Manche Tage scheinen fast endlos zu sein, soviel erlebt und sieht man. So war es an diesem Donnerstag im Februar. Im Nachhinein reiht sich alles chronologisch aneinander, auf den Vormittag folgt der Nachmittag. Dieser Nachmittag schien sich umso mehr auszudehnen, desto länger wir unterwegs waren. Dazu trug nicht zuletzt die träge in der Sonne dahindösende Wüstenlandschaft bei. Gegenden, in denen man kaum Leben vermuten würde, entpuppten sich als besiedelte und sogar bebaute Gebiete. Wovon kann man in einer derartigen Gegend seine Lebensgrundlage bestreiten? Ein Rätsel und zugleich ein Lehrstück über die Überlebensenergie und –künste der hier lebenden Menschen. Sie alle haben Familie, die Kinder gehen zur Schule, jedenfalls meistens, und sie trotzen der unwirtlichen Landschaft schon mit dem Bau einer Unterkunft für alle. Ihre Lebensgrundlage bildet hauptsächlich die Viehwirtschaft, Aufzucht von Schafen, Ziegen, Kamelen und seltener Rindern. Schafe, Ziegen und Kamele werden mithilfe der anspruchslosen Wüsten- und Steppenpflanzen ernährt, Rindern genügt das nicht.
Von Dornengebüsch gegen das Eindringen von Tieren geschützte Behausung kurz hinter Osian, inmitten der typischen Landschaft zwischen Osian und Ostra Parshvanath.
Aufstrebende Ansiedlung: Rundhütten, ein weiß gekalktes Steinhaus, ein Rohbau sowie mehrere Steinhaufen für weitere geplante Steinhäuser.
Ein Dorf mit mehreren Steinhäusern…
…und einem traditionellen Regenwassersammelteich.
Die Entfernung zwischen Osian und Ostra Parshvanath beträgt ca. 84km. Laut Google braucht man dafür ca. 1 Stunde und 45 Minuten. Diese Angabe ist überraschend zutreffend, denn der Zustand der Straßen in dieser ländlichen Gegend ist im Allgemeinen gut, von Löchern und scharfen Kurven im Speziellen einmal abgesehen. Wir jedenfalls brauchten nur 1 Stunde und 30 Minuten für die wenig befahrene Strecke und ernteten viele erstaunte Blicke von Menschen am Straßenrand.
Je näher wir dem Tempelkomplex kamen, desto hügeliger und karger wurde die Landschaft.
Ostra Parshvanath Jaina Tempel
Die Ansiedlungen und Dörfer lagen immer weiter auseinander, und häufig sahen wir Fußgänger am Rand der Straße rasten oder beherzten Schrittes in Richtung des nächsten Dorfes wandern. Viel befahren wirkten die Straßen hier nicht, uns begegneten nur wenige Autos, meistens mit Ladefläche. Autos werden hier eher zur Beförderung von Lasten, Baumaterialien oder Tieren als zum Transport von Personen benutzt und ersetzen zunehmend Lasttiere wie Kamele und Esel. Wir fuhren immer weiter in Richtung der zuerst hinter Gangani am Horizont sichtbaren Hügel, nirgendwo ein Hinweisschild auf den Ostra Parshvanath Tempel. Man muss einfach wissen, wo er liegt. Zum Glück kannten die Suranas den Weg, sie waren sicherlich schon einmal dort gewesen. Als ich begann mich zu fragen, ob es noch weit war, hielten wir plötzlich. Geschafft! Zu sehen war erst einmal nichts außer dem von Hügeln umgebenen Tal. Zu hören war auch nichts, diese Stille! Wir gingen ein Stück und bogen in eine kleine Allee ein. An deren Ende schimmerte ein weißer Marmortempel in der Sonne.
Der neugebaute Parshvanath Tempel aus weißem Marmor
Haupteingang des neuen Parshvanath Tempels, rechts im Hintergrund der bereits fertiggestellte Pavillon für die Dada Gurus und die Shikhara des restaurierten alten Parshvanath Tempels
2009 wurde mit dem Bau des neuen Parshvanath Tempels aus weißem Marmor auf Anregung des Shvetambara Acharya Dharamdhurandhar Suri Swami, einem Schüler des berühmten Acharya Vijay Vallabh Suri, begonnen. Als Acharya Dharamdhurandar Suri 2003 den alten Ostra Parshvanath Tempel besuchte, hatte er wahrgenommen, dass sich in diesem Tal die feinstofflichen Schwingungen besonders verdichten und sich hier die stoffliche und die feinstoffliche Welt begegnen. Doch er sah auch, welchem Grad des Verfalls dieser Tempel bereits ausgesetzt war und motivierte seine Anhänger nicht nur, den alten Tempel zu restaurieren, sondern auch noch einen ganzen Tempelkomplex neu zu gestalten. Dazu gehört neben dem neuen Parshvanath Tempel ein neuer Tempel für die Bheru ji genannten Berg- und Erdgeister - Batuk Bhairav Mandir -, sowie eine große Bibliothek zum Studium der Schriften und ein Dharmshala für die Unterbringung von Pilgern, Studenten und Gelehrten. Nach Beendigung der Sanierungsarbeiten des alten Parshvanath Tempels im Jahr 2008 wurde ein Jahr später mit der Erweiterung der Tempelanlage begonnen.
Halle des neuen Parshvanath Tempels mit Blick auf Garbhagriha
Betritt man die geräumige Halle des neuen Parshvanath Tempels, fällt der Blick auf die das Tor zum Garbhagriha flankierenden Darstellungen des 01. Tirthankara Rishabha, während er im Samavasarana seine durch die Erleuchtung erlangten Einsichten an seine Zuhörer weitergibt. Vor dem Eingang zum Garbhagriha und links davon stehen Devotionalien.
Mulnayak: 23. Tirthankara Parshvanath, flankiert von seinen Beschützern, den Schlangengöttern Padmavati (r) und Devendra (l)
Diese Darstellung des 23. Tirthankara Parshvanath bezieht sich auf die Überlieferung, dass der 23. Tirthankara zwei halbverbrannte Schlangen voller Mitgefühl gesegnet und durch Rezitation des Namokar Mantras ihre durch das Verbrennen im Feuer hervorgerufenen Schmerzen gelindert hatte. Ein dem Parshvanath feindlich gesinnter Neider hatte den Stapel Holz angezündet, in den sich die beiden Schlangen vor ihm gerettet hatten. Ihren Tod konnte Parshvanath nicht mehr verhindern, doch wurden sie nach Verlassen ihrer irdischen Körper zu Schlangengöttern, die ihn fortan vor den Nachstellungen seines Feindes und Neiders beschützten.
Rechts neben der Eingangstür zum Tempel befindet sich ein Schrein des 01. Tirthankara Rishabha.
Links neben der Eingangstür wurde ein Schrein zu Ehren des 08. Tirthankara Chandraprabha errichtet.
Seitenansicht des neuen Parshvanath Tempels, links davon die im Bau begriffene Bibliothek mit Dharmshala
Blick vom Seitenausgang des neuen Parshvanath Tempels auf die umgebenden Hügel und den bereits fertiggestellten Pavillon für die Dada Gurus, die Shikhara des alten Parshvanath Tempels sowie den Neubau des Batuk Bhairav Mandir links von der Shikhara
Ostra Parshvanath Tempel mit jahrhundertealten Baum davor
Shri Surana vor dem jahrhundertealten Baum mit Kinderwunsch symbolisierenden farbigen Tüchern
Mulnayak des alten Tempels:
23. Tirthankara Parshvanath. Über dem Eingang zum Garbhagriha sind 3 Tirthankaras dargestellt: Parshvanath (M), 01. Tirthankara Rishabha (l), 24. Tirthankara Mahavira (r).
Acharya Dharamdhurandhar hat mit seiner Wahrnehmung, dass es sich bei Ostra Parshvanath um einen besonders heiligen Ort handelt, bestimmt vielen Jaina Paaren mit Kinderwunsch aus dem Herzen gesprochen. Der Legende nach werden die den Tempel umgebenden Hügel seit Jahrhunderten von einem wunderwirkenden Berg- und Erdgeist Clan namens Bheru ji bewohnt, die alle erhören, die sie um Erfüllung ihres Kinderwunsches bitten. Schon in grauer Vorzeit sollen hier Fruchtbarkeitsrituale stattgefunden haben. In den das Tal umgebenden Hügeln haben viele Mönche in Höhlen gelebt. Auch für die Hindus ist dieser Ort heilig, in einer Höhle ist heute noch ein Shivatempel zur Erinnerung an den Sadhu, der hier Erleuchtung erlangt hatte.
Seitenansicht des alten Parshvanath Tempels, links der Wunschbaum, der so alt sein soll wie der alte Tempel
Der Bheru ji Clan in dem im Bau befindlichen Batuk Bhairav Mandir
Shri Surana & Christian Geerdes ehren die Bheru jis
Auch Carla Geerdes übergießt die Bheru jis mit Öl
Als wir uns zum Gehen wandten, kam der Manager des Tempels auf unsere kleine Gruppe zu. Er war gerade erst zurückgekehrt von einer Besorgung. Er lud uns zur Besichtigung der Bildergalerie im Verwaltungsgebäude und zum Tee ein. Wir plauderten ein wenig, und ich drückte meine Freude darüber aus, dass wir den Tempel gefunden hatten, und dieser auch zur Besichtigung offen war. Der Manager des Tempels lächelte fein dazu und sagte nur: „Die Bheru jis haben euch gerufen.“ Alles klar, daher ging alles so glatt, und wir hatten keine Probleme bekommen. Denn leicht zu finden ist der Tempel wahrlich nicht. Ich stellte mir nur den Taxifahrer vor, der sich hier nicht auskannte, und dem niemand sagen konnte, wo der Tempel ist, weil niemand ihn kennt. Im Stillen dankte ich für die glücklichen Fügungen und verneigte mich vor Acharya Dharamdhurandhar. Ohne ihn wäre das alles nicht möglich gewesen.
Acharya Dharamdhurandhar Suri