Zur Harmonie im Inneren: 11. Ich bin ein Mensch (2)

Veröffentlicht: 21.11.2012
Aktualisiert: 02.07.2015

Die Fähigkeit des Menschen, sein Bewusstsein zu entwickeln, diesen Vorgang wahrzunehmen und in Handlungen zu realisieren, ist einzigartig. Im Tierreich gibt es Bewusstsein, doch haben auch hochentwickelte Tiere ein überwiegend phänomenales Bewusstsein, aber nur ein rudimentäres Bewusstsein ihres Selbst und seiner mentalen Zustände. Sie haben weder die Fähigkeit, noch die Möglichkeit, ihr Bewusstsein weiter zu entwickeln. Doch der Mensch weiß, dass er ein Bewusstsein hat und verfügt darüber hinaus über die Fähigkeit, es immer weiter zu entwickeln. Instinkt und Verstand sind verschiedene Bereiche, Beherrschung der Instinkte und Entwicklung eines logisch denkenden Verstandes kennzeichnen den Menschen.

Das Tier bleibt auf den Instinkt beschränkt. Es kann über die Empfindung von Freude und Schmerz nicht hinausgelangen, die Fähigkeit zur Erkenntnis fehlt ihm. Es kann sein Bewusstsein nicht weiter entwickeln. Die Fähigkeit zur Einschränkung ist Tieren angeboren, doch ist sie ihnen weder bewusst, noch können sie sich vorsätzlich beherrschen. Wenn man einem hungrigen Tier Futter gibt, frisst es, ist es nicht hungrig, frisst es nicht. Jedoch übersteigt es das Bewusstsein eines Tieres, nicht zu fressen, obwohl es hungrig ist. Zu essen, wenn man hungrig ist, nicht zu essen, wenn man keinen Hunger hat, nicht zu essen, wenn man Hunger hat, sind drei unterschiedliche Dinge. Dem Tier ist letzteres nicht möglich. Tiere fressen nur, wenn sie Hunger haben. Doch das menschliche Bewusstsein hat sich so entwickelt, dass der Mensch nicht essen muss, wenn er Hunger hat und essen kann, obwohl er keinen Hunger hat.

Ein Arzt gab ein Essen für angesehene Bürger. Zu Beginn sagte er: „Jeder hat sein Essen auf dem Teller vor sich. Bevor wir anfangen, sollten wir uns darüber klar werden, ob wir wie die Menschen oder wie die Tiere essen wollen.“ Die Anwesenden waren höchst verwundert und verstanden nicht, worauf er hinaus wollte. Daher erklärte er: „Wie ein Tier essen bedeutet, dass man nur isst, bis der Hunger gestillt ist. Wie ein Mensch essen heißt, auch dann weiter zu essen, wenn man längst satt ist.“

Die Tradition des Fastens wiederum gründet sich darauf, nicht zu essen, obwohl man hungrig ist. Selbst wenn er Hunger hat, kann ein Mensch zwischen 5 bis 50 Tagen fasten und nichts als Wasser zu sich nehmen. Diese Selbstdisziplin ist Ausdruck der Entwicklung seines Bewusstseins. Suchen wir nach den Kennzeichen eines Lebewesens aus philosophischer Sicht, stellt sich heraus, dass Denken, Erinnerungsvermögen und Vorstellungskraft allein keine Merkmale sein können. Auch das Unbewusste kann all das enthalten - Erinnerung, Gedanken und Vorstellungen. Der Computer ist ein direkter Beweis für unbewusste, künstlich entwickelte Intelligenz. Auf Knopfdruck kann er die Diagnose für eine Erkrankung unter vorgegebenen Kriterien auswählen, anschließend die dagegen wirksame Medizin verschreiben und pro und contra der Behandlung auflisten.

Erinnerungen, Gedanken und Vorstellungen allein sind keine Kennzeichen eines mit entwicklungsfähigem Bewusstsein ausgestatteten Lebewesens. Der Mensch ist ein Lebewesen und empfindet Verlangen - auch Tiere sind Lebewesen und empfinden Verlangen. Doch der Mensch lernte mit der Entfaltung seiner Bewusstseins, sein Verlangen zu beherrschen, Einsichten zu gewinnen und sich frei zu entscheiden. Die Worte ‚Verlangen' und ‚Ermessensfreiheit' liegen an verschiedenen Enden des Spektrums. Etwas zu begehren ist etwas anderes, als sich frei dafür oder dagegen entscheiden zu können.

Es gibt zwei Arten von Ermessensfreiheit, die des Wissenden und die des Entsagenden. Etwas wissen ist gut, doch entsagen, etwas aufgeben, verlangt Entwicklung des Bewusstseins. Wer etwas weiß, weiß, was passiert. Zu wissen was vorgeht, und nicht von dem Ereignis selbst gebannt und absorbiert zu werden, ist eine neue Bewusstseinsdimension. Zu wissen und zu leiden ist ein für alle Lebewesen zutreffendes Charakteristikum. Wenn sich jemand an einem Tier vergreift, es schlägt und stößt, reagiert es zornig. Tiere können heftige Rachegefühle hegen, Kamele und Büffel sind besonders nachtragend. Es ist bekannt, dass sie sich noch nach Jahren für eine Kränkung rächen. Diese Gefühle entstehen in ihnen, weil sie sich an das erinnern können, was sie erlebt haben.

Lebewesen mit einem stark entwickelten Bewusstsein können Dinge zur Kenntnis nehmen, ohne vom Leid überwältigt zu werden. Durch Sadhana kann diese neue Bewusstseinsdimension erreicht werden, sich nicht vom Strom der Ereignisse überwältigen zu lassen, sondern sie nur wahrzunehmen. Unter anderem ist es Ziel der Preksha Meditation den Körper wahrzunehmen, ohne uns mit seiner äußeren Form und Gestalt zu beschäftigen, sondern der Vorgänge in seinem Inneren gewahr zu werden. Durch die im Körper erzeugte Energie finden in der Art von Kettenreaktionen zahlreiche Transformationen statt, die wir in der Regel kaum bemerken. Sich ihrer gewahr zu werden, trägt zur Entwicklung des Bewusstseins bei.

Wir leben in zwei Welten, in der äußeren der Materie und der inneren des Bewusstseins. So wie wir die Veränderungen in der äußeren Welt wahrnehmen, können wir auch die Veränderungen der inneren Welt erkennen. Doch wer nicht meditiert, muss sich auf die Veränderungen der äußeren Welt beschränken, die inneren entgehen ihm. Ein Mensch, der sich ausschließlich für die Welt der Materie interessiert, hat selten Zugang zu seiner inneren Welt. Durch den Meditationsprozess kann er lernen, die Vorgänge in seinem Inneren wahrzunehmen und mit ihren Abläufen vertraut zu werden. Im Westen bemühen sich die Menschen darum, das Innere mithilfe von hochentwickelten Instrumenten und Technologien zu erkunden.

Unzählige Prozesse finden im Körper statt, ohne Meditation ist es schier unmöglich, sie wahrzunehmen. Man kann wirklich behaupten, dass der Mensch weder wahrnimmt, noch erkennt, was in seiner unmittelbaren Nähe geschieht. Die Ereignisse in der äußeren Welt sind ihm geläufig, doch von seinem Inneren weiss er wenig. Er kennt sich selbst nicht. Dennoch kann der Mensch den Kontakt zu seinem Inneren durch Anwendung einer erprobten Technik herstellen. Der Atem ist der erste Schritt auf diesem Weg. Er ist die Verbindung zwischen innen und außen, geht hinaus und kommt herein. Wer die innere Welt erkunden möchte, sollte diese Verbindung nutzen.

Als nächstes ist die Wahrnehmung des Körpers ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die innere Welt. Den Körper wahrnehmen umfasst mehr als die Wahrnehmung seiner Gestalt und Beschaffenheit. All das kann auch mit offenen Augen gesehen werden. Der meditative Prozess der Körperwahrnehmung hingegen findet mit geschlossenen Augen statt. Wir sind daran gewöhnt, mit offenen Augen die Bilder von etwas wahrzunehmen. Das wahre Bewusstsein ist uns verloren gegangen. Wir beschäftigen uns fast nur noch mit den Schatten. Im Allgemeinen kann man den Schatten kaum ergreifen, dennoch ist es möglich, wie die folgende Geschichte zeigt.

Ein Kind stand in der Sonne. Es sah seinen Schatten am Boden und wurde neugierig. Es wollte die Locke auf dem Kopf des Schattens am Boden ergreifen, doch sobald es anfing zu rennen, rannte der Schatten auch. So sehr sich das Kind bemühte, es konnte den Schatten nicht fangen. Es war schon ziemlich erschöpft, als sein Vater hinzu kam und fragte, was es täte. Das Kind antwortete ihm, dass es die Locke auf dem Kopf des Schattens anfassen wolle, doch der Schatten bewege sich immer gerade dann weiter, wenn es ihn beinahe zu fassen gekriegt hätte. Der Vater sagte beruhigend: „Keine Sorge, das haben wir gleich. Bleib' einfach stehen.“ Er führte die Hand des Kindes zu dessen Kopf und ließ es damit die Locke dort berühren. Das Kind blickte zum Schatten und fühlte gleichzeitig die Locke auf seinem Kopf in seiner Hand.

Ein Bild oder einen Schatten kann man nicht direkt berühren. Das Bewusstsein eines Menschen wird zum Hort von Illusionen und Missverständnissen, wenn sein Bewusstsein ein Bilderbewusstsein wird. Meditation ist Akzeptanz dessen, was ist. Es ist ein Versuch, über die Bilder hinauszugelangen. Wir müssen versuchen, in die Tiefe zu gehen und uns nicht in Bilder verlieren. Die sozialen, ökonomischen, kollektiven und individuellen Probleme des Alltags drehen sich alle um Bilder. Wären wir in der Lage das Reale zu erfassen, hätten wir schon Lösungen für unzählige Probleme. Jedoch wird den Bildern außerordentliche Bedeutung beigemessen, während grundlegende Tatsachen nicht beachtet werden.

Ein Künstler portraitierte ein Dorfmädchen und stellte dieses Bild Jahre später zusammen mit anderen Bildern aus. Ein Mann erwarb das Portrait für sehr viel Geld. Als er die Ausstellungshalle mit dem Portrait unter dem Arm verlassen hatte, traf er eine Bettlerin, die eine Münze von ihm haben wollte. Er stieß sie beiseite und ging seines Weges. Zufällig fiel der Blick der Bettlerin auf das Portrait, es war sie, die für das Bild Modell gestanden hatte. Die echte Frau wurde weggestoßen, doch ihr Bild war für viel Geld verkauft worden!

Meditation ist das Erleben der Realität, wie sie ist. Dort ist kein Platz für Vorstellungen. Während der Wahrnehmung des Atems nehmen wir den Atem wahr, der tatsächlich da ist, und keine Vorstellung davon. Ebenso nehmen wir während der Körperwahrnehmung die Vorgänge wahr, die tatsächlich im Körper stattfinden, auch das ist keine Vorstellung. Während der Meditation haben wir es mit dem zu tun, was ist. Die Vorstellung hat eine eigene Funktion, doch ist es nicht richtig, den Sinn für das aktuelle Geschehen zu verlieren und stattdessen in der Vorstellung zu leben. Das führt zu Missverständnissen und ist Flucht vor der Realität. Als Hintergrund des Realen kann die Vorstellungskraft sehr wertvoll sein, doch das Reale muss im Mittelpunkt stehen und darf nicht von der Vorstellung ersetzt werden.

Der Mensch hat die Fähigkeit zu Erkenntnis und Entsagung. Darauf gründet sich die Philosophie, obwohl sich ihr Sinn gewandelt hat. Heute versteht man unter Philosophie nur reines Buchwissen, das die Gültigkeit der direkten Erfahrung leugnet. Die Entwicklung philosophischen Denkens in Indien beruhte auf Disziplin, Gewaltlosigkeit, existentieller Einheit und Gleichheit, die in sich die Größe von Philosophie ausmachen. Ohne existentielle Einheit oder Gleichheit wird Philosophie zur rein intellektuellen Gymnastik eines Systems der Logik. Heutzutage kann ich zwischen Philosophie und Logik keinen Unterschied mehr erkennen, denn Philosophie ist in der Tat zu Logik geworden. Wer heute Philosophie studiert, weiß, dass nichts von der Philosophie übrig bleibt, wenn man die Logik verlässt. Nichts als Argumentation von Anfang bis Ende, Behauptung und Widerlegung, Bestätigung und Zurückweisung, alles auf der Grundlage des Arguments.

In den Diskussionen heute wird immer wieder auf Intellekt oder Logik als Grundlage von Religion verwiesen. Von einer Religion, die weder dem Intellekt, noch der Logik standhält, kann nicht gesagt werden, dass sie wahr ist. Das klingt ziemlich vernünftig. Der Mensch akzeptiert nur als wahr, was auf Logik und Intellekt basiert. Auf dieser Basis kann er ein bisschen auf dem Pfad der Religion wandern. Logik und Intellekt dienen als Sprossen auf der Leiter nach oben, doch können sie einen nicht auf den Gipfel bringen. Sie enden irgendwo in der Mitte. Mit diesen Stufen kann man drei bis vier Stockwerke aufsteigen, doch das Gebäude hat hundert Stockwerke. Dieser Aufstieg ist über die Treppen besonders anstrengend, man gerät völlig außer Atem. Der Mensch heute steigt nicht einmal mehr drei bis vier Stockwerke über die Treppen hinauf, er benutzt lieber den Fahrstuhl. Wenn der Fahrstuhl nicht funktioniert, wird es schon schwierig hinauf zu kommen. Die Stufen sind nur ein Mittel zum Aufstieg, kein Mittel kann universal sein.

Logik und Intellekt sind Hilfsmittel für den Aufstieg. Mit ihrer Unterstützung gelangen wir nach oben. Wir können viele Stockwerke hinauf gelangen, viele Ebenen mit ihrer Hilfe transzendieren, doch können sie uns nicht zum ultimativen Ziel führen. Sobald wir höher aufsteigen, haben Logik und Intellekt ihre Schuldigkeit getan, und wir lassen sie zurück. Wir können das, was darüber hinaus geht, nur unmittelbar erfahren. Wer sich auf Logik und Intellekt verlässt und die direkte Erfahrung verschmäht, kommt eine kleine Strecke voran, erreicht aber niemals das Ultimative, und das Tor bleibt verschlossen. Das Schloss des ultimativen Bewusstseins kann nur mit dem Schlüssel der unmittelbaren Erfahrung geöffnet werden.

Wir stehen zwei verschiedenen Voraussetzungen gegenüber, die eine entwickelt Intellekt und Logik, die andere das innere Bewusstsein. Ohne Meditation kann sich die innere Intelligenz nicht entfalten, ohne die innere Intelligenz kann es keine philosophische Entwicklung im wahren Sinne des Wortes geben. Die philosophischen Fachbereiche in den heutigen Bildungsinstitutionen dienen nur der Entfaltung des logischen Intellekts. Die Aufgabe des Intellekts besteht in der Verbesserung von Merkfähigkeit und Beweisführung. Ein Instrumentarium zu verbessern ist etwas anderes, als zu wissen wozu es dient. Die Bedeutung eines Instrumentariums hängt von seinem Nutzen ab. Mit einem Skalpell kann jemand operiert, aber auch umgebracht werden. Also kann es sowohl zur Rettung, als auch zur Zerstörung benutzt werden. Wenn das ausführende Bewusstsein sich nicht verändert, muss man in Betracht ziehen, dass ein sorgfältig geschärftes Skalpell zu einem Mordwerkzeug werden kann.

Die Geschichte der Waffenherstellung bezeugt die Tatsache, dass die bloße Weiterentwicklung des Wissens zur Herstellung immer ausgeklügelterer Waffensysteme geführt hat, welche die Menschheit bis zur Möglichkeit der Selbstvernichtung gebracht haben. Solange der Mensch seine Fähigkeit zu Entsagung und Verzicht nicht entfaltet und das Bewusstsein für Kontrolle und Zurückhaltung in ihm nicht geweckt ist, kann er dem Desaster nicht entkommen. Deshalb muss die Philosophie durch die Synthese von Logik und Erfahrung an der Entwicklung des Bewusstseins mitwirken. Wahre Philosophie führt auch zur Kontrolle der Ergebnisse von Intellekt und logischer Beweisführung.

Meditation ist ein philosophisches Experiment zur Entwicklung des Bewusstseins. Es ist sehr wichtig, dass die zeitgenössischen Philosophen die Philosophie aus einer neuen Perspektive betrachten, die alten Gewohnheiten erfüllen ihren Zweck nicht mehr. Die antiken Maximen fallen in die Sphäre der Philosophie, was aber nicht von der mittelalterlichen Philosophie gesagt werden kann. Diese blieb hauptsächlich intellektuell trocken und war nicht länger von Erfahrung benetzt, man bemühte sich lediglich um die Verfeinerung der Argumentation. Unsere antiken Philosophen waren vielleicht nicht sehr intellektuell und nicht besonders geschickt im logischen Folgern, doch waren sie wirklich weise. Eigentlich kann nur ein Weiser als Philosoph bezeichnet werden, denn als Weiser gilt, wer zu philosophischen Visionen fähig ist. Wer weder ein Seher, noch zu Visionen in der Lage ist, kann nicht als Weiser bezeichnet werden. Ein solcher Mensch ist weder zu Hingabe, noch zu Askese fähig. Ein echter Weiser muss das Reale wahrnehmen und die Philosophie bis zu ihrem Ziel verfolgen können.

Die Methode der direkten Wahrnehmung ist der Dreh- und Angelpunkt, auf den sich das System der indischen Hingabe bezieht. Die Sadhaks in Indien haben mehr Vertrauen in die direkte Wahrnehmung als in die indirekte. Im Mittelalter war es genau umgekehrt. Die Philosophen dieser Zeit verzichteten auf die direkte Wahrnehmung und begannen mit der Erfindung von Fakten auf der Grundlage logischer Schlussfolgerung. Sie vertrauten der direkten Bewusstwerdung nicht mehr, sondern waren auf logische Beweisführung und den Intellekt angewiesen. Das war einer der Gründe für die Rückständigkeit Indiens.

Der strukturelle Aufbau in den entwickelten Ländern heute basiert weitgehend auf Beobachtung und Experiment. Direkte Bewusstwerdung kann durch transzendentales Wissen oder durch hochentwickelte Technologien erfolgen. Die Menschen im Westen haben ihr Bewusstsein nicht durch Spiritualität entwickelt, sondern durch Anwendung hochentwickelter Technologien, die heute als Ersatz für transzendentales Wissen dienen. Wenn der Direktor weg ist, nimmt ein Stellvertreter seinen Platz ein. Die Technologien ermöglichen es den Wissenschaftlern anstelle des transzendentalen Wissens, immer neue Tatsachen zur wachsenden Bewunderung der Welt herauszufinden.

Die Welt der Philosophie hinkt heute weit hinter der Welt der Wissenschaft her. Sie hat ihren alten Glanz verloren, weil sie die Methode der direkten Bewusstwerdung aufgegeben hat. Die Wissenschaft steht im Zentrum des allgemeinen Interesses, weil sie noch die Methode der direkten Beobachtung praktiziert. Die subtilsten Wahrheiten können nur durch direkte Erfahrung, und nicht aufgrund von Vermutungen, Logik und Argumenten erkannt werden. Wenn sich die Philosophie noch weiter von der direkten Erfahrung entfernt, wird der Abstand zwischen ihr und der Wissenschaft niemals verschwinden. Die Philosophie ist der Vater, die Wissenschaft der Sohn. Der Sohn allerdings ist heute so berühmt und mächtig geworden, dass die Menschen den Vater vergessen haben. Der Vater sitzt weinend in der Ecke, während der Sohn autokratisch die Welt beherrscht. Meditation ist ein Experiment, wie man den Vater wieder auf seinen rechtmäßigen Platz bringen kann. Die Philosophie kann ihren verlorenen Glanz wiedergewinnen, wenn sie die Methoden der direkten Beobachtung und Erfahrung wieder aufnimmt. Ohne Meditation gibt es keine direkte Bewusstwerdung.

Zu Beginn seiner Meditationspraxis fühlt sich der Sadhak wie in einem Irrgarten. Das ist nichts Ungewöhnliches, sondern ganz normal. Für den, der nicht gelernt hat in die Tiefen des Bewusstseins zu gelangen, erscheint der Meditationsprozess absurd. Dieses Gefühl der Nichtübereinstimmung ist ziemlich normal für den Bewusstseinszustand des modernen Menschen. Man darf nicht vergessen, dass die Verwirklichung des Selbst nicht gelingen kann, wenn man an der Oberfläche des Bewusstseins lebt. Abwendung von der grobstofflichen, Hinwendung zur subtilen, von der materiellen zur spirituellen Welt, ist die Grundlage für die Verwirklichung des Selbst. Wer auf den Eintritt in die spirituelle Welt nicht vorbereitet wurde und sich noch nie zu den spirituellen Wahrheiten aufgemacht hat, wird niemals das Unbekannte erfahren und sitzt für immer auf einem hölzernen Pferd, das ihn nirgendwohin bringt.

Wichtig ist, dass sich ein Lehrer weder auf Bücher, noch auf das Grobstoffliche allein beschränkt. Er muss zu der Erkenntnis gelangt sein, dass es außer Büchern noch eine Quelle des Wissens gibt, außer dem Materiellen eine spirituelle Quelle. Es ist sein Vertrauen sowohl in das Materielle, als auch in das Spirituelle, das einen Menschen voran bringt. Einseitigkeit hemmt jede Entwicklung. Wahre Philosophie umfasst eine Synthese aus direkter Realisierung und intellektueller sowie logischer Entwicklung. Beides ist nötig, die Entfaltung von Intellekt und Logik, sowie das direkte Erleben. Das ist so, weil das Individuum nicht nur für sich allein steht, sondern gleichzeitig ein Mitglied der Gesellschaft ist, mit der es als einzelner Faktor unauflöslich verbunden ist. Das Individuum ist nicht nur der eine, es ist auch immer der andere.

Unter diesem Gesichtspunkt gilt direktes Erleben für einen selbst, und Intellekt und Logik gelten für den anderen. Stellen wir uns ein sein Selbst erkannt habendes Individuum vor, das die Wahrheit gesehen hat, aber nicht genügend intellektuelle Kapazität für das Argument besitzt. In diesem Fall bliebe das Wissen auf es selbst beschränkt, ohne es anderen vermitteln und das Wissen kommunizieren zu können. Logik und Intellekt sind Voraussetzung für Kommunikation. Andererseits kann eine rein intellektuell ausgerichtete Persönlichkeit oder ein kluger Argumentator niemals die Wahrheit erreichen, dafür braucht man die Bestätigung des direkten Erlebens. Reiner Intellekt oder logische Fähigkeiten ohne die Wahrheit tun weder einem selbst, noch anderen gut. Von direkter Erfahrung getrennte Logik beherrscht heute die Welt von Philosophie und Religion. Die Folge sind endlose Konflikte und Kontroversen. Sobald die Wirklichkeit direkt erfahrbar ist, gibt es weniger Meinungsverschiedenheiten und Konflikte.

Für das Erkennen der Wahrheit braucht man direkte Erfahrung. Um diese Erfahrung kommunizieren zu können, benötigt man intellektuelle und schlussfolgernde Fähigkeiten. Eine Wahrheit selbst zu verkünden und sie einem Anderen verständlich zu machen sind verschiedene Dinge. Das bloße Verkünden reicht nicht aus für jemanden, der verstehen möchte, es muss genau ausgeführt werden.

Der Schüler fragte den Guru: „Viele Menschen führen religiöse Zeremonien durch und hören spirituelle Vorträge. Aber das scheint zu keiner Veränderung ihrer Lebensgewohnheiten und ihres Verhaltens zu führen. Warum ist das so?“ Eine gewaltige Frage, in der Tat. Sie entsprach dem Augenblick und reicht sogar bis in die Gegenwart, es scheint eine Frage aller Zeiten zu sein. Die gleiche Situation findet man in der religiösen Welt von heute, die Menschen praktizieren ihre Religion, doch hat ihr Alltagsleben damit nichts zu tun.

Der Guru, eine verwirklichte Seele, befasste sich tief mit der Frage und sagte dann: „Das ist eine gute Frage. Bitte hole mir eine Karaffe Wein.“ Der Schüler war sehr verblüfft und schaute seinen Meister an. Er verstand nicht, was die Karaffe Wein mit seiner Frage zu tun hatte. Schließlich brachte er die Karaffe Wein. Der Guru sagte: „Rufe alle Schüler herbei.“ Alle versammelten sich, und der Guru bat jeden Schüler, einen Schluck Wein zu trinken und ihn sofort wieder auszuspeien. Jeder tat, wie ihm geheißen, die Karaffe wurde geleert. Der Guru fragte sodann: „Ist irgendjemand betrunken?“ Alle sprachen gleichzeitig: „Oh, Meister! Was für eine Frage! Wir wären sicher betrunken, wenn wir den Wein hinuntergeschluckt hätten. Doch wir nahmen nur einen Schluck, behielten ihn kurz im Mund und spuckten ihn dann sofort wieder aus. Wie könnten wir davon betrunken sein?“ Der Guru wandte sich an den Schüler, der die Frage gestellt hatte: „Ist die Frage beantwortet?“ Der Schüler entgegnete: „Noch nicht klar.“

Der Guru erklärte: „Religion beansprucht einen wichtigen Stellenwert, doch wird sie sofort wieder ausgespuckt. Sie gelangt nicht die Kehle hinunter und berührt niemals das Herz. Was für Ergebnisse erwartet man also? Wie soll eine Transformation des Lebens stattfinden? Religion hat ihre eigene Berauschtheit. Wie breitet sie sich aus? Solange das Edikt der Religion nicht hinuntergeschluckt wird, kann sie nicht wirken. Damit der Wein der Religion die Kehle hinunterrinnen kann, müssen die intellektuellen und logischen Fähigkeiten koordiniert werden. Das enge Zusammenwirken von direkter Einsicht und intellektuellem Schlussfolgern charakterisiert die Philosophie und den Philosophen.“

Das menschliche Bewusstsein hat sich in zahlreiche Richtungen entfaltet. Zu seiner kontinuierlichen Entwicklung tragen sowohl das Leben, als auch die Wissenschaft bei. Der Mensch ist nicht nur ein beseeltes Lebewesen, er ist darüber hinaus mit wissenschaftlicher Sensibilität ausgestattet, der Fähigkeit zu Erfahrung, Intelligenz und Entsagung. Speziell für ihn, nicht für Tiere und Pflanzen, wurde die ‚Wissenschaft vom Leben' (Jeevan Vigyan) entwickelt.

Es scheint für Pädagogen von heute dringend geboten zu meditieren. Es besteht eine enge Verbindung zwischen Meditation und ‚Wissenschaft vom Leben'. A.K. Bhatnagar aus Rajasthan, Indien, hat dafür gesorgt, dass Regierungs- und Verwaltungsangestellte in Preksha Meditation unterwiesen wurden mit dem Erfolg, dass ihre Arbeitseffektivität erhöht und die Korruption eingedämmt werden konnte. Jedes Land auf der Welt ist an einer Methode interessiert, wie man das Alltagsleben der Menschen zum Besseren beeinflussen kann. Der Bildungsbeauftragte für Rajasthan unterstützt die Teilnahme von Lehrern und Professoren an Meditationscamps und bestätigt die Dringlichkeit derartiger Weiterbildungen. Für die vielfältigen Probleme, mit denen jeder einzelne gegenwärtig konfrontiert ist, müssen neue Denkansätze gefördert und Lösungswege gefunden werden

Die enge Koordination von Meditation und Handeln sowie der ‘Wissenschaft vom Leben' und Bücherwissen ermöglicht es, neue Denkrichtungen einzuschlagen. Die Ergebnisse der Erprobung dieser Verfahren in Rajasthan ermutigen zur weiteren Anwendung.

Quellen
Englischer Titel:
Towards Inner Harmony Redaktion:
Muni Dulheraj
Herausgeber:
Jain Pubilishers (P) Ltd, New Delhi
http://www.bjainbooks.com Übertragung ins Deutsche:
2004 Carla Geerdes
2012 Überarbeitete Fassung
Carla Geerdes

http://de.herenow4u.net/fileadmin/cms/Buecher/Zur_Harmonie_im_Inneren/Acharya_Mahaprajna_-_Zur_Harmonie_im_Inneren_200.jpg

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  1. Guru
  2. Jeevan Vigyan
  3. Meditation
  4. Preksha
  5. Preksha Meditation
  6. Sadhak
  7. Sadhaks
  8. Sadhana
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