Dank moderner Mobiltelefontechnik tauchte plötzlich unser Fahrer mitsamt dem Auto im Gewühl auf und nach rekordverdächtig schnellem Einstieg lehnten wir uns in Erwartung einer längeren Autofahrt erst einmal entspannt zurück. Wenn es einen nichts weiter angeht, hat das rege Treiben auf Delhis Straßen durchaus Unterhaltungswert. Die vielen Szenen menschlicher Begegnungen lassen das Kopfkino auf Hochtouren laufen. Abrupt endete mein Film, als der Wagen ohne äußeren Anlass die eben erst wieder mühsam aufgenommene Fahrt verlangsamte. Nicht nur das, inmitten einer größeren Gruppe, wie es schien, erklang der fröhliche Ruf: „Aussteigen!“
Bei näherem Hinsehen hatte die größere Gruppe nur den Aufenthalt auf der Straße gemeinsam, kurz, die Leute gehörten nicht zusammen und bildeten durch ihre Anzahl und ihr undurchschaubares Gewoge allein schon so etwas wie eine auf den ersten Blick unüberwindliche Barriere. Dieses unerwartete Bad in der Menge war für mich erst einmal Grund genug, die Lage aus der Deckung einer etwas unbelebteren Ecke zu sondieren. Rasch erkannte ich, dass ich den Anschluss an unsere Dreiergruppe keinesfalls verlieren sollte, wollte ich nicht im Gewimmel verloren gehen und allen, besonders mir, einen Haufen Probleme bereiten. Glücklicherweise überragt Christian Geerdes in der Regel in Indien sowieso die meisten Menschen um Haupteslänge. Also schnell handeln, Flucht nach vorn, ab von der Hauptstraße und hinein ins Getümmel des Kinari Bazars in Old Delhi.
Das hatte ich mir allerdings schwieriger vorgestellt. Sobald sich jemand in Bewegung setzte, tat sich für Sekunden ein kleiner Durchgang auf, der sich im Reißverschlusssystem in Bewegungsrichtung fortsetzte. Das forderte die ganze Konzentration für nicht mit den Gegebenheiten vertraute Fußgänger! Hier hat jeder ein Ziel und möchte dieses meistens so schnell wie möglich erreichen. So auch wir. Insofern passten wir genau in das Bewegungsmuster, denn es war ja Swami Dharmanandji, der es anführte und sich auskennt. Mit einem für seine Jahre - er wird in diesem Jahr 80 Jahre alt! – beachtlichen Tempo meisterte er die Strecke. Immer wieder erkundigte er sich bei Händlern nach dem Weg, kein Wunder bei dem Gassengewirr. Doch unser Ziel, das nach jeder Biegung und Richtungsänderung in immer weitere Ferne zu rücken schien, ist allen dort wohl bekannt.
Die Unmengen von Starkstromkabeln dicht über unseren Köpfen kümmerten mich schon nicht mehr. Ich vertraute einfach darauf, dass sie auch mir nicht auf den Kopf fallen würden.
Hatte ich mich anfangs über die Passagiere in den Fahrradrikschas gewundert und auch ein bisschen geärgert, wurden meine Blicke auf sie immer länger und sehnsuchtsvoller. Nicht nur Menschen wurden auf den Rikschas befördert, auch Lasten, zuhauf. Bemerkenswert, mit welcher Gelassenheit die Rikschafahrer die Balance halten beim Schieben der zu unförmigen Türmen auf ihre Fahrradrikschas gestapelten Lasten! Sogar Motorrad- und Motorrollerfahrer bahnen sich hier sanft ihren Weg. Für Motorrikschas (Threewheeler – dreirädrige Sonderanfertigung eines Motorrollers für den öffentlichen Nahverkehr) allerdings ist definitiv kein Platz. Die Gassen wurden immer enger und stiller. Nach vielen Biegungen und einigen Richtungsänderungen bogen wir in eine sehr ruhige, von Reihen buntbemalter Wohnhäuser gesäumte Sackgasse ein.
Am Ende der Gasse saßen einige erschöpfte Rucksacktouristen auf den Treppen eines Gebäudes. Dorthin steuerten auch wir und betraten den Indraprastha Tirth Jain Swetamber Tempel, auch bekannt als Delhi Sumatinath Jain Swetamber Tempel nach dem 5. Tirthankara Sumatinatha, dem der Tempel geweiht ist.
Wir hatten unser Ziel erreicht. Ein freundlicher Wächter nahm unsere Kameras in Empfang, nein, leider keine Chance zum Fotografieren. Stattdessen wurden wir auf eine Website mit Fotos verwiesen. Eigene Fotos konnten wir nicht machen.
Die Fotos, zu denen der Link [http://www.indfy.com/picture-gallery/delhi/jain-swetamber-temple/ (12 Photos)] führt, zeigen wir hier nicht, weil sie unserer Ansicht nach den Originalen nicht gerecht werden. Denn die haben es in sich:
Der Tempel ist einer der ältesten in Delhi, was sich in dem Namensteil Indraprastha niederschlägt. Indraprastha ist die alte Bezeichnung für Delhi, lange bevor Delhi als Hauptstadt Bedeutung erlangte. Die Entstehung des Tempels soll auf das Geschlecht der Pandavas aus dem Mahabharata zurückgehen und 1500 Jahre zurückliegen. Einigen Quellen zufolge waren die Pandavas Jaina und Anhänger des 5. Tirthankara Sumatinatha. Wie dem auch sei, der Tempel erhielt seine jetzige Form aus weißem Marmor Ende des 18. Jahrhunderts, zur Zeit des Mogulreiches (1526 – 1858).
Foto:Mayank Austen Soofi
Auch die Böden des Tempels erhielten ein ausgefallenes Design. Blick auf Mogulbögen und Garbhagriha im Hintergrund.
Die Innenräume sind verschwenderisch ausgestattet, auserlesenste Materialien wie belgisches Glas und Spiegelmosaike sowie goldverzierte Bögen vereinen sich mit vorzüglich designten Marmorplatten und ausgewählten Skulpturen und Malereien zu einem Ort von traditioneller und dennoch zeitloser Schönheit. Der Tempel ist dem 5. Tirthankara Sumatinatha geweiht, dessen mit Gold, Silber und Edelsteinen verzierte Marmorskulptur im Garbhagriha, dem Allerheiligsten, etwas erhöht sitzt, flankiert von ebenso prächtigen Skulpturen des 1. Tirthankara Adinatha, des 2. Tirthankara Ajitanatha, des 22. Tirthankara Neminatha. Zu ihren Füßen stehen kleinere Goldstatuetten verschiedener Tirthankaras. Eingerahmt sind die Skulpturen der Tirthankaras von goldverzierten sogenannten Mogulbögen, wie auf dem Foto deutlich zu erkennen.
Foto:Burlingamebarley
Garbhagriha, das Allerheiligste des Indraprastha Jain Svetamber Tempels mit den Skulpturen der Tirthankaras
Adinatha (1.l.), Neminatha (2.l), Sumatinatha (m),??? (1.r hinter Säule) Ajitanatha (2.r).
Die Darstellungen der 24 Tirthankaras unterscheiden sich nicht voneinander. Sie können nur anhand ihrer Symbole auf Sitzkissen oder Sockeln erkannt werden. Der rechts neben Sumatinatha sitzende Tirthankara ist an dieser Stelle leider von der Säule verdeckt. Sumatinatha selbst trägt einen Kranz aus Sonnenstrahlen um das Haupt. Alle Tirthankaras scheinen überirdisch zu leuchten. Dieser Effekt wird durch das Aufbringen von Gold und Silber auf den Marmor hervorgerufen, aus dem auch die größeren Skulpturen gearbeitet sind. Die Statuetten sind alle aus Gold. Gold, Silber, Marmor und Edelsteine wurden wegen ihrer sprichwörtlichen Reinheit dazu ausgewählt, die Tirthankaras angemessen darzustellen und zu schmücken.
Foto:Burlingamebarley
Auf vielen der zum Teil Jahrhunderte alten Bilder werden Szenen aus dem Leben der Tirthankaras gezeigt. Die verwendeten Farben wurden aus Gold, bzw. Rohedelsteinen und Wasser in einem traditionellen Verfahren hergestellt.
Foto:Burlingamebarley
Althergebrachte Tür aus reinem Silber, umgeben von antiken Gemälden.
Foto:Mayank Austen Soofi
Auch hier nagt der Zahn der Zeit und erfordert aufwändiges Restaurieren.
Foto:Mayank Austen Soofi
Die Statuetten werden täglich mit frischen Rosenblüten geschmückt und mit Sandelholzpaste eingerieben.
Nachdem wir von der ruhigen Sackgasse, die zum Tempel führt, wieder auf die mit Geschäften überladene und von Menschen überbordende Gasse eingebogen waren, tauchten wir sofort wieder tief in das weltliche Treiben des Kinari Bazars ein. Der Rückweg dehnte sich entgegen sonstiger Erfahrung schier endlos, wenigstens erschien er uns allen viel länger als der Hinweg. Bis Swami Dharmanandji kurz entschlossen zwei Fahrradrikschas anhielt und wir die restliche Strecke bis zur Hauptstraße nicht mehr laufen mussten. Von dort waren es nur noch einige Mobiltelefonate zwischen Swami Dharmanandji und dem Fahrer sowie einige Schritte, bis wir endlich das Auto im Verkehrsgewühl entdeckten. Wegen einer Demonstration, die sich auf der Fahrbahn bewegte, auf der wir den Fahrer vermuteten, war alles sogar noch unübersichtlicher als sonst. Erleichtert stiegen wir ein, und Swami Dharmanandji meinte nur noch: „Naja, wir sind wohl alle nicht gewohnt so viel zu laufen.“ Danach schliefen wir alle ein und wachten erst wieder auf, als das Auto vor dem Kendra hielt. Rechtzeitig zur Abendmeditation waren wir zurück. Besonders nach einem solchen Tag trug sie wesentlich zur Entspannung bei. Natürlich angeleitet von Swami Dharmanandji. Unglaubliches Indien!