Nach Auffassung der Jainas ist die Lehre ihrer Religion vom ersten Tirthankara Rishabha niedergelegt worden, so daß zu Lebzeiten seiner Nachfolger die heiligen Schriften im Grunde stets vorhanden waren und lediglich neu verkündet werden mußten. Im Laufe der Zeit gingen Teile der Überlieferung jedoch verloren, weshalb schließlich eine Neuordung der Schriften notwendig wurde. Zu diesem Zweck wurde während der Herrschaft Chandraguptas (um 300 v.u.Z.) ein Konzil in Pataliputra veranstaltet.
Als verbindlich galten überwiegend jene Überlieferungen, die den Predigten Mahaviras zugeschrieben wurden und die von seinen Schülern gesammelt und in Sutrenform mündlich tradiert worden sein sollen. So war Mahaviras Lehre vermutlich über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten in 14 Purvas überliefert worden, von denen zum Zeitpunkt des Konzils jedoch nur noch Bruchstücke vorhanden waren. Zunächst wurden nun die ältesten und wichtigsten Texte unter den vollständig überlieferten Schriften in 11 Angas gegliedert. Diesem Textkorpus wurden dann die Fragmente der 14 Purvas als 12. Anga angehängt.
Jene Gruppe der Jaina Gemeinschaft, die unter Führung Bhadrabahus nach Süden ausgewandert war und sich dort zum Zeitpunkt des Konzils von Pataliputra noch aufhielt, verweigerte nach ihrer Rückkehr die Anerkennung dieser Textauswahl, was die Spaltung der Jaina Gemeinde in Shvetambaras und Digambaras vorantrieb. Bis heute werden die kanonischen Schriften nur von den Shvetambaras akkzeptiert, während die Digambaras davon ausgehen, daß der ursprüngliche Kanon zu einem unbekannten Zeitpunkt verloren ging. An die Stelle des alten Kanons treten bei den Digambaras eine Reihe von Schriften, die als autoritative Darstellungen der Lehre gelten. [1]
- siehe: Digambara Kanon
Seine endgültige Fixierung erfuhr der Kanon, der von nun an als Shvetambara Kanon bezeichnet werden darf, im Jahre 450 u.Z. auf dem Konzil von Vallabhi. Spätestens mit Abschluß dieses Konzils war das Schisma der Jaina Gemeinde und die damit verbundene Trennung in Shvetambaras und Digambaras endgültig vollzogen.
Der in Ardhamagadhi verfaßte Shvetambara Kanon besteht aus folgenden Schriften: [2]
I. Angas:
- Acharanga
- Sutrakritanga
- Sthananga
- Samavayanga
- Vyakhyaprajnapti oder Bhagavati
- Jnatadharmakatha
- Upasakadasha
- Antakritadasha
- Anuttaraupapatikadasha
- Prashnavyakaranani
- Vipakasutra oder Vipakashruta
- Drishtivada
II. Upangas: [3]
- Aupapatika oder Upapadika
- Rajaprashniya
- Jivajivabhigama
- Prajnapanasutra
- Suryaprajnapti
- Chandraprajnapti
- Jambudvipaprajnapti
- Nirayavali
- Kalpavatansika
- Pushpika
- Pushpachulika
- Vrishnidasha
III. Prakirnas:
- Chatuhsharana
- Aturapratyakhyana
- Bhaktaparijna
- Samstara
- Tandulavaitalika
- Chandavija
- Devendrastava
- Ganividya
- Mahapratyakhyana
- Virastava
IV. Chedasutras:
- Nishitha
- Mahanishitha
- Vyavahara
- Acharadasha
- Brihatsadhukalpasutra oder Brihatkalpa
- Panchakalpa
V. Mulasutras:
- Uttaradhyayana
- Avashyaka
- Dashavaikalika
- Pindaniryukti
VI. Chulikasutras: [4]
- Nandi
- Anuyogadvara
Helmuth v. Glasenapp: Der Jainismus. Eine indische Erlösungsreligion, Berlin: Alf Häger Verlag, 1925 (Nachdruck: Hildesheim: Olms Verlag, 1984): S. 104.
Die Titel der einzelnen Texte sind in dieser Übersicht einheitlich in Sanskrit wiedergegeben. Dabei ist zu beachten, daß die Sanskritbezeichnung aus dem Prakrit rückübersetzt wurde, weshalb im Einzelfall Uneinigkeit über die korrekte Schreibung herrscht.
Die Upangas 8-12 bildeten unter dem Prakrit Titel Nirayvaliyao ursprünglich wohl einen einzigen Text. Vgl. Klaus Mylius: Geschichte der altindischen Literatur, Bern/München/Wien: Scherz, 1988, S. 385.