Jainismus und die Tempel von Mount Abu und Ranakpur: Der Vimala Vasahi oder Vimala Sah-Tempel

Veröffentlicht: 27.11.2012
Aktualisiert: 02.07.2015

Anfang des 2. Jahrtausends regierte an der Westküste Nordindiens die Dynastie der Solanki von Gujarat, denen die Paramaras von Mount Abu tributpflichtig waren. Einer der Solanki-Minister, Vimala Sah, Untergebener des Königs Bhimdeo (oder Bhima Deva) wurde zur Befriedung eines aufständischen Fürstentums gegen die Stadt Chandravati entsandt; anschließend befragte er einen Jaina-Mönch, wie er für das Blutvergießen Sühne tun könne. Dieser belehrte ihn, dass mutwillige Tötung nicht sühnbar sei, dass er aber mit einer Stiftung auf dem Abu eine gute Tat vollbringen könne.

Der Legende nach wollten die Brahmanen das Gelände, auf dem sich heute der Vimala Vasahi erhebt, nicht hergeben. Da erschien dem Minister im Traum seine Hausgöttin Ambika und bezeichnete ihm eine Stelle, an der eine uralte Adinatha-Statue vergraben lag. Diese wies er den Brahmanen zum Beweis vor, dass die Stätte seit ältester Zeit auch mit den Jainas verbunden war. Dennoch ließen sich die Hindus das Areal mit einem geradezu phantastischen Preis bezahlen: Vimala Sah musste die 1204 Quadratmeter mit Goldstücken auslegen, was vermutlich 46 Millionen Rupees gekostet hat.

Der Vimala Sah Tempel wurde 1031 begonnen; verantwortlich zeichnete eine Bauhütte aus Badnagar in Gujarat, deren Architekt Kirthidar mit 1200 Arbeitern und 1500 Steinmetzen in 14 Jahren das Wunderwerk vollendete. Den Marmor brachte man von den Arasoor-Hügeln bei Ambaji auf Elefantenrücken herbei, über eine Entfernung von ca. 30-40 km. Insgesamt soll der Tempel über 180 Millionen Rupees an Baukosten verschlungen haben, allerdings einschließlich der Kaufsumme für das Gelände.

Grundriß Vimala Vashi Temple

http://de.herenow4u.net/fileadmin/cms/Buecher/Jainismus-Tempel_von_Mount_Abu_und_Ranakpur/34_-_Plan2.jpgDer an sich kleine Tempel von 33x14 Metern Grundfläche erhebt sich inmitten eines Hofes, umgeben von einer doppelten Säulenstellung und einem Kranz aus devakulikas (kleinen Nebenschreinen). Die blendende Lichtfülle, die den Besucher beim Eintreten so überwältigt, rührt vom hellen Marmor und der Lichtwirkung durch den Hof her. Im Gegensatz zur Hindu-Architektur verschwinden die Jaina-Heiligtümer nie im mystischen Halbdunkel, da die Klarheit des Geistes und der Erkenntnis hervorgehoben werden soll.

Zum eigentlichen Haupttempel inmitten des Hofes steigt man über Treppenstufen hinab, wobei das Gefühl entsteht, in eine kristalline Welt hinabzutauchen. Dem Allerheiligsten im Westen (Nr. 1 im Plan), das wie bei den Hindus garbha-griha (Mutterschoss) genannt wird, sind drei Raumeinheiten vorgelagert: eine Art Vestibül, das sogenannte gudha-mandapa (Nr. 2 im Plan), einen Portikus, die man navchoki (Halle mit neun Unterteilungen; Nr. 3 im Plan) nennt und die große Tanzhalle ranga-mandapa oder sabha-mandapa (Nr. 4 im Plan). Das gudha-mandapa entwickelt weit vorspringende Portale zu den Seiten, so dass im Grundriss ein lateinisches Kreuz entsteht. Lediglich garbha-griha, gudha-mandapa und navchoki stammen aus der Zeit des Vimala Sah, alles übrige ist das Ergebnis der Bautätigkeit vieler Epochen. Wahrscheinlich zerstörte Ala-uddin-Khilji, der Sultan von Delhi, bei seiner Invasion 1311 den Tempel und nur diese drei Gebäudeteile der Ursprungszeit blieben erhalten. Das könnte auch die Erklärung dafür sein, dass die Anlage im Gegensatz zu anderen bekannten Solanki-Gebäuden außen völlig unverziert ist. Man hat auf eine Wiederherstellung des ursprünglich sicherlich prunkvollen Außenbaus bewusst verzichtet.

Ein Großteil des Vimala Sah-Tempels gehört dem 12. Jahrhundert an. Diesmal war der Stifter ein Minister Prithvi Pal, der dem berühmten Jaina-König Kumarapala diente und der zwischen 1147 und 1149 die meisten Bauteile hinzufügte. Er errichtete das ranga-mandapa (Nr. 4 im Plan) und, offenbar aus Pietät gegenüber seinem berühmten Vorläufer, vor dem Eingang den Elefantenpavillon (Nr. 5 im Plan), der Abbilder Vimala Sahs und seiner Familie enthielt, außerdem einen hohen samavasarana (Predigtplatz eines Tirthankara).Die muslimischen Eroberer haben wahrscheinlich die ursprünglichen Statuen zerschlagen, so dass man heute nur noch eine unbedeutende Gipsstatue des ersten Bauherrn sehen kann.

Das Ranga-Mandapa

Der Tanzpavillon, entstanden 1147-49, stellt sicherlich den Höhepunkt der Anlage dar. Da der Raum innen stützenfrei bleiben sollte, kam ein großes Gewicht, etwa ein Shikhara-Turm darüber, nicht in Frage und man deckte ihn mit einer weiten Kragkuppel ab, mit 6,60 Meter Durchmesser die größte erhaltene Konstruktion der Solanki-Zeit. Bis heute wissen wir nicht, wie diese statisch hält, da der Tempel nie bautechnisch untersucht werden konnte. Wahrscheinlich verläuft innerhalb jeder der insgesamt elf Steinringe der Kuppel ein Ringanker, der den Horizontalschub aufnimmt.

Von drei Seiten ist das ranga-mandapa frei zugänglich, was zur strahlenden Helligkeit entsprechend beiträgt. Seine acht Säulen in Form eines Oktogons sind überreich mit floralen, geometrischen und figuralen Motiven verziert und werden untereinander durch mäanderartig geschwungene und delikat geschnitzte Bögen verbunden.

Die gesamte Architektur vermittelt den Eindruck einer kostbaren Elfenbeinschnitzerei, bei der keine geschlossenen Flächen stehen geblieben sind, sondern alles in ein Spiel von Licht und Schatten aufgelöst wurde. Teilweise hat man offenbar in Schabtechnik gearbeitet, so dass die Steinmetze nach Menge des anfallenden Marmorstaubs bezahlt werden mussten. Interessanterweise verlaufen Architrave zu den umgebenden Hallen, vielleicht weil man glaubte, so einen Teil des Schubes ableiten zu können.

Mount Abu 36a
Kuppel des Ranga-Mandapa im Vimala Vasahi Tempel

Schwerelos scheint im Inneren die Kuppel über dem Betrachter zu schweben. In ihrer Mitte hängt ein Pendentif in Form einer Lotusblüte (padmashila) herab, die noch nicht die ausladende Form der späteren Zeit zeigt und im Verhältnis zur Kuppel zu klein wirkt. Deshalb hat man sie zum Ausgleich mit einem Kranz tief herabhängender, zapfenförmiger Ornamente umgeben. Der Lotus, ewig wiederholt in den Decken von Mount Abu und Ranakpur, stellt dabei sowohl mikrokosmisch die Erleuchtung des Einzelnen dar als auch makrokosmisch das All als Ganzes. Die unteren Steinringe wurden alternierend mit endlosen Reihen von Ornamenten sowie kleinen Tier- und Menschendarstellungen verziert, darunter Begebenheiten aus den Jaina Mythen, den unvermeidlichen Tänzerinnen und Elefantenprozessionen. Wie ein Strahlenkranz umgeben 16 sogenannte Wissensgöttinnen (vidya devis) auf Konsolen das Mittelmotiv und deuten an, dass Erleuchtung nur durch die konkret erreichte Kenntnis des Einzelnen erreicht werden kann. Die Figuren sind tief unterschnitten und heben sich dadurch plastisch deutlich ab, wirken jedoch durch ihre Zartgliedrigkeit wie zerbrechlich. Vom ranga-mandapa aus erreicht man nach Westen das navchoki, eine quergelegte Zwischenhalle mit acht Säulen, deren Mittelteil ebenfalls durch eine kleine Kuppel erhöht wurde. Auch hier ist der plastische Schmuck überwältigend. Im navchoki steht eine silberne Pagode, die genau wie das steinerne Beispiel im Elefantenpavillon samavasarana symbolisiert, die himmlische Predigthalle des Tirthankara nach seiner Erleuchtung. An Festtagen stellt man eine kleine Statuette des Furtbereiters hinein, Gläubige versammeln sich im Mandapa und singen Hymnen, so dass diese erste Unterweisung des Großen Lehrers damit zur aktualisierten Wirklichkeit wird.

Das Sanktuarium

Der Weg des Touristen endet an dieser Stelle, aber er kann von hier aus durch das gudha-mandapa hindurch auf das Allerheiligste und die helle Statue des ersten. Tirthankaras schauen. Der Eingang zur Cella wird durch zwei stehende Parshva-Statuen und Reliefs von Mönchen und Nonnen flankiert. Das Bildnis des Adinatha oder Rishabhanatha wirkt bewusst unmenschlich; Tirthankaras werden gern in Alabaster geformt oder zumindest in hellem Stein, um die Geistigkeit eines Körpers anzudeuten, der von allen irdischen Schlacken gereinigt wurde und nicht mehr von dieser Welt ist. Die Augen starren in eine jenseitige, transzendente Sphäre. Selbst der Duft und der Atem weisen keine Ähnlichkeit zum Menschen mehr auf.

Damit wird das garbha-griha zum Paradies, zum steingewordenen Predigtort auf Erden. Im Gegensatz zum Hindu-Tempel, der als Heimstatt des Gottes angesehen wird, kann der Gläubige zwar den Tirthankara nicht mehr anrufen, aber er kann in ihm das erblicken, was er selbst werden möchte; durch die Verehrung des Erlösten wird auch seine Seele etwas mehr von der Schwere der Materie befreit.

Der Umgang

Auf einer erhöhten Plattform sind 52 devakulikas (Nebenschreine) um den Kernbau herum angeordnet, jede mit der Statue eines Furtbereiters, teilweise aus sehr viel späterer Zeit. Diese Heilige Zahl symbolisiert bei den Jainas die vier ewigen Tirthankaras, dazu die 24 des vergangenen und des gegenwärtigen Zeitalters. Außerdem hat man einige vergrößerte Zellen im Südwesten angefügt. Eine von ihnen (Nr. 7 im Plan) enthält die riesige schwarze Skulptur eines Adinatha, deren Auffindung letztendlich den Ausschlag gegeben hatte, Vimala Sah das Baugelände zu überlassen. Dem Stifter war seine Hausgöttin Ambika im Traum erschienen, um ihm den versteckten Ort der Statue anzuzeigen, deren Existenz das Vorhandensein eines uralten Jaina-Heiligtums am Ort beweisen sollte. Eine Statue dieser Göttin wird im Schrein daneben verehrt (Nr. 8 im Plan).

Mount Abu 36b

An drei Seiten sind den devakulikas je zwei Säulenhallen vorgelagert, lediglich im Westen hat man sich mit einer Kolonnade begnügt. Es würde zu weit führen, auch nur annähernd eine Beschreibung der unendlich vielen ornamentalen und figürlichen Verzierungen zu versuchen, die auch hier alle Architekturglieder überziehen. Aber auf einige untypische Deckenreliefs sei doch gesondert hingewiesen, vor allem in den Fällen, in denen sich die besondere Verknüpfung der Jainas mit populären Hindu-Gottheiten zeigen lässt.

Besonders vollplastisch und weiblich gerundet wird die Göttin Chakrasuri dargestellt (Nr. 5 im Plan), eine esoterische Gemahlin Vishnus, deren sechs Arme

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Vereinfachter Grundriß: Vimala Sah Tempel

Symbole tragen, die sich auch mit Jaina-Vorstellungen verbinden lassen. So verkörpert der Bogen das Ego und die Pfeile die Sinne, die den Menschen an die materielle Welt binden; der Diskus meint in seiner Rundheit den Geist, das Szepter die Macht des Wissens, der Donnerkeil spirituelle Kraft und mit der Schlinge fängt Chakrasuri den ruhelosen Geist der Gläubigen ein.

In der Nordwestecke (Nr. 9 im Plan) hat Krishna die Schlange Kaliya überwunden, gegen die er um seinen goldenen Ball kämpfen musste, der in die Yamuna gefallen war. Der junge Gott ist hier als Überwinder der Kräfte der Finsternis dargestellt, da der Ball die Sonne und ihr morgendliches Wiederaufgehen verkörpert.

Natürlich dürfen Schutzgötter nicht fehlen, die den Menschen vor ihm unheimlichen Gefahren bewahren sollen. In einer Decke (Nr. 12 im Plan) wird Shitala, die Pockengöttin, wiedergegeben.

Wissensgöttinnen werden bei den Jainas, wie wir im ranga-mandapa gesehen haben, oft in einer Gruppe von 16 dargestellt und häufig mit Tanzposen und Musikinstrumenten verbunden. Daneben verehrt man die Gemahlin Brahmas, Sarasvati (Nr. 13 im Plan), die auf einem Schwan als Reittier sitzt und immer mit der vina in der Hand erscheint.

 

Quellen

Englische Ausgabe:

  • Jainism And The Temples Of Mount Abu And Ranakpur
  • ISBN: 81-904045-0-4
  • Copyright: © Gyan Gaurav Publishers.
    C-34, Sir Pratap Colony, Airport Road, Jodhpur
    Tel.: 91 291 2515861, 9414127863
  • Herausgeber: Dilip Surana
  • Layout & Graphics: Antesh Choudhary
  • Text: © Lothar Clermont
  • Photos: © Thomas Dix
  • Erstausgabe: 1998
    Überarbeiteter Nachdruck: 2006, Thomson Press, New Delhi
  • Seiten: 96
    Format: 242 x 312 mm

  • 2012 Überarbeitete HereNow4U Online Edition

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