...Es gibt keine Vernichtung und Neuschöpfung
Nach dem Verständnis der Jaina-Kosmographen befinden wir uns seit Mahaviras Eingehen ins Nirvana im Jahre 527 vor unserer Zeitrechnung im vorletzten Sechstel einer absteigenden Halbzeitperiode, die durch eine allmähliche Abnahme der Glücksmöglichkeiten und einer Zunahme allgemeinen Leidens gekennzeichnet ist. Rund achtzehntausendfünfhundert Jahre dauert diese Phase noch an. Das sich anschließende letzte Sechstel, das ebenfalls einundzwanzigtausend Jahre umfassen wird, prägen noch größere Widrigkeiten. Das Leben der Menschen ist dann ein von Mißgeschicken verfolgtes kurzes Dahinvegetieren. Die Religion der Tirthankaras gerät in Vergessenheit; es fehlt den Menschen an Kraft und Muße für eine religiöse Lebensgestaltung.
Am Ende dieser absteigenden Entwicklung steht keine Weltvernichtung mit darauffolgender Neuschöpfung, wie es vom Hinduismus gelehrt wird. Eine Umkehrung der Abläufe setzt ein, d. h., nach der absteigenden Halbzeitperiode beginnt nun eine aufsteigende Zeitphase. Die Lebensbedingungen für die Menschen verbessern sich von Jahrtausend zu Jahrtausend, und wieder werden in großen zeitlichen Abständen vierundzwanzig Tirthankaras geboren, die den erneut aufnahmefähigen und nicht mehr so gehetzten Menschen die alte Lehre neu verkünden und vorleben. Man lebt wieder ein religiös tugendhaftes Leben und hält sich an die Gebote, namentlich an das sich selbst auferlegte Gelübde, keinem Wesen Schaden zuzufügen. Es ist eine Zeit, in der sich Glück und Leid ungefähr die Waage halten.
Viele Tausende von Jahren dauert die Phase, in der die Religion das Denken und Handeln des Menschen bestimmt; aber je müheloser es wird, irdisches Glück zu erlangen, umso mehr gerät die Religion wieder in Vergessenheit. Der Zeitpunkt nähert sich, wo erneut eine Umkehrung der Gegebenheiten eintritt und die nächste absteigende Weltzeitperiode ihren Anfang nimmt. In den mittleren Zeitläufen dieser Zeitphase, in denen sich Glück und Leid wiederum die Waage halten, erscheinen abermals vierundzwanzig Tirthankaras, die der alten Religion erneut Geltung verschaffen. Und so fort bis in alle Ewigkeit.
Von dem allen unberührt bleiben die sich selbst befreiten Seelen im höchsten Himmel. Auch sind die jeweils vierundzwanzig Heilsbringer keine Inkarnationen der vorausgegangenen vierundzwanzig. Es sind Menschen, keine Götter oder Halbgötter. Der Jainismus unterscheidet sich in seinen Hauptlehrsätzen grundlegend vom Hinduismus, in dem die Heilsbringer immer Inkarnationen des Gottes Vishnu sind.
Heinrich Zimmer, der wortgewandteste unter den deutsch-sprachigen Indologen, schreibt dazu auf Seite 171 seines Buches Philosophie und Religion Indiens:
»Denn die Jaina-Erlöser - die 'Furtbereiter' (tirthankaras), wie sie genannt werden - wohnen in einer himmlischen Zone in der Kuppel des Alls, für keine Gebete erreichbar; von jener hohen, lichten Stätte ist es nicht möglich, in die wolkige Sphäre menschlicher Mühsal helfend niederzusteigen. Bei den populären Anlässen des häuslichen Jaina-Kultes wird zu den altgewohnten Hindu-Göttern um geringere Gaben (Reichtum, langes Leben, männliche Nachkommen usw.) gebetet, aber der höchste Gegenstand der jainistischen Kontemplation, die Tirthankaras, stehen höher als die göttlichen Verwalter der natürlichen Ordung. Der Jainismus ist nicht atheistisch, er ist transtheistisch. Seine Tirthankaras - die das eigentliche Ziel aller Menschen, ja das Ziel aller Lebewesen in diesem belebten Universum der sich reinkarnierenden Monaden darstellen - sind 'abgetrennt' (kevala) vom Bereich des Schaffens, Erhaltens und Zerstörens, der Aktions- und Interessensphäre der Götter. Die Furtbereiter stehen über dem kosmischen Geschehen und über den Aufgaben des irdischen Lebens; sie sind transzendent, aller Zeitlichkeit enthoben, allwissend, tatenlos und in ungestörtem Frieden. Die Versenkung in ihren Zustand, wie er sich in ihren seltsam fesselnden Abbildern ausdrückt, trägt den Menschen im Verein mit den abgestuften, immer härteren asketischen Übungen der Jaina-Disziplin im Laufe vieler Lebenszeiten allmählich empor über die Nöte und Ängste des menschlichen Gebets, ja selbst über die Gottheiten, die das Gebet erhören, und noch über die seligen Himmel, in denen diese Götter und ihre Anbeter wohnen, hinauf zu den fernen, transzendenten, 'abgetrennten' Zonen reinen, unwandelbaren Seins, zu dem die Furtbereiter, die Tirthankaras den Weg gebahnt haben.«
So weilen die Vollendeten, die zum einzigartigen Verlöschen gekommen sind, für alle Zeit gesättigt, selig im Besitz unhemmbarer Seligkeit ohne Ende. So sage ich. (Mahavira)