Der Kharatara Gaccha, nach dem Tapa Gaccha der wichtigste Gaccha der Shvetambaras, wurde der Überlieferung zufolge im 11. Jh. von dem Jaina Mönch Vardhamana (gest. 1031) gegründet, über dessen Leben und Herkunft nur wenig bekannt ist [1] Vardhamana war möglicherweise ein Schüler Uddyotanas [2] und verstieß einst seinen Lehrer, da dieser gemäß einer damals herrschenden Sitte in einem Jaina Tempel lebte und somit nicht dem Ideal des Wanderasketen entsprach. Dieser Haltung folgend betrachteten die Mitglieder des Kharatara Gacchas die in einem Tempel lebenden Jaina Mönche als Häretiker.
Die Lehre des Kharatara Gaccha ist sehr streng an den asketischen Wurzeln des Jainismus ausgerichtet und neigt zu einer orthodoxen Auslegung des Jaina Kanons (agama). Diese Einstellung spiegelt sich auch in den Schriften der wichtigsten Lehrer des Kharatara Gaccha.
Der Name des Gacchas soll der Überlieferung zufolge auf Jineshvara, einen Schüler Vardhamanas, zurückgehen, dem nach zahlreichen Wortgefechten mit Angehörigen gegnerischer Jaina Gruppen der Ehrentitel kharatara ("sehr scharfsinnig") verliehen wurde.
Neben der orthodoxen Grundhaltung integriert das Glaubenssystem des Kharatara Gachha auch Elemente der Volksreligion und Volksfrömmigkeit. Dazu gehört beispielsweise der Glaube an Wunder, die von Mönchen und Lehrern des Gaccha vollführt worden sein sollen, sowie die Verehrung der Dada Gurus. Von Jinnadatta (1075-1154), dem wichtigsten Lehrer des Kharatara Gaccha wird berichtet, er habe Tote erweckt und den Fortbestand des Gacchas durch magische Verbindung mit göttlichen Wesen erreicht. Nach seinem Tod wurde Jinadatta zu einem der Dada Gurus erhöht. Diese Heiligen, die in menschliche Angelegenheiten eingreifen und Wünsche erfüllen können, werden zumeist in den Dadabaris - Gartenanlagen in der Nähe der Tempel - verehrt. Die Anbetung der Dada Gurus ist häufig mit dem Wünsch nach Glück und Wohlstand verbunden.
Im 13. und 14. Jh. kam es zu einer starken Expansion des Kharatara Gaccha. Insbesondere die missionarischen Aktivitäten in Sindh durch Jinadatta und im westlichen Indien durch Jinakushala (1279-1331) führten zu einer Stärkung der Bewegung. Häufig waren es die den missionierenden Mönchen zugeschriebenen Wunder, die zum Übertritt einzelner Personen oder ganzer Dörfer führten. Ein Beispiel hierfür ist die Kaste der Oswal in Rajasthan, die nach Meinung einiger Historiker zunächst dem Kharatara Gaccha anhingen, bevor sie sich zu einer eigenständigen Gruppierung formierten. [3]
Im 16. Jh. reformierte Jinacandra (1537-1612) die Bewegung und reiste 1591 nach Lahore, wo er dem Moghulherrscher Akbar eine Zusage zum Schutz der Jaina Tempel vor muslimischen Übergriffen abrang. In diese Zeit fällt auch ein lange währender Konflikt mit dem konkurierenden Tapa Gaccha um die Vorherrschaft über die Tempel auf dem den Jainas heiligen Berg Shatrunjaya in Gujarat.
Heute verteilen sich die Anhänger des Kharatara Gacchas hauptsächlich auf die Unionsstaaten Gujarat und Rajasthan.
Der Kharatara Gaccha wird gegenwärtig geführt von Acharya Shri Jinkailash Sagar Suri
Als Gründungsjahr wird häufig 1024 vorgeschlagen. Eine frühere Gründung des Kharatara Gaccha schlägt Helmuth v. Glasenapp (Der Jainismus. Eine indische Erlösungsreligion, Berlin: Alf Häger Verlag, 1925, S. 351) vor: Er vermutet eine durch Abspaltung erfolgte Gründung bereits nach dem Tode Uddyotanas (gest. 937).
Lawrence A. Babb verweist auf einen Ursprungsmythos der Oswal, wonach die Formierung der Gruppe auf die missionarische Tätigkeit der Acharyas des Kharatara Gaccha zurückgeht (Lawrence A. Babb: Ascetics and Kings in a Jain Ritual Culture, Delhi: Motilal Banarsidass Publishers, 1996, S. 139). Andere Quellen hingegen bringen die Entstehung der Oswal mit dem Upakesha Gaccha in Verbindung. Die Oswal sind heute mehrheitlich Shvetambaras, daneben gibt es aber auch Digambaras und Anhänger der hinduistischen Vaishnavas.