Wir hielten vor dem Seiteneingang des Tempels, an dem eine Leiter lehnte.
Der erste Tempel, den wir auf unserer nachmittäglichen Tempeltour in Delhi besuchten, heißt Chhoti Dadabari Jain Mandir und ist ein zeitgenössischer Shvetambara Kharatara Gaccha Tempel. Kharatara Gaccha ist eine bilderverehrende & tempelbesuchende Gemeinschaft im Jainismus, die zu den Murtipujakas & Mandirmargi gehört. Auch die Terapanthi, deren Gemeinschaft wir angehören, sind Shvetambaras, verzichten aber auf Tempel und Bilderverehrung. Für uns also eine Art Neuland, das es zu erkunden und verstehen lernen galt.
Wie schon einige Besucher vor uns, entledigten wir uns erst einmal unserer Schuhe. Nicht nur das Betreten eines Tempels, auch das Betreten einer Wohnung oder eines Privathauses mit Schuhen ist ein absolutes No-Go in Indien. Deshalb sieht man auch einige Paar Schuhe vor dem Seiteneingang des Tempels. Nicht nur Schuhe, sondern auch Gegenstände aus Leder wie Gürtel, Handtaschen oder Geldbörsen müssen vor Betreten eines Jain Tempels abgelegt, bzw. dem Pförtner in Obhut gegeben werden. Der Grund dafür ist Ahimsa, das Prinzip der Gewaltlosigkeit, das von allen Jainas höchstmöglich beachtet wird.
An der Fassade des Tempels, den wir uns anschickten zu besuchen, lehnte außerdem eine mit Stricken zusammengebundene Holzleiter. Auf den ersten Blick wirkte diese Ansammlung von Objekten ein wenig merkwürdig.
Die Leiter war aber nicht vergessen worden, wie man vielleicht denken könnte…
Ebenso wie die Schuhe sagte sie etwas über diesen Tempel aus. Die Leiter zeigte, dass an diesem Tempel noch gearbeitet wurde, er also noch nicht vollendet war. Was an einem von Menschen errichteten Bau, auch wenn es ein Sakralbau ist, nicht verwundert, denn welches von Menschen angefertigte Objekt ist schon vollendet. Als vollendet werden im speziellen Fall eines Jain Tempels die angesehen, zu deren Ehren der Tempel errichtet worden ist. Wem zu Ehren dieser Tempel errichtet wurde, erfuhren wir im innersten Bereich des Tempels.
An der Fassade des Tempels wurde noch gearbeitet…
Als wir unsere Blicke an der Fassade entlangschweifen ließen, schmunzelten wir über diesen Blick hinter die Kulissen. Ein auf Tempelfassaden spezialisierter Kunsthandwerker versah Detaildarstellungen an der Fassade hingebungsvoll mit Farben. Diese Arbeit erfordert große Präzision und Erfahrung. Das Bemalen von figürlichen Darstellungen an Fassaden gilt als besonders schwierig, weil man unsorgfältige oder gar fehlerhafte Farbgebung sofort sieht. Zudem wird die Farbschicht durch womöglich mehrmaliges Entfernen und Übermalen zu dick, so dass wieder neue Schwierigkeiten zu bewältigen sind. All das war hier nicht der Fall, dieser Mann verstand etwas von seiner Handwerkskunst.
So farbenfroh sah die rechte Seite des Tempels noch nicht aus.
An den durch Witterungseinflüssen noch nicht beeinträchtigten Farben sowie dem fast strahlend weißen Marmor kann man erkennen, dass der Tempel ein Bauwerk des 21. Jahrhunderts ist. Am Baustil könnte man das nicht erkennen, denn Jain Tempel werden auch in der Gegenwart nach bewährten Methoden und mit ebensolchen Materialien errichtet.
Am ersten Treppenabsatz konnte man die fertige und die unfertige Seite der Fassade deutlich voneinander unterscheiden.
Dies war nun der erste Tempel, den wir auf dieser Indienreise besuchten. Folgen sollten ihm noch einige, dieser war ein besonders schöner Auftakt.
Den Eingang des Jain Tempels bilden hier von Säulen flankierte Torbögen, gefolgt von prächtig ausgestatteten Elefantenskulpturen. Torbögen symbolisieren den Eintritt in die feinstoffliche geistige Welt, Elefantendarstellungen sind in Indien Hinweise auf ein Bauwerk von hoher Bedeutung, hier besonders im übertragenen Sinn, bzw. in feinstofflicher Hinsicht.[1] Swami Dharmananda führte uns direkt in das obere Stockwerk des Tempels.
Der Manager des Tempels erwartete uns dort bereits, und wir erhielten die Erlaubnis zum Fotografieren. Unseren Rundgang begannen wir im oberen Stockwerk und waren erst einmal überwältigt von der Fülle der Eindrücke. Die Türen rechts und links der geöffneten Eingangstür sind aus Silber.
Wir betraten eine helle, reichverzierte Halle, in deren Mitte sich die garbhagriha, das Sanktum (rechts im Bild) befand.
Das Sanktum ist die innerste Sphäre des Tempels, in der sich die Skulptur des Tirthankara befindet, dem der Tempel geweiht ist. Flankiert wird diese Skulptur meistens von zwei kleineren Figuren mit Darstellungen anderer Tirthankaras. Doch bevor man sich dem Sanktum nähert, fühlt man sich zuerst einmal ergriffen von den feinstofflichen Energien, die sich in der Gestaltung der Halle manifestieren.
Garbhagriha
Im Sanktum des dem 15. Tirthankara Dharmanatha (M.) geweihten Tempels ist seine Skulptur von (l.) der des 22. Tirthankara Neminatha und (r.) der des 16. Tirthankara Shantinatha flankiert.
In jedem Jain Tempel ist das Sanktum wie ein kleiner Tempel in dem großen Tempel. Hier waren die aus poliertem Marmor gefertigten Statuen umgeben von farbigen Darstellungen himmlischer Musiker und Tänzerinnen. Die Sockel der Statuen waren mit Elefantendarstellungen und Wächterfiguren verziert, davor 7 vergoldete, kleinere Skulpturen anderer Tirthankaras. Alle waren zudem mit Blütenblättern oder aneinander geflochtenen Blüten frischer Rosen dekoriert.
In der Umrundung des Sanktums, beginnend links im Uhrzeigersinn, manifestiert sich nicht nur die Verehrung für die vollkommenen Lehrer, sondern das Umrunden bewirkt für den Anhänger zusammen mit der gedanklichen Konzentration auf den feinstofflichen, erhöhenden und erhabenen Aspekt des menschlichen Lebens auch eine Auflösung von Karmapartikeln, welche die ursprüngliche Reinheit und Allwissenheit der Seele bedeckt halten. Ein Besuch in einem Jain Tempel dient der Gewahrwerdung der nur den Menschen zugänglichen Aspekte subtiler Wirkkräfte im Leben.
Ein marmorner Übergang führte von dem Teil des Tempels, in dem das Sanktum war, auf gleicher Höhe zu einem anderen Bauwerk. Äußerlich viel schlichter gehalten, die Fassade bestand aus schlichten weißen Marmorplatten. Auch im Inneren beeindruckte die eher einfach ausgestattete, lichtdurchflutete und sehr weitläufige und hohe Halle.
In der Mitte befand sich ein offener Pavillon.
In diesem die farbenfrohe Darstellung eines Dada Guru
Hier nun erfuhren wir etwas über die Besonderheit des Chhoti Dadabari Jain Mandir, die sich schon in seinem Namen offenbart. Dadabari ist die Bezeichnung für ein parkartiges Gelände, auf dem ein Tempelkomplex zu Ehren der Dada Gurus errichtet worden ist. Zu einem derartigen Tempelkomplex gehören der einem Tirthankara geweihte Tempel, ein zu Ehren der Dada Gurus errichtetes, schmuckloseres Gebäude als der Tempel sowie Bildungseinrichtungen mit Unterkunftmöglichkeiten. In diesem Dadabari fanden wir noch andere Darstellungen der Dada Gurus neben vielen wunderschönen Darstellungen von Tirthankaras, siehe:
Ein Jain Tempel wird immer zur Ehre eines bestimmten Tirthankaras errichtet und sein Platz befindet sich meist im Mittelpunkt, dem Sanktum des Gebäudes. Im Jainismus sind Tirthankaras verehrungswürdig, da sie den Pfad der Selbstreinigung & den Pfad der Befreiung erfolgreich zurückgelegt und so, frei von allem Karma, Erleuchtung erlangt haben.
Befreite Seelen heißen Siddha. Und diejenigen von ihnen, die vor ihrem Weggang den Zurückbleibenden die Lehre des Jainismus wiederverkündet & damit erneuert haben, heißen Tirthankara.
Diese letzte „Predigt“ ist jeweils ein höchst kosmisches Ereignis, dem Lebewesen von nah & fern (nicht nur Götter, Menschen & Tiere) beiwohnen. Der Tirthankara erläutert dabei die Wirklichkeit auf höchster Ebene und wird von allen Lebewesen ohne sprachliche Umwege direkt vernommen und verstanden.
Der letzte Tirthankara dieses Zeitalters war Mahavira, der 24.
Im Jainismus ist die Seele ursprünglich und wird unabhängig vom Körper gesehen. Zur Verkörperung, der Geburt, führt ein Prozess über feinstoffliche Ebenen hinweg. Ursächlich verantwortlich hierfür sind Karma-Partikel, die man sich als allerfeinste subatomare Teilchen (mit Masse Null) vorstellen kann, die viele Verbindungen mit der Seele eingehen und diese durch fortwährende Strukturbildung in Richtung Materialisierung bewegen.
Ein Tirthankara hat diesen Prozess zu seiner Befreiung umgekehrt durchlaufen und seine Lehre beinhaltet das knowhow (das richtige Wissen) für die Lösung aus den karmischen Bindungen und die daraus abgeleiteten Anleitungen und Regeln für das Alltagsleben, die so einfach sind, daß sie auch der einfachste Mensch beherzigen kann, wenn er die Kraft des Glaubens besitzt, um diesen langen Weg zu beschreiten – d.h. seinem vorangegangenen Tirthankara zu folgen.
All dies fliesst in einem Tempel zu einer sehr dichten Atmosphäre zusammen. Nicht nur die Figuren der Tirthankara auch die Innenräume des Tempels sind kraftvoll aufgeladen von diesem Geist und stärken so den Gläubigen. Es sind feine Schwingungen denen man nachspüren kann und die in die Raum- und Zeitlosigkeit führen. Bilder und Muster erscheinen vor dem inneren Auge dessen, der sich in die Stille versenkt und Zwiesprache mit der reinen Seele sucht.
Tirthankaras geben die Richtung vor. Das Herz kann ihr folgen. Der Verstand nicht. Er ist nicht dafür geschaffen, denn es geht über ihn hinaus und das ist das Problem für einen ausschließlich rational orientierten Menschen.
Cris Jain Geerdes