Beim Klettern ist eine Stütze sehr hilfreich. Ein geflügeltes Wort in der Sanskrit Literatur besagt, dass ein Weinstock, ein Gelehrter und eine Frau in ihrer Entwicklung Unterstützung brauchen. Für den Entwicklungsprozess eines Lebewesens ist eine solide Grundlage erforderlich. Die beste ist: ‚Ich bin ein Mensch'. Man kann das in der Welt Vorhandene in die zwei Kategorien ‚belebt' und ‚unbelebt' einteilen. ‚Belebt' ist, was mit der einen oder anderen Form der Atmung ausgestattet ist, was ‚unbelebt' ist, verfügt über keinerlei Atmung. Wir gehören der belebten Welt an, wir atmen, unsere Herzen schlagen, in uns vibriert die Lebenskraft. Diese Lebenskraft ist charakteristisch für alles Lebendige.
Leben und Wissen sind unterschiedliche Bereiche, nicht alle Lebewesen haben Zugang zu bewusster Erkenntnis. Erkenntnis wird in der alten Sprache gleichgesetzt mit denkendem Geist - vivek chetna - oder empirischem Bewusstsein. In der zeitgenössischen Sprache bedeutet Erkenntnis die Entwicklung empirischen und ergebnisorientierten Bewusstseins. Dieses Bewusstsein ist nicht allen Lebewesen zugänglich, nur dem Menschen. Wir sind Menschen, das ist für uns die solide Grundlage für das Streben nach höheren Bewusstseinsebenen. Was den Menschen von anderen Lebewesen wie Tieren und Pflanzen unterscheidet, sind ein entwicklungsfähiges Bewusstsein und ein Verstand mit der Fähigkeit zur rationalen Beurteilung und der Verarbeitung von Erfahrungen. Nur der Menschen ist zu rationaler Beurteilung fähig, nur er ist zur Verarbeitung auch außerordentlicher Erfahrungen imstande. Wir sind Menschen. Deshalb ist uns die schrittweise Entwicklung des Bewusstseins möglich.
Bhartrihari, der große indische Sprachforscher und Philosoph aus dem 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, hat gesagt: „Essen, Schlafen, Furcht und Sex sind gemeinsame Charakteristika von Mensch und Tier. Auf dieser Grundlage kann zwischen Mensch und Tier nicht unterschieden werden. Wenn es einen Unterschied zwischen beiden gibt, ist es die Religion. Auf dieser Grundlage kann der Mensch vom Tier unterschieden werden.“ Dieser Ausspruch hat eine eigene Kraft. Die Bedeutung von Worten unterliegt dem Wandel, sie wird weiterentwickelt oder geht verloren. Wer etwas von Linguistik versteht, kann bestätigen, wie die Bedeutungen von Worten sich mit der Zeit wandeln. Die Bedeutung des Wortes ‚Religion' hat sich gewandelt. Heute weiß der Mensch nicht mehr genau, was unter Religion zu verstehen ist. Für ihn ist dieses Wort unlösbar mit stereotypen Übereinkünften verbunden. Im Hinblick auf das geltende Sprachverständnis sollten wir uns die Mühe machen, für ‚Religion' einen neuen Begriff zu finden. Dieser Begriff könnte ‚Wissenschaft vom Leben' (Jeevan Vigyan) heißen.
Die Wissenschaft unterscheidet den Menschen vom Tier. Ein Tier kennt keine Wissenschaft, es hat kein Urteilsvermögen. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen Mensch und Tier. Das Tier ist am Leben, doch kann es die Lebenskraft in sich nicht weiterentwickeln. Seit Tausenden von Jahren trägt es Lasten. Es gab keine Entwicklung, weder des Bewusstseins, noch der Lebenskraft.
Der Mensch hingegen hat sich weiterentwickelt, sowohl im Hinblick auf seine Lebenskraft, als auch im Hinblick auf seine Fähigkeit zur Unterscheidung. In den letzten zwei Jahrhunderten war die Welt massiver Entwicklung ausgesetzt sowohl hinsichtlich sozialer und ökonomischer Probleme, als auch Verhaltens- und Charakterproblemen. In der Lebensweise wie in der Politik gibt es Entwicklung in allen Bereichen, weil der Mensch Urteilsvermögen und Wissenschaft hat. Allein das Lebendigsein ist etwas Großartiges, vom Unbelebten hat eine wundervolle Evolution zum Lebendigen stattgefunden. Doch nicht allein das Menschsein ist eine große Errungenschaft, auch die Entfaltung eines wissenschaftlichen Bewusstseins offnet neue Dimensionen und Richtungen. In der Aussage ‚Ich bin ein Mensch' sind beide Aspekte enthalten: Ich bin ein Mensch, deshalb kann ich meine Lebenskraft dazu nutzen, neue Manifestationen des Lebens und neue Richtungen des Bewusstseins zu ermöglichen.
Das Leben beherbergt viele Strömungen und Kräfte, dauerhaft bestimmen vier davon sein Leben: Körper-, Atem-, Sprach- und Mentalenergie. Der Mensch war dazu fähig, in allen vieren Fortschritte zu machen. Tiere verfügen über Energien, die sie nicht über einen gegebenen Anfangszustand hinaus entwickeln können. Der Mensch jedoch kann seine Energien auf mannigfaltige Weise steigern. Sprinter laufen immer schneller, Gewichtheber stemmen immer schwerere Gewichte, Athleten können um ihre Hälse geschmiedete Eisenketten auseinanderbrechen, was noch nicht einmal Elefanten schaffen. All das sind Beispiele für die Steigerung der physischen Kräfte des Menschen. Aufgrund seiner Fähigkeit zur Unterscheidung kann der Mensch nicht anders, als in jeder Hinsicht zu wachsen. Besäße er diese Fähigkeit nicht, hätten ihn die Tiere in ihrer Gewalt.
Die Kraft des Menschen ist unbedeutend im Verhältnis zu der eines Kamels, eines Pferdes, eines Büffels. Dennoch lenkt der Mensch das Kamel, das Pferd, den Büffel, sogar den Löwen sperrt er in einen Käfig. Das liegt daran, dass die Entwicklung seines Bewusstseins ein stets fortwährender Prozess ist. Der Mensch wird ständig mit neuen Problemen konfrontiert und sucht nach Mitteln und Wegen, sie zu lösen.
Ein Mann wollte unbedingt einmal einen Ochsen tragen. Wie sollte ihm das gelingen? Gewicht und Kraft eines Menschen sind im Verhältnis zu denen eines Ochsen unbedeutend. Wie könnte ein Mensch wohl einen Ochsen tragen? Es schien unmöglich. Doch mit dem Erwachen der Intelligenz wird sogar das Unmögliche möglich. Der Mann dachte nach und fand einen Weg. Er begann mit einem neugeborenen Kalb. Das war nicht zu schwer für ihn. Ohne einen Tag auszulassen, trug er das Kalb. Durch diese tägliche Übung gewöhnte er sich so an das Tragen, dass er schließlich sogar den herangewachsenen Ochsen tragen konnte.
Kontinuität ist eine große Sache. Wenn man seinen Atem kontinuierlich über fünf Minuten wahrnimmt, ohne sich von seinen Gedanken ablenken zu lassen, fühlt man sich physisch völlig erneuert und mit Licht und Energie aufgeladen. Es kommt einem wie eine Energieexplosion vor! Die Kraft aus der Kontinuität kann mit der des Augenblicks nicht verglichen werden. Die Kraft eines Tropfens ist nichts im Vergleich zu der eines Stromes. Stellen wir uns die Tropfen eines Regenschauers vor - zuerst fällt ein Tropfen, nach zwei Minuten der zweite. Bis der zweite Tropfen gefallen ist, ist der erste schon getrocknet und der zweite vor dem Fallen des dritten. Erde und Sand absorbieren den Tropfen, sobald er gefallen ist. Doch ein kontinuierlicher, heftiger Regenschauer ist anders. Eine unablässige Flut gewinnt zunehmend an Kraft und wird zu einem mächtigen Strom.
So kann Stetigkeit etwas zu einer großen Sache machen. Wer gelernt hat, seinen Atem kontinuierlich wahrzunehmen, weiß, wie man Körperkraft, geistige Energie und Ausdrucksfähigkeit entwickeln kann. Es ist ein großer Nachteil unserer Zeit, dass die Bedeutung beharrlichen Bemühens und die aus einem beständigen Strom generierte Kraft fast in Vergessenheit geraten sind. Ein Regierungsbeamter kehrte kürzlich von einem einjährigen Sportkurs im Ausland zurück. Er war darüber erstaunt, dass Yoga im Westen in die Sportkurse aufgenommen worden ist. Es klingt seltsam, dass wir nun sogar für Sport- und Yogakurse ins Ausland gehen müssen. Yoga wurde aus Indien in den Westen exportiert, nun scheint es notwendig geworden zu sein, dass wir es aus dem Westen re-importieren müssen. Wir konzentrieren uns auf nichts mehr richtig, sondern tun alles nur dann und wann einmal. Es ist, als hätten wir das Konzept des beständigen Stroms verloren.
Aufgrund der fehlenden Konzentration jedoch haben sich die Dinge anders entwickelt. Wo Indien früher gelegentlich Goldmedaillen errang, gibt man sich heute mit Silber- oder Bronzemedaillen zufrieden. Ein Land mit über einer Milliarde Menschen in einem so beklagenswerten Zustand! Das hört sich unglaublich an. Doch wundert man sich nicht mehr, wenn man erkennt, dass uns das fundamentale Geheimnis des Erfolges abhanden gekommen ist. Im Bildungswesen stehen wir einem ähnlichen Problem gegenüber. Lehrer und Schüler, Professoren und Studenten sind nicht in der Lage, die nötigen charakterlichen Qualitäten zu entfalten, weil es an Willenskraft, Durchhaltevermögen und Entschlossenheit fehlt. Das Gehirn wird lediglich mit Worten vollgestopft. Natürlich gibt das Wort Impulse für Entwicklung, hat eine Funktion in ihr. Doch müssen wir die Fähigkeit zur Effizienz entwickeln, unabdingbare Voraussetzung für hervorragende Leistungen in jedem Bereich.
Es ist eine Sache, eine Arbeit irgendwie zu verrichten, und eine andere, eine bestimmte Fähigkeit oder einen hohen Sachverstand dafür zu entwickeln. Wie können wir, von hervorragender Ausführung erst einmal abgesehen, die Effizienz erhöhen? Expertentum entsteht nicht durch Bücher, es geht aus einem entwickelten Bewusstsein hervor, aus jener Intelligenz, die aus der engen Zusammenarbeit zwischen Bewusstsein und Büchern entsteht. Bücherwissen ohne Sensitivität bringt noch keine größere Effizienz zustande. Das Grundproblem ist Kontinuität, andauernde Beharrlichkeit. Dazu gehören auch ausgereiftes Urteilsvermögen und das Bemühen um die Entwicklung des Bewusstsein. Beispiele für die Entwicklung der Kraft des Körpers sind Karate und Judo, sie wurden in Japan entwickelt. Die Hand wird so trainiert, dass sie erfolgreich Schwerthiebe parieren und ihnen bis zu einem gewissen Maß sogar standhalten kann. Zu derartig erfolgreicher Entwicklung der Vitalkraft, der keine Waffe Schaden zufügen kann, ist nur der Mensch in der Lage. Vor kurzem konnten wir alle hier miterleben, wie ein Freund tief Atem holte, sich konzentrierte und seinen Arm ausstreckte. Zehn Menschen hatten sich an diesen Arm gehängt und vermochten es nicht, ihn zu senken. Nur der Mensch kann mithilfe seiner Intelligenz derartig seine Körperkraft trainieren und erstaunliche Kunststücke an physischer Kraft und Ausdauer vollbringen. Bis auf den heutigen Tag hat sich diese Tradition erhalten, doch wir geben ihr nicht mehr den gebührenden Stellenwert. Die Bedeutung dieser Techniken, in denen die Körperkraft bis zum äußersten trainiert und gesteigert wird, haben wir uns noch nicht genügend erschlossen.
Ebenso wichtig ist die Entwicklung von innerer Festigkeit, die es ermöglicht, auch bei den drückendsten Problemen nicht aufzugeben. Sobald sich die kleinste Schwierigkeit zeigt, verlieren viele ihr Selbstvertrauen. Die meisten Menschen fühlen sich solange wohl, wie alles gut geht, doch sobald etwas schief geht, verlieren sie den Mut. Ihnen fehlt die innere Stabilität, sich gegen die Situation zu behaupten, und sie geraten in so tiefe Verwirrung, dass sie nicht mehr in jeder Lage standhalten können. In unserer Lebenswelt gibt es Hitze und Kälte, Gutes und Schlechtes, Wohlstand und Armut. Nichts ist von Dauer. Es gibt kein Monopol für das eine oder andere, beides ist in gleichem Maße vorhanden. Wir müssen unsere Kräfte so entwickeln, dass wir Hitze und Kälte gleich gut vertragen. Hitze zu ertragen ist nicht leicht, doch Kälte ist ebenso schwer auszuhalten. Auch Wohlstand und Elend sind eine ähnliche Herausforderung. Doch manchmal scheint Wohlstand noch schwerer zu ertragen zu sein als Elend. Wenn die Dinge sehr gut laufen, wird der Mensch euphorisch und stolz. Zuviel Erfolg kann er nicht aushalten, in Momenten großer unerwarteter Freude vergisst er sich oft und riskiert sogar, dass sein Herz versagt.
Es ist besonders schwierig, unter günstigen Umständen ausgeglichen zu bleiben. Wir können mit Hass umgehen, nicht mit Liebe, wir können unangenehme Erfahrungen überstehen, finden es aber oft schwer, angenehme auszuhalten. [Es ist nichts schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen...J.W.v.Goethe.] Wir müssen die Kraft entwickeln, mit beidem umgehen zu können. Wir müssen unseren Charakter so festigen, dass wir weder dem Wohlstand, noch dem Elend nachgeben. Eine solche Entwicklung des Charakters ist möglich. Es gibt viele Beispiele von physischer oder moralischer Stärke im indischen Bewusstsein, die sich ein Durchschnittsmensch kaum vorzustellen vermag.
Hätte Indien diese moralische Stärke nicht besessen, wäre es kaum möglich gewesen, sich gegen eine übermächtige Kolonialmacht aufzulehnen und ihr gewaltlos, ohne Waffen, die verlorene Ehre und die Unabhängigkeit wieder abzuringen. Dieses einzigartige Geschehen war nur durch große moralische Stärke möglich. Sicher spielen auch andere Faktoren eine Rolle, doch war die moralische Kraft der Hauptfaktor. Über ihre Bedeutung sind wir uns viel zu wenig im klaren. Die Macht der Sprache ist nicht weniger gewaltig. Wenn die Lebenskraft mit ihr gekoppelt ist, erhöht sich ihr Einfluss, und die Worte eines Menschen erreichen nichts anderes als ihr Ziel. In Indien gibt es die Lehre von der Vollkommenheit des Wortes. Was auch immer jemand äußert, der über die Vollkommenheit des Wortes verfügt, muss geschehen. Sogar die materielle Welt ist davon betroffen, die Atome werden von den Klangvibrationen eines bedeutenden Menschen zu einer Transformation angeregt, welche bestimmte Aussagen wahr werden lässt. Sogar heutzutage gibt es Menschen, denen Worte wie unausweichliches Schicksal über die Lippen kommen. Das Wort ist mit einer außergewöhnlichen Kraft versehen, was die Entwicklung der Lebenskraft ermöglicht hat.
In Verbindung mit der Lebenskraft kann die Körperkraft in unvorstellbarem Maß zunehmen und die Kraft des Wortes um ein Tausendfaches gesteigert werden, ebenso wie die Kraft des Geistes und des Atems. Die gegenwärtige Situation ist äußerst beklagenswert. Was nützt es, von der Kraft des Atems zu sprechen, wenn wir nicht einmal wissen, wie man richtig einatmet! Bei der korrekten Atmung wölbt sich zuerst der Bauch heraus. Wenn sich lediglich die Brust ausdehnt, atmet man nicht richtig, die Brust dehnt sich von selbst, doch die Vibrationen jedes Atemzuges müssen bis zum Bauch reichen. Das Zwerchfell bewegt sich leicht nach unten, der Bauch wölbt sich beim Einatmen vor und zieht sich beim Ausatmen zusammen. Wenn wir einen Atemzug nehmen, füllen sich die Lungen mit fünf bis sechs Litern Luft. Unter dem Druck der Luft weitet sich der Bauchraum beim Einatmen und schrumpft wieder zusammen, wenn sie entweicht.
Doch versagen wir uns den vollen Umfang der Atmung, wenn wir nicht sorgfältig atmen. Die von Körper, Geist und Sprache benötigte Energie kann falsches Atmen nicht erzeugen. Ohne Brennmaterial kein Feuer, es lodert erst, wenn es vom Atem mit genügend Sauerstoff versorgt wird. Ohne das Brennmaterial des Atems spendet dieser Ofen keine Wärme. Die Körperenergie konstituiert sich weder aus dem Geist, noch aus der Sprache, sondern aus der Atemkraft. Je nachhaltiger wir atmen, desto stärker wird unsere körperliche Konstitution. Jeder kann das für sich ausprobieren: Wenn man einen bestimmten Teil des Körpers stärken und eine Erkrankung los werden möchte, setzt man sich zehn Minuten ruhig hin und atmet gleichmäßig und tief, wobei man seine Aufmerksamkeit auf den Teil konzentriert, den man heilen und kräftigen möchte. Nach einigen Tagen fühlt man sich kräftiger, und die mit der Erkrankung verbundene Schwäche nimmt allmählich ab. Natürlich muss man Geduld haben und darf nicht erwarten, dass alles in ein oder zwei Tagen vonstatten geht. Doch bei kontinuierlicher Praxis über einen längeren Zeitraum wird sich der Zustand allmählich bessern. Dafür braucht man die Unterstützung des Atems, den für die Energieerzeugung erforderlichen Kraftstoff.
Energiegewinnung ist eines der größten Probleme in der Welt. Könnten wir Licht ohne Energie erzeugen, würden alle Forschungen auf dem Gebiet der Energie ihre Berechtigung verlieren. Ohne Energie kein Kochen, kein Lampenlicht, keine Ventilatoren, keine Heizung. Für alles brauchen wir Energie. Der Atem ist die Quelle unserer Lebensenergie, solange diese Quelle nicht erkannt und erschlossen wird, brennt der Ofen nicht, und weder der Körper, noch der Geist und die Sprache erhalten die nötige Energie. Deshalb müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die uns innewohnenden Energiequellen richten.
Erwecken wir die Atemenergie zu neuer Stärke. Tiefes Atmen ist die geeignete Methode dafür. Wer nur kurz atmet, kann seine Atemkraft nicht entwickeln. Manche nehmen kurze Atemzüge, eigentlich viel zu kurze. Sie holen bis zu 22 mal in der Minute Luft. Viele Menschen beschleunigen die Atemzüge, anstatt sie zu verlangsamen. Bei langsamer Atembewegung dauert der Atemzug länger, und die Anzahl der Atemzüge pro Minute vermindert sich. Je weniger Atemzüge, desto mehr wird die Lebenskraft gestärkt und desto länger die Lebensspanne. Je mehr Atemzüge, desto mehr Lebensenergie wird verbraucht, was die Lebensspanne verkürzt.
Im Tiefschlaf steigert sich die Atemfrequenz auf 20-22 Atemzüge in der Minute gegenüber 15-16 im Wachzustand. Bei Erregungszuständen steigert sie sich noch mehr, was die Lebenskraft insgesamt beeinträchtigt, denn es muss mehr Lebensenergie für die Atmung aufgewendet werden. Wer gesund leben und nicht vor seiner Zeit sterben möchte, sollte sich mit der Bedeutung des nachhaltigen Atmens beschäftigen und es praktizieren. Durch tiefes Atemholen kann man die Atemzüge von 15 auf 10-8-7-5-2 in der Minute senken. Die Kraft des Atems wird bedeutend gesteigert und der Verbrauch an Lebensenergie signifikant gesenkt.
Eines der größten Missverständnisse gibt es im Bildungsbereich. Wir betrachten die Geschichte der Wissenschaft als die Geschichte der letzten vier Jahrhunderte und die Wissenschaft als westliche Errungenschaft. Inder werden nicht als wissenschaftlich orientiert angesehen, indische Wissenschaftler werden selten erwähnt. Obwohl wir Hunderte von Wissenschaftlern mit großen wissenschaftlichen Entdeckungen hervorgebracht haben, finden sie kaum Erwähnung in der Geschichte der Wissenschaft. Erst in jüngster Zeit wurden einige Namen bekannt. An manchen Universitäten werden indische Wissenschaftler mit großen wissenschaftlichen Entdeckungen in Verbindung gebracht und gelegentlich wurde ein Fachbereich für antike Wissenschaften eingerichtet. Dennoch machten indische Wissenschaftsasketen erstaunliche Entdeckungen, mit denen es nicht einmal die moderne medizinische Wissenschaft aufnehmen kann. Unser Nervensystem verkörpert in sich zwei separate Ordnungen, eine willensgesteuerte und eine autonome, willensunabhängige. Für die Funktionen beider Nervensysteme muss Energie aufgewendet werden. Die antiken Asketen erkannten, dass wir nicht nur die Arbeit des willensgesteuerten, sondern auch die des autonomen Nervensystems beeinflussen können.
Wir können unseren Atem anhalten, die Körpertemperatur senken, die metabolischen Prozesse vermindern und sogar die Frequenz der Herzschläge verringern, also die autonomen Körperprozesse kontrollieren. Somit können wir auch den Aufwand des Körpers an Lebensenergie regulieren. Doch die antiken Wissenschaftsasketen haben vor Tausenden von Jahren erkannt, dass die dem autonomen Nervensystem zur Verfügung gestellte Lebenskraft erhalten blieb, wenn sie von diesem nicht in Anspruch genommen wurde. Die über einen bestimmten Zeitraum nicht abgerufene Lebensenergie bewirkte eine diesem Zeitraum entsprechende Verlängerung der Lebensspanne. Diese wichtige Entdeckung geriet ebenso in Vergessenheit wie die Beschreibung ihrer Umsetzung in die Praxis. Sie konnte bis heute nicht wieder entdeckt werden. Wir wissen nicht mehr, wie man die Atemfrequenz verringert, das Nervensystem unter Kontrolle bringt, die metabolischen Prozesse verlangsamt und die Körpertemperatur senkt.
Doch kehren wir in die Gegenwart zurück. Das Gewahrsein in der Gegenwart ist sehr wichtig. Die Hinwendung zur Gegenwart ist integraler Bestandteil des Meditationsprozesses. Je mehr der Mensch in der Gegenwart lebt, desto stärker wird er. Doch das Gegenwärtigsein allein genügt nicht, damit wir unser Ziel erreichen. Manchmal muss man in die Vergangenheit zurückkehren oder sich eingehend mit der Zukunft beschäftigen. Wir leben unser Leben auf der Grundlage von Erinnerung, Meditation und Imagination, jedes für sich allein genügt aber nicht. Die Erinnerung ist der Prozess, in die Vergangenheit zurückzukehren, die Imagination ist auf die Zukunft gerichtet, während der Meditationsprozess uns in die Gegenwart bringt. Wir brauchen die Synthese aus allen dreien. Die Vergangenheit birgt ihre eigene Qualität. Mit ihrer Hilfe können wir vielleicht herausfinden, welche Methoden unsere Vorfahren praktiziert haben, um ihre Lebensenergie zu steigern.
Wir haben Mittel und Wege erörtert, wie man die Lebenskraft stärken kann. Dieser Entwicklungsprozess geschieht unter drei Aspekten: Stärkung des Körpers, des Geistes und der Sprache. Sie gewinnt man am besten durch die Methode des nachhaltigen Atmens. Mit dieser Methode kann ein wichtiger neuer Bereich für die Ausbildung erschlossen werden, denn zusätzlich zur Ausbildung des Intellekts eröffnet sie neue Horizonte der Effektivität in der Charakterbildung. Die intellektuelle Ausbildung ist wichtig, doch ihre Ausschließlichkeit nicht angemessen. Andere Faktoren müssen in Erwägung gezogen werden. Wenn nur der Intellekt, nicht aber Körper und Sprache ausgebildet werden, kann nichts zustande gebracht werden. Erst heute kam ein sehr reicher Mann zu mir, der über viele wertvolle Besitztümer verfügt und dessen Körper sehr krank ist. Ich frage mich, was der Nutzen seines Reichtums angesichts von soviel Leid ist. Einseitige Entwicklung ist einem gesunden Leben abträglich, intellektuelle Entwicklung muss mit der Entwicklung von Körper und Geist, sowie der Sprache einhergehen. Der erste Schritt auf diesem Weg ist die Steigerung der Lebensenergie durch nachhaltiges Atmen.