Bei der Betrachtung des Jainismus faszinieren zunächst einmal zwei Faktoren: zum einen gehört er zur ältesten religiösen Schicht Indiens, deren Wurzeln mindestens bis zum Anfang des 1. Jahrtausends vor Christus zurückreichen, vielleicht noch darüber hinaus. Die Konkurrenzreligionen Hinduismus und Buddhismus haben sich im Laufe der Zeit viel stärker weiterentwickelt und teilweise bis zur Unkenntlichkeit verändert; der Jainismus dagegen präsentiert sich in den grundlegenden Aussagen seit dem 6. vorchristlichen Jahrhundert nahezu unverändert und stellt damit eine der ältesten noch existierenden Religionen der Menschheit dar. Im Jainismus kann man ältestes religiöses Empfinden der Inder besonders unmittelbar und ungefiltert wahrnehmen.
Zum anderen aber ist diese Religion, obgleich unter ähnlichen geographischen und zeitlichen Umständen gewachsen wie der Buddhismus, immer die Angelegenheit einer relativ kleinen Minderheit geblieben. Ihr elitärer Anspruch an den Einzelnen, ihre schwer zugänglichen Abstraktionen und ihr exklusives Beharren auf ihren Überlieferungen, das Veränderungen nahezu unmöglich machte, erschwerte den breiten Massen den Zugang; so blieb ihr die Ausweitung zur Volks- oder Weltreligion verwehrt. Im Gegensatz zu dieser verhältnismäßig kleinen Anhängerschaft steht die Vielzahl prächtigster Tempel und Kultstätten in großen Teilen des Landes, die nur aufgrund eines beträchtlichen Wohlstands und einer fast fanatischen Stiftungstätigkeit ermöglicht wurde.
Dharma Vihara Tempel, Ranakpur
Westfassade des Adinatha geweihten, auch Dharna Vihara genannten Jain-Tempels von Ranakpur von 1439, mit der imposanten, zum Haupeingang führenden Treppenflucht und den sich über den zahlreichen Nebenschreinen (devakulikas) erhebenden Türmchen mit ihren Jain-typischen rotweißen Fahnen und Glöckchen.