Muni Sumermal aus Ladnun (M) verließ gerade nach der Morgenansprache die Bühne der Versammlungshalle, liebevoll begleitet von zwei Mönchen aus seiner Gruppe, als wir an diesem Morgen eintrafen.
An diesem Morgen hatte Muni Sumermal die Ansprache gehalten. Eine Aufgabe, die Acharya Mahashraman dem Mönch überließ, der ihn bei seinem Eintritt in den Orden mit 11 Jahren zum Mönch geweiht hatte. Auch die Ausführung einer Diksha Zeremonie wird nur sehr wenigen Mönchen vom amtierenden Acharya übertragen. Acharya Mahashraman hatte sich am Nachmittag des Vortages auf den Weg gemacht zu einem vom Dalai Lama einberufenen Treffen verschiedener religiöser Traditionen Indiens. Muni Sumermal hatte ihn sozusagen bei der Morgenansprache vertreten, was wohl häufiger vorkam. Die Morgenansprache und alle anderen Reden in diesem Rahmen werden in Hindi gehalten, ohne Übersetzung konnten wir sie nicht verstehen.
Die Stunde zwischen dem Ende der Morgenansprache und dem Mittagessen ist gut für kurze Besuche bei den Mönchen oder zur Vereinbarung von Terminen für längere Gespräche. Dann sind nur die beiden Mitglieder einer Mönchsgruppe unterwegs, die sich um das Essenholen kümmern, während die anderen Mönche etwas Zeit für Gespräche haben. An diesem Vormittag wollten wir zu Muni Kishan Lal und danach zu Muni Mahendra Kumar.
Auf dem Weg trafen wir Muni Jayant Kumar, den wir seit einigen Jahren kennen, im Treppenhaus.
Muni Sudhansu Kumar begegneten wir zum ersten Mal.
Auch Muni Nay Kumar kannten wir noch nicht.
Es ist immer wieder beeindruckend, mit welcher Freundlichkeit und Offenheit die Munis auch Menschen begegnen, die sie nicht kennen, und mit welcher Heiterkeit sie diejenigen beschenken, die sie kennen. Muni Jayant Kumar lachte, als ich ihn nach seinem Namen fragte und ihn verblüfft anschaute, weil ich ihn nicht sofort erkannt hatte. Auch Munis verändern sich mit den Jahren, nicht nur ihre Haarlänge und Brillen, auch ihre Gesichtszüge. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie jeden als Freund behandeln und sie die klare Botschaft aussenden, niemandes Feind zu sein. Selbst wenn sie alt, pflegebedürftig und körperlich gebrechlich sind, verlieren sie nie diese Ausstrahlung voller Heiterkeit und Verständnis für alle menschlichen Belange. Ihr Lachen grenzt nicht aus, sondern bezieht das Gegenüber ein in diese ihr Leben bestimmende heitere Gelassenheit. Unabhängig von ihrem Lebensalter haben sie diese Haltung der Welt gegenüber, der sie doch häufig schon im Kindesalter entsagen. Entsagung als Entscheidung für den individuellen Lebensweg, nicht Abgrenzung, sondern mitfühlende Begleitung. Nicht nur deshalb ist es bereichernd, ihnen nach längerer Zeit wieder zu begegnen. Sie führen einem ganz praktisch vor Augen, was das Leben aus einem macht, wenn man sich in seiner Lebensführung voll und ganz auf die Abkehr von der Gewalt konzentriert und auf die Ausübung von persönlicher Macht verzichtet, trotz vorhandenen Potentials und damit einhergehender Fähigkeiten. Kein Kultivieren einer Schwäche vor den Herausforderungen der Welt, sondern die Stärke, diesen den Rücken zuzuwenden und den eigenen Weg zu gehen.
Muni Kishan Lal freute sich über unseren Besuch.
Muni Neeraj Kumar auch.
Muni Mahendra Kumar war wie immer an der Arbeit.
Muni Mahendra Kumar nahm sich Zeit für ein Gespräch mit uns und machte eine Pause. Seit vielen Jahren arbeitete er an einer Hindi-Übersetzung des Acarang Sutra der Agamas aus dem Prakrit, die er in diesem Jahr mit Band 5 abschließen konnte. Seitdem übersetzt er dieses gewaltige Werk aus dem Hindi ins Englische. Für die Hindi Übersetzung hatte er sich bereits um eine zeitgemäße Ausdrucksweise bemüht, denn die originalen Aussagen in Prakrit werden heute kaum noch verstanden, sagte er uns. Damit setzt er den Auftrag Acharya Mahashramans um, das von Acharya Tulsi vor 50 Jahren begonnene Projekt fortzuführen, die Lehren der Jain Philosophie dem Studium von Zeitgenossen auf breiter Ebene zugänglich zu machen. Des Weiteren beschäftigt er sich damit, wie man Meditation in den Alltag integrieren kann. Das möchte er in dem Projekt „Institut für holistische Gesundheit“ verwirklichen, das voraussichtlich in naher Zukunft Bestandteil der JVBU Ladnun werden soll. Dort hat Muni Mahendra Kumar seit vielen Jahren den Lehrstuhl des Fachbereichs Preksha Meditation inne. Unter seiner Leitung sollen wissenschaftlich abgesicherte Studien durchgeführt werden mit dem Ziel, die Wirksamkeit von Preksha Meditation in der unterstützenden Gesundheitsvorsorge nachzuweisen. Die aus den Studien gewonnenen Informationen sollen besonders für Schüler und Studenten über Diskussionen im Internet zugänglich gemacht werden. Auf die Frage, was er für wichtig halte, um jungen Menschen den Weg ins Leben zu erleichtern, nannte er 3 Aspekte:
- Anleitung, die eigene Zeit gut für ein erfülltes und sinnvolles Leben zu nutzen.
- Logisch und rational die Dinge nahebringen und erklären.
- Selbst danach leben.
Für die Dauer unseres Gesprächs unterbrach Muni Mahendra Kumar seine Arbeit.
Damit nicht genug ist Muni Mahendra Kumar der Doktorvater von Muni Abhijit Kumar, auf dessen Doktorarbeit „Doctrine of Gods in Jainism – A Critical Study“ (in etwa: Die Lehrmeinung über Götter im Jainismus – Eine kritische Studie) er unsere Aufmerksamkeit lenkte. Muni Abhijit Kumar ist in Muni Mahendra Kumars Gruppe, was heißt, dass Betreuer und Doktorand sich nicht nur wissenschaftlich begegnen, sondern auch die gleiche Lebensentscheidung getroffen haben. Muni Mahendra Kumar empfahl uns, Muni Abhijit Kumar selbst zu seinem Forschungsgebiet zu befragen, was wir am Nachmittag auch taten. Muni Mahendra Kumar hatte bereits in seinem 1991 gemeinsam mit seinem in weltlichen Begriffen Vater geschriebenen Buch „Microcosmology: Atom In Jain Philosophy & Modern Science“ im Kapitel [2.4.6] Atom In Jain Philosophy - Pudgala Classification - (E) Five and or Eight Types, Vaikriya Vargana, (in etwa: Mikrokosmologie – Das Atom in der Jain Philosophie & moderne Wissenschaft, s. books online in der englischen Version) über den sogenannten proteischen Körper geschrieben, dessen sich beispielsweise Götter bedienen. Kennzeichen dieses proteischen Körpers ist die spontane, willentlich durchgeführte Umwandlung der Gestalt. In der Jain Lehre von der Klassifizierung der physikalischen Substanzen heißt es, dass himmlische oder höllische Wesen sich flüchtig auf diese Weise vom feinstofflichen in den grobstofflichen Bereich zeitlich begrenzt materialisieren können. Ihnen ist aber keine andauernde Materialisierung wie etwa einem Menschen während seiner Lebenszeit in einem Körper möglich. Wir verabschiedeten uns von Muni Mahendra Kumar mit dem Vorsatz, über dieses Thema noch einmal mit seinem Doktoranden Muni Abhijit Kumar am Nachmittag zu sprechen. Auf dem Weg zu Sushil Bafana, mit dem zusammen wir zum Mittagessen bei Familie Parakh eingeladen waren, trafen wir Muni Akash Kumar.
Muni Akash Kumar wurde vor 11 Jahren in Surat, Gujarat, von Acharya Mahapragya zum Mönch geweiht. Es war die erste Diksha, die ich miterlebt habe. Muni Akash Kumar war damals 13 Jahre alt.
Christian Geerdes, Ashok Parakh, Sajjan Parakh, Rewanti Devi Parakh, Carla Geerdes
Freunde aus Sri Dungargarh: Ashok Parakh (l), Sushil Bafana.
Wir eilten alle weiter, denn der Zeitpunkt der Einladung zum Essen war gekommen. Familie Parakh stammt ursprünglich aus Sri Dungargarh, Rajasthan, dem Geburtsort Sushil Bafanas. Ashok Parakh ist wie Sushil Bafana ein Anuvrati, was bedeutet, dass sie Mitglieder der Anuvratbewegung sind und in einer beurkundeten Zeremonie Gelübde abgelegt haben, mit denen sie festlegen, auf welcher ethischen Grundlage sie ihr Leben führen wollen. Familie Parakh ist aus wirtschaftlichen Gründen vor vielen Jahren nach Siliguri umgesiedelt und besitzt dort mittlerweile ein gut gehendes kleines Familienunternehmen. Siliguri ist mit 650.000 Einwohnern die größte Stadt des indischen Distrikts Darjeeling. Während des Chaturmas Acharya Mahashramans in Delhi hatten Ashok und seine Frau Sajjan Parakh den Familienrat gebeten, sie von ihren Verpflichtungen zu befreien und sie zu vertreten. Ashok und Sajjan Parakhs erwachsene Kinder versorgen Haus und Geschäfte mit den übrigen zu Hause gebliebenen Familienmitgliedern. Ashok hatte seine Mutter Mutter Rewanti Devi Parakh selbstverständlich gebeten, ihn und seine Frau nach Delhi zu begleiten. Kein Problem bei einer „joint family“ (in etwa: Großfamilie mit mehreren Generationen) wie sie vielfach in Jain Familien noch anzutreffen ist in kleineren Städten oder ländlichen Gemeinden.
Die Köche der Familie Parakh: Ropan (l) und Dwamu, beide in Siliguri geboren.
Ropan und Dwamu waren zweieinhalb Tage mit dem Zug unterwegs und bereits vor dem Eintreffen der 3 Parakhs vor Ort, so dass sie das Quartier und besonders die Küche bis zu deren Ankunft am Flughafen vorbereiten konnten. Die beiden Köche hatten einige unverderbliche Lebensmittel aus Siliguri mitgebracht und die frischen Lebensmittel auf einem von der Familie empfohlenen Markt eingekauft. Das Geld dafür und für die Bezahlung des Quartiers hatte die Familie den beiden Angestellten mitgegeben. Für die Zeit ihres Aufenthaltes in Delhi wohnten und schliefen alle in einer kleinen Siedlung aus behelfsmäßigen Häusern unmittelbar neben dem Campus des ASK, wie sie oft während des Chaturmas errichtet und anschließend wieder abgerissen werden. Ropan und Dwamu strahlten, als wir sagten dass wir verstehen können, dass sie das Vertrauen der Familie genießen. Für uns war dieses ausgezeichnet zubereitete Mittagessen wie das Eintauchen in eine andere, versunkene Welt. Vielleicht hatte man vor langer Zeit so ähnlich gelebt in Indien, wenn man seinen Heiligen folgte. Wir freuten uns jedenfalls darüber, diese Tradition noch als Gäste miterlebt zu haben.
Sadhvi Nirvan Shree besuchten wir auf Anregung Sushil Bafanas nach dem Mittagessen.
Sadhvi Nirvan Shree stammt ebenfalls aus Sri Dungargarh. Offensichtlich ist der Zusammenhalt unter den Jain Familien Rajasthans besonders stark, wenn man aus demselben Ort kommt. Auch wir kannten Sadhvi Nirvan Shree bereits von unserem Besuch bei Sushil Bafana in Kolkata vor 8 Jahren. Sadhvi Nirvan Shree hatte 10 Jahre lang fern von ihrem Acharya in ländlichen Bereichen gewirkt und ist sehr viel herumgekommen. Das Wiedersehen war herzlich und unser Gespräch fand in einer offenen Atmosphäre statt.
Carla Geerdes, Sadhvi Nirvan Shree
Sadhvi Nirvan Shree hat ca. 10.000 km zu Fuß auf dem indischen Subkontinent zurückgelegt. Unzählige Familien hat sie unterwegs getroffen und beraten. Obwohl sie selbst der Welt entsagt hat, kennt sie sich mit zwischenmenschlichen Konflikten sehr gut aus, vor allem mit deren Lösung. Diese liegt ihrer Erfahrung nach darin, dass man seine eigene Einstellung ändert und versucht, die strittige Angelegenheit mit den Augen des anderen zu betrachten. Ihrer Auffassung nach haben Konflikte ihre Ursache in unterschiedlichen mentalen Einstellungen und finden nur dann eine zufriedenstellende Lösung, wenn man sich geistig bewegt, von sich selbst weg, auf den anderen zu. In diesem Sinne zeigt sie den Ratsuchenden deren Grenzen auf und ermuntert sie, diese zu überwinden und über den eigenen Schatten zu springen. Die meisten folgen ihrem Rat und fühlen sich durch die eigene geistige Bewegung aktiviert. Daraus ziehen sie dann die für die Beilegung des Streites nötige Energie.
Auch Sadhvi Yogkshem Prabha aus der Gruppe Sadhvi Nirvan Shrees kennen wir aus Kolkata.
Sadhvi Yogkshem Prabha ist gerade dabei, ihr Hindi Buch mit dem englischen Titel „Concept Of Reality“ (in etwa: Betrachtungsweise der Wirklichkeit) ins Englische zu übersetzen.
Sadhvi Shreshth Prabha (l) und Sadhvi Shantilata hatten unser Gespräch mit den beiden Sadhvis verfolgt und freuten sich, als wir sie nach ihren Namen fragten.
Muni Abhijit Kumar hatte noch Besuch, als wir kamen.
Sogleich nahm er sich Zeit für uns.
Als wir ihn auf seine Doktorarbeit ansprachen, erklärte uns Muni Abhijit Kumar, dass es eine umfangreiche Jain Literatur zu Aspekten gibt, die übernatürliche Wesen betreffen. Ihnen werden bestimmte Merkmale zugeordnet, führte er weiter aus, an denen sie zu erkennen und einzuordnen sind. Zu den übernatürlichen Wesen gehören gemäß jainistischer Auffassung sowohl Götter, als auch Dämonen, die sich jedoch naturgemäß in ihrer Sichtweise auf die Welt und ihrer Einstellung zur Realität unterscheiden. Götter werden zu dem, was sie sind, durch das gute Karma, das sie aufgrund ihrer positiven Emotionen und Handlungen aus vergangenen Leben angehäuft haben. Doch auch sie sind nicht zur Befreiung aus dem Kreislauf der Verkörperungen (Moksha) imstande.
Muni Abhijit Kumar sprach mit uns über seine Arbeit.
Muni Abhijit Kumar hat das Glück, in der Gruppe Muni Mahendra Kumars zu sein, der die meiste Zeit in Ladnun anzutreffen ist, wo er seinen Lehrstuhl innehat. Ist er unterwegs, muss er für seine Arbeit immer eine ziemlich umfangreiche Bibliothek mit sich führen. Deshalb kann er seinem Doktoranden die für ihn relevante Literatur zur Verfügung stellen oder ihn an die Universitätsbibliothek der JVBU verweisen, über deren Bestand er genauestens informiert ist. Zudem verfügt er über ausgezeichnete Kontakte zu Forscherkollegen, die bei der Beschaffung von Sekundärliteratur behilflich sein können, wenn die Umstände es erfordern. Das spart für Muni Abhijit Kumar Wege und Zeit. Inzwischen können dank tätiger Mithilfe kundiger Laienanhänger auch die Mönche und Nonnen das Internet für Recherchen nutzen und so mittelbar von digitalen Publikationen profitieren. Mönchen und Nonnen selbst ist weder die Benutzung eines Computers, noch die eines Handys gestattet. All das erledigen Laienanhänger in ihrem Auftrag.
Muni Abhijit Kumar findet es sehr angenehm, seinen Doktorvater jederzeit ansprechen zu können, wenn er Gedanken mit ihm austauschen möchte.
Muni Ajit Kumar (l) und Muni Amrit Kumar sind auch anerkannte Gelehrte und in der Gruppe Muni Mahendra Kumars.
Es ist schon eine ungewöhnliche Konstellation, die man hier vorfindet. Der Professor ist ein Mönch wie der Doktorand, beide teilen das tägliche Leben miteinander, arbeiten und essen zusammen und schlafen mit den beiden anderen Mönchen der Gruppe in einem Raum. Dieser Raum ist nicht größer als der anderer Mönchsgruppen, muss aber auch die Bücherregale und Schreibtische der Gelehrten aufnehmen. Viel Raum zur persönlichen Ausbreitung hat hier keiner. Dennoch gibt es nie Streit. Das merkt man an der ruhigen, sachlichen und dennoch liebevollen Atmosphäre, die hier herrscht.
Für diesen Tag waren wir so voller Eindrücke und Inspirationen, dass wir uns erst einmal zurückzogen, um alles zu verarbeiten.