Delhi, 30.09.2007
Zuerst besuchten wir Muni Sumermal, ein Mönch, der ein Meister in Tiefenentspannung (Kayotsarga) und Mantrameditation ist. Swami Dharmanandji übersetzte freundlicherweise unser Gespräch. Als ich Muni Sumermal nach seinen Vorhaben in der nächsten Zeit fragte, erzählte er, dass er sich die vier Monate der Regenzeit, in denen er nicht unterwegs ist, so einteilt, dass er zwei Monate lang seine eigene Meditationspraxis vervollkommnet und in den folgenden zwei Monaten seine Praxis weitergibt. Swami Dharmanandji fügte trocken hinzu: „Zuerst muss man schwimmen können, bevor man Schwimmunterricht gibt.“ Wohl wahr!
Mich interessierte, was ein Jainamönch, der sein Leben lang Ahimsa (keinerlei Gewalt gegen Menschen, Tiere und Pflanzen in Gedanken, Worten und Taten) praktiziert, in seiner spirituellen Praxis erlebt. Muni Sumermal praktiziert zweimal täglich je 45 Minuten Tiefenentspannung und 30 Minuten Mantrameditation. In der Mantrameditation konzentriert er sich auf eines der oberhalb des Bauchnabels gelegenen psychischen Zentren und rezitiert dabei das Mantra.
Seine Antwort lautete, dass er manchmal die Wahrheit erkennt, niemals die ganze Wahrheit, eher wie ein Aufblitzen. In diesen Momenten empfindet er seinen Körper als schwerelos und dieser ist genau wie das, was ihn umgibt, ganz weiß, innen und außen ist alles weiß. Unwillkürlich schloss ich in diesem Moment die Augen. Einen kurzen Moment lang blitzte hinter meinen geschlossenen Augen ein weißer Funke im Zentrum der Erleuchtung in der Mitte der Stirn auf. Ich begann zu verstehen, wovon Muni Sumermal sprach und mit wie viel Geduld und Ausdauer er seinen spirituellen Weg geht.
Als ich ihn fragte, ob er dieses Weiß meine, das in Schilderungen von Nahtoderlebnissen erwähnt wird, erwiderte er, dass er das nicht sagen kann, denn er war bisher weder dem Tod nahe, noch tot.
Beeindruckt haben mich die Bescheidenheit und die Ausstrahlung des Mönches. Er äußert sich nur auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen und Erlebnisse und lässt keinen Zweifel daran, dass sie nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit sind. Für mich ist er ein Mensch, der die Multiperspektivität der Wahrheit nicht nur theoretisch erkannt, sondern sie auch in seinen Alltag integriert hat. Das habe ich nicht zuletzt daraus geschlossen, dass er meine vielleicht albern klingenden Fragen ernsthaft und knochentrocken, ohne den leisesten Anflug von Ironie beantwortet hat..
Zum Abschluss des Besuches überreichte mir Shri Babulal, Sekretär der Terapanth Mahasabha Ost-Delhi, ein sogenanntes Memento als Erinnerung an den Besuch bei Muni Sumermal. Muni Sumermal genießt hohes Ansehen und hat im Auftrag von Acharya Mahaprajna schon drei Mönche initiiert, darunter 1974 den heutigen Yuvacharya. Gewöhnlich werden Mönche vom Acharya selbst initiiert, nur in Ausnahmefällen beauftragt er damit einen Mönch.
Anschließend wurden wir durch das Gebäude geführt. Der Oshwal Bhavan, so die Bezeichnung des Hauses, wurde 1985 am Ufer des Yamu errichtet und wird für religiöse und soziale Zwecke genutzt. Während der ca. viermonatigen Regenzeit sind die Mönche und Nonnen nicht unterwegs, sie bleiben dann in Gebäuden wie diesem. Zum Zeitpunkt meines Besuches war Muni Sumermal mit seiner aus vier Mönchen bestehenden Gruppe dort untergebracht. Jeden Morgen um 10:00 Uhr vormittags hält er einen Vortrag. Seine Vorträge sind so gut besucht, dass außer dem großen Versammlungsraum noch ein Zelt für seine zahlreichen Zuhörer aufgestellt wurde.
Die Mönche sind immer sehr fröhlich und allen Besuchern gegenüber sehr aufgeschlossen. Man sieht ihnen an, dass sie sich an jedem Moment ihres Lebens erfreuen und das auch zeigen. Swami Dharmanand ji freut sich über die Gelegenheit, ihnen einen Besuch abstatten zu können. Allzu oft kommt er normalerweise nicht an diesen vom Kendra ziemlich weit entfernten Ort.
In der Gruppe von Muni Sumermal sind vier weitere Mönche, von denen wir zwei im Oshwal Bhawan antrafen. Muni Sumermal ist der älteste und Leiter der Gruppe, Muni Vijay Kumar der zweitälteste. Er durchquert mit ihm seit 25 Jahren zu Fuß den indischen Subkontinent. Die Begegnungen auf seinen Wanderungen haben ihn dazu inspiriert, zahlreiche Schriften über Lebensführung zu verfassen, von denen 2 auf englisch erschienen sind. Ehe ich Namen und biographische Einzelheiten des zweiten Mönches in Erfahrung bringen konnte, verabschiedete Swami Dharmanandji sich von allen, ich machte noch schnell ein Foto von ihm und Muni Vijay Kumar, und wir eilten zur nächsten Veranstaltung.
Muni Udit Kumar, der drittälteste Mönch der Gruppe, war schon mit Muni Prasan Kumar, dem nächstjüngeren, am Morgen zu der Veranstaltung aufgebrochen, zu der nun auch wir unterwegs waren. Die beiden Mönche waren dorthin gelaufen, während wir im Auto zum Anuvrat Bhawan gefahren wurden. Allerdings dauerte es etwas länger als nötig, da der Fahrer sich verfahren und keine Karte hatte. Doch mit Hilfe von Passanten, die genauso zurückbrüllten wie sie gefragt worden waren, kamen wir rechtzeitig an.
Muni Udit Kumar, Muni Prasan Kumar, zwei Mönche einer anderen Jainagemeinschaft und ein Begleiter saßen schon auf dem Tisch, der als Podium für die Mönche diente. Zwei weitere Mönche kamen gerade an. Die Veranstaltung ist vielleicht mit ökumenischen christlichen Zusammenkünften vergleichbar, die verschiedenen Jainagemeinschaften folgen nicht den gleichen Riten und erkennen unterschiedliche kanonische Schriften als Grundlage an.
So saßen nun 6 Jain-Mönche aus verschiedenen Gemeinschaften zusammen. Auf der anderen Seite hatten auf dem Podium für die Laien verschiedene Würdenträger Platz genommen, darunter ein Mitglied einer Muslimgemeinschaft in Neu-Delhi, der auch eine Ansprache zum Thema hielt.
Der Titel der Veranstaltung war „Vergeben und Gewaltlosigkeit“, und von der Vereinigung aller Jainagemeinschaften als gemeinsamer Abschluss des Versöhnungsfestes Paryushan organisiert worden. Zuerst sprachen die Laien, anschließend die Mönche. Über den Inhalt der Reden kann ich kaum etwas berichten, da sie auf Hindi waren.
Nachdem Muni Udit Kumar über Furchtlosigkeit, Vergebung und Freundschaft gesprochen hatte, wurde ich gebeten, etwas über Gewaltlosigkeit zu sagen, doch mich bitte kurz zu fassen:
Gewaltlosigkeit kann man sowohl im individuellen, als auch im sozialen Leben praktizieren. Individuell kann man Gewaltlosigkeit durch die Erkenntnis realisieren, dass die eigenen negativen Einstellungen Manifestationen der 5 inneren Feinde Angst, Zorn, Gier, Egoismus und Neid sind. Sie sind die Energiequelle unserer negativen Gedanken, Worte oder Taten. Sie zu erkennen und ihnen keine Möglichkeit mehr zur Einwirkung auf das eigene Leben zu geben, ist das Fundament für die Entwicklung eines gewaltlosen Bewusstseins, das dazu befähigt, sie als das zur Kenntnis zu nehmen, was sie sind, negative Einstellungen, die uns daran hindern, ein erfülltes und glückliches Leben zu führen. Sobald man angefangen hat, die inneren Feinde auf diese Weise zu entlarven und ihnen nicht mehr gestattet, die Gestaltung des eigenen Lebens zu beeinflussen, hat man den Kampf gegen die wahren Feinde des Menschen aufgenommen und kämpft nicht mehr gegen Windmühlen.
Sozial kann man Gewaltlosigkeit praktizieren, indem man keine Produkte mehr konsumiert, die unter Anwendung von Gewalt erzeugt worden sind oder zur Ausübung von Gewalt dienen. Das bedeutet, dass wir uns vielleicht von lieben Gewohnheiten verabschieden müssen, doch ist es nicht zumindest bedenkenswert, liebe Gewohnheiten gegen den Verlust eines Lebens abzuwägen?
Zum Abschluss der Veranstaltung wurden vier Lichter unter einem Bild Mahaviras entzündet als Symbol für die erleuchtenden Erkenntnisse, die Lord Mahavira in seiner letzten Predigt allen Lebewesen der Welt übermittelt hat. Diese hielt Mahavira am letzten, Samvatsari genannten Tag des Versöhnungsfestes der Jaina, an dem alle Jaina wenn möglich fasten.