Kevali shruta sangha dharma deva varnavado darshanamohasya (13)
Zweifel an (und eine böswillig negative Haltung gegenüber)- den Allwissenden (kevali),
- den Schriften (shruti),
- der Gemeinschaft der Asketen (sangha),
- dem Weg zur Befreiung (dharma) und
- den Eigenschaften der Bewohner höherer Welten [23] (deva)
verursachen in dem derart handelnden jiva das Einfließen von Karma, das das Entstehen nichtirrenden intuitiven Verstehens (samyag darshana) behindert. (13)
Die Allwissenden (kevali)
sind frei von allem Karma, das Wissen verschleiert. Sie haben perfektes, allumfassendes Wissen.
Die Schriften (shruti)
sind die von den Schülern der Allwissenden verfaßten Werke. Sie haben ihren unmittelbaren Ursprung in den Lehren der Allwissenden.
Die Gemeinschaft der Asketen (sangha)
umfaßt all die, die auf ihrem Weg zur Befreiung den Lehren der Allwissenden (kevali) folgen.
Der Weg zur Befreiung
wurde von den Allwissenden aufgrund ihrer eigenen Erfahrung beschrieben. Er umfaßt nichtirrendes intuitives Verstehen (samyag darshana), wahres Wissen (samyag jnana) und richtiges Handeln (samyag charitra), d.h. Handeln, das auf wahrem Wissen und nichtirrendem intuitiven Verstehen beruht.
Die Bewohner höherer Welten (deva)
sind Lebewesen (jivas), die aufgrund der Manifestation ihres eigenen positiven Karmas in höheren Existenzebenen leben.
Die ersten vier Komponenten des Sutratextes beschreiben den Ursprung des Wissens um den Weg zur Befreiung und die Weitergabe dieses Wissens. Dabei durchdringt die Manifestation reinen Wissens von seinem Ursprung (den Allwissenden) ausgehend alle Erscheinungsformen (Schriften etc.), die aus diesen Lehren entstanden.
Zweifel an der Integrität des Ursprungs und der Manifestation dieses Wissens (der sich als böswillig negative Haltung diesem gegenüber ausdruckt) blockiert die Dynamik und Energie, mit der ein jiva auf seinem Weg voranschreitet, so wie jeder Zweifel an dem Sinn einer Handlung deren Gelingen in Frage stellt.
Einwand: Was ist, wenn das Wissen der Allwissenden von den nachfolgenden Schülern (d.h. den Mitgliedern der Bruderschaft von Asketen sangha) nicht korrekt weitergegeben wird? Da nur die Allwissenden perfektes Wissen haben, liegt es doch in der menschlichen Natur, daß eine fehlerlose Weitergabe nicht möglich ist. Ist es in diesem Fall nicht angebracht oder sogar notwendig, an inkorrekt übermitteltem Wissen und auch an den Asketen, die dieses inkorrekte Wissen weitergeben, Zweifel zu haben?
Antwort der Jains: Alle, die diesen Weg gegangen sind oder gehen, bestätigen, daß die Wegbeschreibung der Allwissenden korrekt ist und die geschilderten Wahrnehmungen und Erfahrungen eintreten.
Es existiert ein Mechanismus, der das von den Allwissenden niedergelegte Wissen in seiner ursprünglichen Reinheit erhält: Auf seinem Weg zur Befreiung vergleicht der jiva intuitiv alles empfangene Wissen mit dem in ihm latent vorhandenen, perfekten Wissen. Dabei werden inkorrekte Informationen automatisch korrigiert oder eliminiert [24]. Je weiter ein jiva auf seinem Weg fortgeschritten ist, desto deutlicher wird der Abgleich. Erfahren wird dieser Vorgang als plötzliches, klares und intuitives Verständnis von Zusammenhängen und Sachverhalten, das Unklarheiten beseitigt und eines Beweises durch andere Komponenten nicht mehr bedarf (pramana).
Der innere Abgleich der empfangenen Informationen mit inhārentem Wissen ist auch einer der Gründe, weshalb die Lehren der Allwissenden seit Jahrtausenden unverändert blieben: sie entsprachen den Erfahrungen derer, die diesen Weg gehen für Korrekturen bestand keine Notwendigkeit.
Darüber hinaus sind die Allwissenden und die von ihnen ausgehende Verbreitung ihres Wissens schon ihrer Definition nach rein. Was immer aufgrund menschlicher Natur oder aus anderen Ursachen von diesem korrekten Wissen abweicht, deckt sich nicht mehr mit der Definition.
Wir können daher davon ausgehen, daß das ursprüngliche Wissen und auch die Kanäle der Weitergabe von ihrer Unmittelbarkeit nichts eingebüßt haben. Die Ursache von Unsicherheit und Zweifel sollte daher eher im eigenen unvollkommenen Verständnis gesucht werden, als in den Allwissenden, ihrer Lehre und den Kanälen ihrer Weitergabe. Grundlegender Zweifel, der sich in einer böswillig negativen Haltung der Integrität dieser Komponenten gegenüber āußert, verhindert die Öffnung umfassenderer Verständnisebenen, auf denen sich Fragen intuitiv klären konnten. Er verursacht die Bindung an Karma, das ebendiesen Mechanismus nichtirrendes intuitives Verstehen blockiert oder verschleiert.
Zweifel an Wissen, das fehlerhaft ist, oder inkorrekt übermittelt wurde, ist selbstverständlich angebracht [25]. Dies hat jedoch nichts mit dem im Sutra gemeinten Zweifel an den Allwissenden, ihrer Lehre und den Kanälen ihrer Weitergabe zu tun.
Auch ernsthafte Fragen an diesem Wissen müssen grundlegend geklärt und beantwortet werden. Der Weg zur eigenen Befreiung lāßt sich nur dann erfolgreich beschreiten, wenn sämtliche Fragen und Einwände grundlegend ausgeräumt sind. Der Glaube an ein wie auch immer geartetes Dogma ist dabei weder vorausgesetzt, noch erwünscht, noch förderlich. Wenn sich Einwände und Zweifel jedoch in einer böswillig negativ emotionalen Haltung dem Wissen etc. gegenüber äußern, dann fällt diese Negativität durch das Einfließen von Karma, das den Verständnismechanismus blockiert, wieder auf den derart Handelnden zurück. Das Karma manifestiert dabei nur die innere Ablehnung dieses jivas dem Wissen gegenüber.
Eine böswillig negative Haltung den Bewohnern höherer Welten gegenüber führt ebenfalls zu der Bindung von Karma, das nichtirrendes intuitives Verstehen blockiert oder einschränkt. Die Fehleinschätzung der Eigenschaften der devas kann sich beispielsweise darin äußern, daß diesen Fleisch und Wein als Opfer angeboten werden, selbst wenn dies nur symbolisch geschieht.
Die Jains unterscheiden vier Klassen von Lebewesen:
- - devas - Wesen, die sich in himmlischen Bereichen aufhalten;
- - narakas - Wesen, die sich in höllischen Bereichen aufhalten;
- - Menschen
- - Tiere und Pflanzen.
Für den im westlichen Kulturkreis aufgewachsenen Menschen mag diese Unterteilung - und besonders die ersten beiden Klassen - ungewohnt sein und schnell dem Bereich religiöser Fabel oder einer eher einfāltigen höheren Instanz von Belohnung und Bestrafung zugeordnet werden.
Diese Art der mystischen Zuordnung meinen die Jains jedoch nicht. Es handelt sich hier um eine umfassende Klassifizierung von Lebensformen, die im zweiten bis vierten Kapitel des Tattvarthasutra detalliert beschrieben werden.
Die westliche Wissenschaft - die unsere Lebensmodelle zum wesentlichen Teil prägt - beschäftigt sich nicht mit diesen Bereichen und kann daher auch nichts ũber sie aussagen.
Es sei jedoch davor gewarnt, als Reaktion auf ungewohntes und u.U. unbequemes Wissen vorschnell den Schluß zu Ziehen, daß der Fehler im Wissen begründet liegt und nicht in der eigenen begrenzten Verständnisbereitschaft. Das Merkmal der Wissenschaft, Erkenntnisse, die als unerschütterlich galten, in immer kürzeren Zeitabständen für ungültig zu erklären, hat zu der weitverbreiteten Tendenz geführt, alles Neue erst einmal mißtrauisch zu betrachten und grundlegend zu hinterfragen. Während diese Haltung westlichem Wissen gegenüber schon aufgrund dessen flüchtiger Natur durchaus angebracht sein kann, ist sie bei dem Versuch, die auf den ersten Blick komplexen und ungewohnten Mechanismen des Weges zur Befreiung verstehen zu wollen, eher hinderlich. Echtes, d.h. integriertes und intuitiv anwendbares Wissen entspringt immer einem dynamischen Verstehen, bei dem der Geist auf einer zu-vor unbekannten Ebene plötzlich eine intuitive Neuordnung von Gedanken und Empfindungen erfährt. Ein ständiges Hinterfragen der derart erhaltenen Erkenntnisse unterbricht oder verlangsamt diesen Vorgang. Eine positive oder zumindest neutrale Haltung diesem Mechanismus gegenüber dagegen fordert die Entfaltung neuer Verständnisebenen, wie sie für das aktive Finden des eigenen Weges zur Befreiung unbedingt notwendig sind.