Die Jains unterscheiden 14 Bewußtseinsebenen (gunasthanas), in denen sich die Menschen auf ihrem Weg zur Befreiung aufhalten. Jede der Ebenen ist charakterisiert durch die Art des sich darin manifestierenden Karmas (d.h. den potentiell möglichen Handlungsmustern und psychischen Ausrichtungen), durch die Dauer, die ein jiva sich darin aufhalten kann, durch die Richtung, in der er die Ebene durchschreitet und durch die Entwicklungsmöglichkeiten, die ihm diese Ebene bietet. Aufgrund dieser Merkmale unterscheiden sich die Ebenen auch deutlich in Lebensgefühl und Lebensinhalt.
Sinn dieser Klassifizierung ist in erster Linie die Bestimmung der augenblicklich aktiven Entwicklungsstufe für den an der eigenen Entwicklung interessierten Menschen. Durch Kenntnis der aktuellen Stufe und der darin wirkenden Mechanismen kann er sein Handeln viel effektiver auf die Karmaarten ausrichten, die Thema dieser Ebene sind. Dadurch können Anstrengungen vermieden werden, die erst auf höheren Ebenen zum Erfolg führen würden.
Die 14 Ebenen werden nicht sequentiell eine nach der anderen erreicht. Die Ebenen sind in eine Struktur eingefaßt, die das Überspringen von Stufen nicht nur zuläßt, sondern zwingend fordert.
Nur in wenigen Ebenen ist ein zeitlich unbegrenzter Aufenthalt möglich. In den meisten gunasthanas ist die Verweildauer auf einen minimal und maximal möglichen Zeitraum begrenzt. Die Struktur der Ebenen erhält dadurch eine grundlegende Dynamik, die letztendlich auf die Befreiung (moksa) ausgerichtet ist.
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Die erste Stufe (mithyaktva) ist der Zustand der Täuschung, des Irrtums und des Mißverstehens der Weltmechanismen. Alle Überzeugungen, Ansichten, Standpunkte, alle Konzepte und Glaubenssysteme, auf denen ein jiva in dieser Ebene sein Leben aufbaut - unabhängig davon, ob er sie von anderen übernommen hat oder nicht - halten ihn auf dieser Ebene fest. Selbst wenn ihm die wahren Mechanismen präsentiert oder gelehrt werden, kann er sie entweder nicht erkennen, oder hält sie für falsch. Wenn keine anderen Komponenten hinzukommen, die eine Möglichkeit (siehe Kapitel KONTAKT MIT KARMA, Kommentar zu Sutra 12) eröffnen aus diesem Zustand herauszufinden, kann er ewig andauern.
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Die zweite Ebene (sasadana) ist ein Zwischenstadium, das bei dem Fall von der dritten auf die erste Stufe durchschritten wird. Auf der zweiten Stufe treten Täuschung und Irrtum wieder dominant in den Vordergrund. Das klare Verständnis, das auf der dritten Stufe noch möglich war, ist bereits verloren, es existiert nur noch eine vage Erinnerung daran. Der Aufenthalt auf dieser Ebene ist nur für wenige Sekunden möglich.
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In der dritten Ebene (misra) sind klares Verständnis und Täuschung gleichzeitig in vermischter Form vorhanden. Der Aufenthalt auf dieser Ebene wird als ambivalenter Zustand erfahren, in dem weder der Wunsch besteht, sich von Täuschung und Irrtum zu trennen, um die vierte Ebene (avirata-samyaktva) wiederzuerlangen, noch die Tendenz, das klare Verständnis aufzugeben und in die vertraute erste Stufe der Täuschung zurückzufallen. Sobald diese Ambivalenz gestört wird, bzw. eine Neigung zur Täuschung oder zum klaren Verständnis hin auftritt, wird diese Ebene in Richtung auf das vierte (avirata-samyaktva) oder auf das zweite gunasthana (sasadana) verlassen.
Der Eintritt in die dritte Ebene ist nur von der vierten Stufe aus möglich. Der Aufenthalt in ihr ist auf maximal 48 Minuten begrenzt.
Die dritte Ebene hat enorme Bedeutung für das Erlangen des klaren Verständnisses der vierten Ebene. Hier findet ein wesentlicher Vorgang statt, der den Zugang von der ersten in die vierte Ebene stabilisiert.
Viele, die sich hauptsächlich in der ersten Ebene aufhalten, haben punktuelle Einblicke in die vierte Ebene. Dies ist üblicherweise eine extrem kurze, flüchtige Erfahrung, die oft wie ein kurzes 'Aufwachen' aus einem langen, hypnotisch tiefen 'Wachschlaf erscheint. Die Erfahrung wird normalerweise als sehr angenehm empfunden und ist fast immer von der Erinnerung an zuvor erlebte, ähnlich punktuelle Wachzustände begleitet. Das Erleben dieser kurzfristigen Einblicke in die vierte Ebene tritt bei vielen in regelmäßigen Intervallen (alle 3 bis 6 Wochen) und meistens zu Zeiten verhältnismäßiger Ruhe auf. [1]
Sobald diese Erfahrung verstanden und akzeptiert ist und sich die Aufmerksamkeit darauf richtet, wird sie lebendiger und intensiver. Die Erinnerung daran wird klarer und der Zustand der oben beschriebenen Ambivalenz der dritten Ebene - das gleichgewichtige Wahrnehmen von klarem Verständnis und Täuschung - tritt auf.
Wenn dann zu diesem Zeitpunkt eine bewußte Anstrengung unternommen wird, um das klare Verständnis der vierten Ebene wiederzuerlangen, baut sich eine motivierende Kraft in diese Richtung auf, die in der endgültigen Konsequenz den Wechsel des Bewußtseins von der ersten in die vierte Stufe bewirken wird, - unabhängig davon, ob die Anstrengung im Einzelfall zum Erfolg führt oder nicht.
Die Tatsache, daß der Aufenthalt in der dritten Ebene nur für kurze Zeit möglich ist, sollte nicht zu einer Unterbewertung dieser Ebene führen. Sie ist ein wesentliches Instrument auf dem Weg zum Erlangen umfassenderer Existenzzustände.
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In der vierten Ebene (avirata-samyaktva) besitzt der jiva ein klares, intuitives und wahres Verständnis (samyaktva) der Weltmechanismen. Er ist der stärksten Form der Leidenschaften nicht mehr unterworfen, kann aber noch unter den Einfluß der drei schwächeren Leidenschaftsformen fallen. Er unternimmt einige Anstrengungen, um größere Selbstbeherrschung zu erreichen, ist dabei aber nicht so erfolgreich, daß er damit das fünfte gunasthana (desavirata) erreicht.
Ein jiva auf der vierten Stufe ist immer noch Zweifel und der Anhaftung und Ablehnung materieller Objekte unterworfen und kann auch das klare Verständnis dieser Ebene wieder verlieren. Falls dies eintritt, fällt er auf die dritte Ebene (misra - Vermischung von Wahrheit und Täuschung) herab, von der er entweder wieder auf die vierte Ebene aufsteigt, oder über den Zwischenschritt der zweiten Stufe die erste Ebene der vollständigen Täuschung wieder erreicht.
Das vierte gunasthana wird von der ersten Stufe aus direkt - d.h. ohne Zwischenschritte - erreicht. Der Aufenthalt auf dieser Ebene kann ewig andauern.
Ein Aufsteigen in die fünfte Stufe (desavirata) ist nur durch das Praktizieren der fünf Freiheiten möglich, da dadurch die bestehende karmische Statik der vierten Stufe aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Im Gegensatz zu der weitverbreiteten Ansicht genügt die rein formale Zusage zum Praktizieren der fünf Freiheiten nicht für den Übergang in die fünfte Ebene. Um die Statik der vierten Ebene in die Dynamik der weiteren Entwicklungsstufen zu wandeln, muß ein ernsthaftes Verlangen nach weiterer Entwicklung vorhanden sein.
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Mit dem Aufstieg in die fünfte Ebene (desavirata) wird ein fast unumkehrbarer Ablauf in Gang gesetzt, der den jiva auf seinem Weg zur Befreiung vorantreibt. Auf dieser Ebene werden die fünf Freiheiten zwar nur partiell und noch unvollkommen praktiziert, doch erhält der jiva bereits einen Einblick in die Möglichkeiten, die ihm diese Praxis eröffnet. Er erlebt tiefere Ebenen der Zuneigung, ein tieferes Verständnis der Wahrheit und ihm wird bewußt, daß sein Weg mehr und mehr unterstützt wird. Er erfährt innere Gelassenheit, wie sie nur aus wahrer Unabhängigkeit von inneren Zwängen und Begrenzungen entstehen kann und erlebt einen nie zuvor gekannten Grad an Freiheit, der sich aus dem Wegfall materieller Sorgen ergibt.
Auch auf der fünften Ebene wird das Bewußtsein zeitweise noch von intensiven karmischen Manifestationen überschattet, die Handlungsabläufe und Stimmungen zwanghaft beeinflussen. Da der jiva sein Handeln während dieser intensiven karmischen Manifestationen kaum bewußt steuern kann, ist das perfekte, ständige Praktizieren der fünf Freiheiten noch nicht möglich. Aus diesem Grund werden die fünf Freiheiten auf dieser Ebene auch als die fünf * geringeren* Freiheiten bezeichnet.
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In der sechsten Ebene (pramatta virata) löst der jiva seine Bindung an die materielle Welt bewußt auf. Er versteht, daß emotionales Verhaftetsein mit Materie die inhärenten Eigenschaften seines Bewußtseins blockiert und konzentriert sich daher vollständig auf den Weg zur Befreiung. Zwar wird er auch auf dieser Ebene von karmischen Manifestationen überschattet, die das perfekte Praktizieren der fünf Freiheiten zeitweise behindern, da sich diese Behinderungen jedoch nur noch als Unkonzentriertheit oder Abge-lenktheit äußern, erfährt er in zunehmendem Maße die Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Klarheit, die die Ausübung der fünf Freiheiten hervorruft. Von dieser Ebene an werden die fünf Freiheiten daher die fünf ‘großen‘ Freiheiten genannt.
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In der siebenten Ebene (apramatta virata) ist die Verankerung des jiva auf seinem spirituellen Weg vollständig. Karmische Manifestationen können sein Bewußtsein nicht mehr überschatten und auch das Praktizieren der fünf großen Freiheiten nicht mehr stören.Von dieser Ebene aus bieten sich zwei Möglichkeiten des Aufstiegs:
- Die Unterdrückung von Karma. Bei diesem Weg tritt der größte Teil des restlichen Karmas in den inaktiven, latenten Zustand. Dadurch kann der Charakter der höheren Ebenen erfahren werden. Dieser Weg führt über die Ebenen 8, 9 und 10 zu Ebene 11, von der der jiva jedoch wieder auf die siebente Ebene herabfällt. Ein Aufsteigen über die Ebene 11 hinaus ist wegen des noch vorhandenen latenten Karmas nicht möglich.
- Die Auflösung von Karma. Auf diesem Weg wird das restliche Karma grundlegend zerstört. Er führt unter Aussparung der Ebene 11 über die Ebenen 8, 9, 10, 12, 13 zu Ebene 14 und danach zur Befreiung. Dieser Weg ist der einzige, der zur Befreiung führt.
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In der achten Ebene {apurva karana) eröffnen sich dem jiva völlig neue, ihm bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Fähigkeiten. Sein Bewußtsein erkundet Existenzbereiche, die er nie zuvor betreten hat. Zwar treten noch milde Formen der Leidenschaften auf, doch bereitet es dem jiva immense Freude, diese Karmas aufzulösen oder in einen inaktiven Zustand zu überführen. Von dieser Ebene an ist die höchste Stufe der Meditation {shukla dhyana) möglich, die letztendlich den Schlüssel zur Befreiung darstellt.
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In der neunten Ebene (anivritta karana) wird eine Verfeinerung der Aktivitäten der achten Ebene erfahren. Die letzte subtile Anhaftung an frühere Erlebnisse oder Besitztümer löst sich auf. Der jiva konzentriert sich von nun an ausschließlich auf das Erreichen seiner Befreiung.
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In der zehnten Ebene (suksma samparaya) erwirbt der jiva die Fähigkeit, auch die subtilste Form von Gier aufzulösen oder in einen latenten Zustand zu überführen.
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Die elfte Ebene (upa shanta moha) wird nur von den jivas erreicht, die noch latentes Karma besitzen. Auf dieser Ebene erfährt der jiva eine spezielle subtile Bewußtseinsaktivität, die durch die Inaktivität des restlichen Täuschungskarmas möglich wird.
Von der elften Ebene fällt der jiva wieder auf die siebente Ebene zurück. Wenn er genug innere Stärke besitzt, kann er von dort wieder aufsteigen, jivas, die auf der siebenten Ebene den Weg der vollständigen Auflösung ihres Karmas gewählt haben, überspringen die elfte Ebene und gehen direkt von der 10. in die 12. Ebene.
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Die zwölfte Ebene (kshina moha) kann nur von der 10. Ebene aus erreicht werden. Auf Ebene 12 werden alle Karmas aufgelöst, die noch Täuschung verursacht hatten. Dadurch fallen automatisch auch die restlichen Karmas weg, die noch Wissen und Intuition blockierten und Behinderungen im Leben auslösten. Kurz vor Erreichen der dreizehnten Ebene enden auch Schlaf und Müdigkeit. Das Bewußtsein des jiva erreicht nie gekannte Klarheit. Der jiva ist jetzt nicht mehr Spielball karmischer Kräfte, sondern perfekter Meister seines Lebens, seine Befreiung ist sichergestellt.
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Auf der dreizehnten Ebene (sayoga kevali) erreicht jiva den Zustand der Allwissenheit {kevali). Sein Bewußtsein umfaßt nun die Gesamtheit allen Wissens. So er spezielles Tirthankara-Karma gebunden hat, gibt er von diesem Zustand aus sein Wissen um den Weg zur Befreiung weiter. yoga - Aktivität - ist der einzige Einfluß, dem er noch unterworfen ist, doch auch diese letzte Bindung löst er bei seinem Aufstieg in die 14. Ebene auf.
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Die vierzehnte Ebene (ayoga kevali) ist die Stufe unmittelbar vor der Befreiung. Hier werden die letzten noch verbliebenen aktiven Karmas eliminiert. Der jiva befreit sich von Status, Empfindungen, Körper und begrenzter Lebensdauer und löst damit alle Bindung an die unbelebten Elemente (ajiva dravyas) auf. Von allen Fesseln befreit verläßt er diese Existenzebene. Er geht als erleuchtetes Wesen (siddha) in reines, uneingeschränktes Bewußtsein über und erfährt dessen ureigene Natur: unbegrenzte Erkenntnis, unbegrenztes Wissen, unbegrenzte Wahrnehmung und unendliche Seligkeit.
Die Eigenschaften, Mechanismen und innere Dynamik der gunasthanas sind weit komplexer, als sie an dieser Stelle dargestellt werden können. Für ein tiefergehendes Verständnis wird die Lektüre des Gommatasara - Jiva Kanda empfohlen.
Ein Wort zur Klassifizierung der eigenen, augenblicklich aktiven Entwicklungsstufe:
Wir können davon ausgehen, daß fast alle Menschen, die diese Zeilen zum ersten Mal lesen, sich den größten Teil ihrer Zeit auf der ersten Ebene (mithyaktva) aufhalten. Die reine Beschäftigung mit dem vorliegenden Thema zeigt jedoch, daß sich die Möglichkeit bereits eröffnet hat, aus diesem Zustand umfassender Täuschung herauszufinden. Die realistische Einschätzung der eigenen Position - ohne Selbsttäuschung - ist eine der wichtigsten Vorbedingungen für den erfolgreichen Weg in andere (interessantere) Bewußtseinsbereiche
Da der westliche Kulturkreis diese Zustände nicht erklären kann und sie auch nur extrem flüchtig sind, wird die Erfahrung nach kurzfristiger Irritation fast immer zu den vielen anderen, ungeklärten Erfahrungen getan, die das Leben der Menschen begleiten, und die er üblicherweise ebenfalls ignoriert.