»Es ist der August 1955. Auf dem heiligen Berg Kunthalgiri im Staate Maharashtra in Indien fastet sich ein alter Mann namens Shantisagara (= Ozean des Friedens) rituell zu Tode. Er ist der Acharya (= geistiger Führer) der Digambara Jaina-Gemeinde. Nach fünfunddreißig Jahren als Mönch beendet er nun sein irdisches Leben im Sinne der heiligen Weisungen, wie sie vor fast 2500 Jahren von dem großen Heiligen Mahavira niedergelegt worden sind. Seit 1920 hat Shantisagara nichts besessen, nicht einmal einen Lendenschutz. Er ist zu Fuß kreuz und quer durch Indien gewandert; hat nur einmal täglich Nahrung zu sich genommen, die er sich in seine zur Schale zusammengefügten bloßen Hände legen ließ; hat während der Tagesstunden wenig geredet und nach Sonnenuntergang gar nichts mehr. Vom 14. August bis zum 17. September nimmt er nur Wasser zu sich, dann - zu schwach, um allein trinken zu können - stellt er auch das ein. Das Jaina-Mantra rezitierend stirbt er bei vollem Bewußtsein am frühen Morgen des 18. September.«
So beginnt (hier übersetzt aus dem Englischen) ein Standardwerk über die Religion Mahaviras von Padmanabh S. Jaini, Professor of Buddhist Studies at the University of California. Das Buch erschien 1979 gleichzeitig in den USA und Indien unter dem Titel "The Jaina Path of Purification".
Von einem neuerlichen freiwilligen Fastentod eines nackten Digambara Jaina-Mönches erfuhr der Herausgeber des vorliegenden Buches, als er Anfang 1989 eine dreimonatige Pilgerreise zu heiligen Stätten der indischen Jaina unternahm und dabei die etwa eine Autobusstunde östlich von Kolhapur gelegene Bahubali Jaina-Schule aufsuchte. Diese für indische Verhältnisse vorbildliche Bildungsstätte, die zum großen Teil durch Spenden von wohlhabenden Jaina unterhalten wird und heute rund eintausendzweihundert Jungen und Mädchen aus den umliegenden Dörfern unterrichtet (mehrere Hundert wohnen und essen in der Schule), wurde 1934 von Muni Samatbhadra Maharaj, einem Jaina-Mönch, gegründet; mit gerade fünf Schülern. Ein Jahr zuvor hatte er von dem obengenannten Acharya die Aufnahmeweihe in den Orden erhalten. 1952 empfing er die Vollweihe, bei der der angehende Digambara-Muni (Digambara = Luftgekleidete, Muni = Mönch) das einzige Kleidungsstück, das er bis dahin noch tragen darf, ablegt und nur noch eine Wasserkanne und einen Staubwedel aus Pfauenfedern mit sich führt.
Muni Samatbhadra Maharaj, der eine abgeschlossene Ausbildung der Universität Bombay besaß und als anerkannter Pädagoge etwa zwanzig Schulen und mehrere Volksbildungsstätten und -vereine gründete, unterzog sich im Tempelbezirk oberhalb der Bahubali-Schule, wo er eine in den Felsen ge baute Zelle von ungefähr sechs Quadratmetern Wohnfläche bewohnte, dem überlieferten Ritual des freiwilligen Fastentodes. Er starb am 18. August 1988; im Dezember desselben Jahres wäre er siebenundneunzig Jahre alt geworden. Gläubige Jaina betrachten diese Art des Sterbens als die Krönung eines vorbildlich gelebten Lebens, und so versammelten sich an die zehntausend Männer, Frauen und Kinder - auch viele Hindu waren darunter -, um dabei zu sein, als die Leiche des Mannes, der für sie schon zu Lebzeiten ein Heiliger war, auf einem Feuer aus Sandelholz verbrannt wurde.
Mahavira hat es seinen Mönchen und Nonnen nicht zur Pflicht gemacht, auf die geschilderte Weise ihr Leben zu beenden. Jeder darf frei darüber entscheiden. Bei Mahavira heißt es dazu in der Übersetzung von Walther Schubring:
»Ein Mönch, dem dieser Gedanke kommt: 'Fürwahr, ich werde es müde, unter den gegenwärtigen Umständen diesen meinen Leib weiter herumzuschleppen', der soll die Nahrungsmenge immer mehr verringern, und hat er darauf seine Leidenschaften klein gemacht, ist er dünn geworden wie ein Brett, ist sein Leib schon fast erloschen, so soll er in ein Dorf oder in eine Stadt gehen, wo Kaufleute wohnen oder wo ein Fürst residiert, und sich eine Streu von Gras erbitten; mit dieser soll er in die Einsamkeit gehen, sie an einer Stelle, die frei ist von Insekteneiern, kleinen Tieren, Samen, Sprossen, Reif, Wasser, Ritzenfüllung, feuchtem Lehm und Spinnweben, nachdem er sie geprüft und abgewischt hat, hinbreiten und dort, wenn die Zeit da ist, Fastenübungen halten.
Wenn der Mönch angesichts der geringen Nahrung er krankt, so soll er nicht zu leben begehren, aber auch zu sterben nicht verlangen: an beidem, Leben wie Sterben, soll er nicht hängen. Gleichgültig, nur auf Tilgung des Karmans bedacht, bewahre er die fromme Haltung; indem er sich innerlich und gegen außen frei macht, suche er nur das reine Herz. Tiere, welche kriechen, und solche, die bald hoch, bald niedrig fliegen, wenn sie von seinem Fleisch und Blut zehren, so töte er sie nicht und wische sie nicht weg. Tiere machen seinen Leib wund, aber er fahre nicht auf von seinem Platz; mit Einflüssen mancherlei Art sich quälend halte er aus. So gelangt er ans Ende der Lebenszeit, heraus aus den mancherlei Fesselungen.
Der aber ist noch mehr bemüht, der folgendem Tun obliegt. Unter gänzlicher Beherrschung der Glieder rühre er sich nicht von seiner Stelle: das ist die höchste Praxis, der vorigen überlegen. Ohne weit zu suchen, verweile der Fromme stehend, hat er aber einen Platz gefunden, der von Lebendem frei ist, so nehme er dort eine Stellung ein. Er gebe den Leib gänzlich preis, indem er denkt: 'ich habe keine Anfechtungen des Körpers mehr'. Während er früher dachte, man erführe zeitlebens Anfechtungen und Angriffe, erträgt er sie nun eingezogen und einsichtsvoll, weil sie ja zur Vernichtung des Leibes beitragen. Er soll nicht hängen an den Gelüsten auf Vergängliches, auch wenn sie immer zahlreicher kommen; Verlangen und Begehren soll er nicht pflegen, indem er aus ist auf das Wesen, das bleibend ist. Angeblich 'ewige' Dinge bietet ihm wohl ein Gott an: dem göttlichen Truge glaube er nicht. Dies erkennend, schüttele der Fromme alles Blendwerk ab. Nicht betört durch irgendwelche Dinge gelangt er ans Ende der Lebenszeit. Wenn er nur das Durchhalten als die Hauptsache erkannt hat, so ist jeder beliebige dieser Wege zur Befreiung recht. So sage ich.«
Das Ablegen des Körpers durch Fasten auf den Tod - die Jaina nennen es Sallekhana - ist kein Selbstmord. Aus Verzweiflung oder Depression würde ein Jaina nie Hand an sich legen, das wäre Mord und ein Verstoß gegen das Ahimsa-Gebot. Erst wenn der Körper dem agierenden Ich zu verstehen gibt, daß für ihn die Zeit des Sterbens gekommen sei, ist der Jaina frei - nicht gezwungen durch ein Dogma -, dem Verlangen des Körpers nachzugeben und ihn durch allmähliche Verringerung der Nahrungszufuhr friedlich sterben zu lassen. Es ist ein Geschehenlassen natürlicher Vorgänge, das nur im hohen Alter oder im Falle einer unheilbaren Krankheit angewendet wird.
Mahatma Gandhi, der als erster den Hungerstreik als ein politisches Druckmittel anwandte - zuerst übrigens nicht ge gen die fremden Beherrscher seines Landes, die Briten, sondern gegen seine eigenen Anhänger; nämlich immer dann, wenn sie seinen Anweisungen des gewaltlosen Widerstandes nicht folgen wollten -, erwähnt in seinen Erinnerungen, daß es namentlich die Lehre Mahaviras gewesen sei, die ihn von der heilsamen Kraft überzeugte, die von der beharrlichen Einhaltung des »Ahimsa«-Gebotes (Ahimsa = Nicht-Gewalt) ausgeht. Vermittelt und vorgelebt wurde ihm dieses Gebot von seinem Lehrer und Freund Raychandbhai Metha, einem Jaina. Ungeachtet dieses Bekenntnisses Gandhis sind es unter den westlichen Gandhi-Verehrern vorerst noch wenige, die sich bewußt sind, daß nicht Gandhi, sondern Mahavira der eigentliche Apostel der Gewaltlosigkeit ist. Bereits mehrere Jahrzehnte vor Gotama Buddha und reichlich fünf Jahrhunderte vor der Bergpredigt Jesu verkündete Mahavira seine Lehre von der Gewaltlosigkeit gegenüber Menschen, Tieren und Pflanzen.
Der Urwaldarzt Albert Schweitzer, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1952, der sich in den Religionen sehr gut aus kannte und nie müde wurde, den Menschen die Ehrfurcht vor dem Leben ans Herz zu legen, sah in Mahavira den ersten bedeutenden Verkünder einer Ethik der Gewaltlosigkeit. In seinem Buch »Die Weltanschauung der indischen Denker« heißt es an einer Stelle: »Die Aufstellung des Gebotes des Nicht-Tötens und Nicht-Schädigens ist eines der größten Geschehnisse in der Geistesgeschichte der Menschheit. (...) Klar ausgesprochen wird sie [die Ethik der Nicht-Gewalt], soviel wir wissen, zum ersten Male durch den Jinismus.«
Albert Schweitzer benutzte für die Religion des Mahavira den in der deutschsprachigen Wissenschaft üblichen Namen Jinismus, gebräuchlicher ist die Bezeichnung Jainismus (sprich Dschainismus). Der Sanskrit-Begriff Jina, der diesen Namen zugrunde liegt und so viel wie Sieger bedeutet - Sieger in dem Bemühen, sich seiner Fesseln zu entledigen-, ist einer der Namen, die man Mahavira und seinen dreiundzwanzig Vorgängern im gegenwärtigen Zeitalter gegeben hat. Der üblichste Ehrentitel für diese Heilsbringer lautet Tirthankara: »Furtbereiter« durch den Strom der Wiedergeburten.
Heute, wo es keinem Menschen mehr gegeben ist, die Vollkommenheit eines Jina zu erreichen - nach jainistischem Verständnis befinden wir uns in der letzten Phase einer absteigenden Weltzeithälfte[footer]1[/footer]-, wird der Name Jina hauptsächlich für die geweihten Kultbildnisse in den Jaina-Tempeln angewendet.
Auch der Name Mahavira ist eine Ehrenbezeichnung: maha = groß, vira = Held. In den alten Schriften der Buddhisten erscheint Mahavira unter dem Namen Nigantha Nataputta. Nigantha (Sanskrit: Nirgrantha = Fessellose) scheint der Sammelbegriff für die Anhänger Mahaviras gewesen zu sein.
Die Absage der Jaina an die Gewalt geht nicht einher mit einer Geringschätzung des Heldischen. Es ist ein beachtenswertes Phänomen, daß im Jainismus einerseits derjenige hoch bewundert und verehrt wird, der seinen Leib nicht als sein Eigentum betrachtet, man andererseits aber großen Wert darauf legt, den Körper gesund und stark zu erhalten. Tabak, Alkohol und Drogen sind tabu. Auch in der Kunst der Jaina wird der menschliche Körper mit den Merkmalen athletischer Wettkämpfer dargestellt: wohlgeformte kräftige Glieder, breite Schultern, schmale Hüften. Allerdings fehlt die elastische Springkraft, wie sie den Wettkämpfern in der alten griechischen Kunst zu eigen ist. Die Kraft, die aus den in sich ruhenden Körpern der Jina-Bildnisse spricht, ist nicht nach außen gerichtet. Der Betrachter soll daran erinnert werden, daß der eigentliche Kampf, den der einzelne Mensch zu kämpfen und - will er ein gutes Leben führen - zu bestehen hat, nicht ein Kampf gegen äußere Feinde sei, sondern gegen seine eigene niedere Natur: gegen seine Zügellosigkeiten, seine Ängste, seinen Eigensinn, seine Härte und Unachtsamkeit im Umgang mit der lebenden Natur.
Das genaue Jahr von Mahaviras Geburt ist umstritten, doch seitdem die Jaina im Jahre 1974 die 2500ste Wiederkehr von Mahaviras Eingehen ins Nirvana feierlich begangen haben und man weiß, daß er in seinem zweiundsiebzigsten Lebensjahr gestorben ist, wird sein Geburtsjahr jetzt allgemein mit 599 vor unserer Zeitrechnung angegeben. Das macht ihn knapp vier Jahrzehnte älter als Siddharta Gotama, den späteren Buddha.
Immer wieder ruft es unser Erstaunen hervor, daß innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne - damals vor 2500 Jahren - in weit voneinander liegenden Weltgegenden eine Reihe herausragender Menschheitslehrer geboren wurden. Im griechischsprachigen Raum waren es Denker wie Pythagoras und Parmenides, in China Lao-Tse und Konfuzius, in Indien Mahavira und der Buddha. Hesekiel, der jüdische Prophet, wäre auch noch zu nennen.
Frappierende Ähnlichkeiten sind erkennbar. Von Pythagoras (geb. um 582 v. Chr., also um die gleiche Zeit wie Mahavira) ist die Aussage überliefert: »Verjagen mit allen Mitteln und abschlagen mit Feuer und Schwert und Mitteln aller Art muß man vom Leib die Krankheit, von der Seele die Unwissenheit, vom Bauch die Völlerei, von der Stadt den Streit, vom Haus die Zwietracht und von allem zusammen die Unmäßigkeit.« Und über Pythagoras sagte der Grieche Iamblichos: »Lebe wesen tötete er selbst so wenig wie irgendeiner der schauenden Philosophen.« Bei Buddha findet sich der Satz: »Wenn so der Mönch beim Essen Maß zu halten weiß, dann - merke wohl: erst dann - weist ihm der Vollendete den Weg.« Und bei Mahavira heißt es: »Der Tapfere wandle in Selbstbezwingung. Nachdem dir das Auftauchen bei den Menschen hier vergönnt ist, betätige du dich nicht gegen das Leben der Lebendigen. So sage ich.«
Mahavira erhielt bei seiner Geburt als Sohn des Fürsten von Kundagrama, einem Ort unweit von Vaishali im heutigen Unionsstaat Bihar, den Namen Vardhamana. Seine Mutter, Trishala mit Namen, war die Schwester des Königs von Vaishali, unter dessen Schirmherrschaft das kleinere Kundagrama vermutlich stand.
Schon früh im Leben soll sich Mahavira dazu entschlossen haben, ein Asket zu werden; doch seiner Familie zuliebe führt er seinen Entschluß erst aus, als nach dem Tode seiner Eltern auch sein älterer Bruder ihm seine Einwilligung gibt.
Mahavira ist nun dreißig Jahre alt. Einem alten Ritus folgend - festlich umrahmt, wie es noch heute der Brauch ist -, begibt er sich mit viel Gefolge unter einen Baum, verteilt seinen Besitz, zupft sich eigenhändig die Haare aus und zieht in die »Hauslosigkeit«.
Nach dreizehn Monaten, so heißt es in der Überlieferung der Shvetambara-Jaina, verfängt sich sein Gewand in einem Dornbusch. Als er den Verlust schließlich bemerkt und sich umdreht, sieht er gerade noch, wie sich ein Brahmane mit dem Tuch davonschleicht. Er läßt es damit bewenden und entschlägt sich der Sorge, jemals wieder einen Gedanken an ein Kleidungsstück zu verschwenden. Die Digambara weisen diese Anekdote zurück; sie glauben, daß Mahavira bereits im Augenblick seiner Entsagung alle Schamgefühle, das heißt, seinen Geschlechtstrieb vollständig überwand und von diesem Tag bis zu seinem Lebensende unbekleidet einherging.
Wenige verbürgte Einzelheiten sind aus dem Leben Mahaviras bekannt. Zum einen redete Mahavira offensichtlich so gut wie nie über sich selbst - auch darin unterscheidet er sich von Buddha -, zum anderen ist die erste schriftliche Fassung des Jaina-Kanons, die es mit großer Wahrscheinlichkeit einmal gegeben hat, gänzlich verschollen. Zwar wurde die Lehre und die Erinnerung an Mahavira und Parshvanatha, den vorletzten Furtbereiter, der etwa zweihundertfünfzig Jahre vor Mahavira in Benares gelebt haben soll, durch mündliche Belehrung weitergereicht; doch als man nach etlichen Jahrhunderten daranging, Konzilien einzuberufen, um das noch vorhandene Wissen schriftlich zu fixieren, mußte man sich eingestehen, daß so manches ganz verloren gegangen war, ob gleich man sich an die Titel und ungefähren Inhalte der einzelnen Kanon-Teile noch zu erinnern wußte. Übrigens sehen die Jaina in diesen Verlusten keinen Grund zur Klage. Für sie stehen solche Geschehnisse im Einklang mit ihrer Lehre, nach der das periodische Vergessen und Neuverkünden der unvergänglichen Wahrheiten unabänderlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen.