmale läßt sich der Zustand des 'Wach-schlafes' leicht von Schlaflosigkeit unterscheiden. Schlaflosigkeit selbst bietet keinen temporären Einblick in höhere Bewußtseinsebenen, sondern geht auf eine fortgesetzte Überlastung des psychischen und physischen Wahrnehmungsapparates zurück, die ebenfalls durch das Verfolgen fehlerhafter Konzepte, Irrtum etc. hervorgerufen wird.
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Wissenschaft wird gerne als eine logisch unangreifbare Methodik idealisiert, die auf unbestechliche Weise nach objektiver Wahrheit forscht. Nur leider stimmt diese idealisierte Vorstellung nicht mit der Wirklichkeit überein. Die Methodik der Wissenschaft splittert den von ihr wahrgenommenen Teil der Realität in Fachrichtungen auf, nimmt sich innerhalb dieser Fachrichtungen einen Teilaspekt heraus, definiert Bedingungen, unter denen sie diesen Teilaspekt untersucht und erhält dann Aussagen darüber, wie sich das untersuchte Objekt in Bezug auf die beschränkte Fragestellung verhält. Alle Ereignisse, die aus dem Rahmen der aufgestellten Bedingungen herausfallen, werden ignoriert oder unterdrückt.
Die Auswahl, welche Aspekte unter welchen Bedingungen zu untersuchen sind, treffen die Hauptvertreter der entsprechenden Fachrichtungen. Damit wird aber klar, daß die Wissenschaft immer nur den Teil der Wirklichkeit untersuchen kann, der der (begrenzten) Wahrnehmung dieser Hauptvertreter zugänglich ist.
Selbstverständlich gibt es auch Versuche, die von der wissenschaftlichen Methodik aufgesplitterten Teilaspekte der Wirklichkeit wieder zu einem ganzheitlichen Konzept zusammenzusetzen. Diese Versuche werden jedoch wesentlich dadurch behindert, daß als (Bau-) Material nur die Ergebnisse einer tendenziösen und oft einseitigen Fragestellung zur Verfügung stehen. Alle Ereignisse, die über offiziell anerkannte Ergebnisse herausgehen, sind nach den Spielregeln der Wissenschaft ja nicht verwendbar. Und selbst wenn es gelingen sollte, ein einheitliches Modell zu entwickeln, das all die offiziell anerkannten Forschungsergebnisse zu einem Ganzen zusammenfügt, dann könnte dieses 'Ganze' doch immer nur den offiziell genehmigten Teilaspekt der Realität widerspiegeln, niemals aber die Gesamtheit der Realität.
Zweifelsohne sind unsere physischen Lebensumstände mit Hilfe systematischer Forschung komfortabler geworden, und dies erklärt auch die Popularität und das hohe Ansehen dieser Denkrichtung. Wenn die Wissenschaft jedoch Methoden und Aussagen auf Bereiche überträgt, die von ihr nicht einmal erfaßt werden, dann wird die Entwicklung dieser Bereiche dadurch eher behindert als gefördert. Als Instrument für die Entwicklung des vollen Potentials des Menschen ist das Konzept der wissenschaftlichen Methodik in seiner heutigen Erscheinungsform daher nicht geeignet.
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