Die Lehre der Jainas hat nach der Ansicht ihrer Bekenner durch den Tīrthaṅkara (Furtbereiter, d. h. Kirchenstifter) Mahāvīra (gestorben 477 oder 467 v. Chr.) ihre endgültige Gestalt erhalten. Mahāvīra soll seinerseits aber nur eine Lehre weiter überliefert bzw. neu entdeckt haben, welche vor ihm schon von 23 anderen Tīrthaṅkaras verkündet worden war. Die zweiundzwanzig ersten von diesen, welche vor Jahrtausenden gelebt haben sollen, sind ganz mythisch, der dreiundzwanzigste aber, Pārśva, der 250 Jahre vor Mahāvīra gestorben sein soll, ist vielleicht historisch, so daß wir in ihm möglicherweise den zeitlich freilich nicht sicher fixierbaren Stifter des Jainismus zu sehen haben.
Mahāvīra hat nichts Schriftliches hinterlassen. Die ihm zugeschriebenen Lehren sind in einem in der Prākrit-Sprache abgefaßten Kanon enthalten, der erst 500 n. Chr. seine heutige Gestalt empfangen haben soll. Es ist klar, daß in den 980 Jahren, welche nach der Tradition der Jainas zwischen Mahāvīras Tod und dem Abschluß des Kanons liegen, mancherlei neue Gedanken in diesen Aufnahme gefunden haben können; daß dies der Fall gewesen sein muß, ergibt sich auch daraus, daß der Kanon heute nur von einer der großen Konfessionen der Jainas, die sich im 1. Jahrhundert n. Chr. bildeten, als autoritativ anerkannt wird. Denn nur die Śvetāmbaras (d. h. „Weißgekleideten”, so genannt, weil ihre Mönche und Nonnen weiße Gewänder tragen) sehen in ihm die maßgebliche Wiedergabe der Gedanken Mahāvīras; die Digambaras („Luftgekleideten”, deren Asketen nacktgehen, was heute allerdings nur noch in wenigen seltenen Fällen geschieht) glauben hingegen, daß die alten heiligen Schriften überhaupt in Verlust geraten seien und betrachten als Grundlage ihrer Dogmatik die Werke von Kirchenlehrern, welche im 1. Jahrtausend n. Chr. gelebt haben. Es läßt sich unter diesen Umständen nicht feststellen, was Mahāvīra selbst im einzelnen gelehrt hat.
Die bemerkenswerte Tatsache, daß sich die Lehren der beiden Konfessionen nur in verhältnismäßig ganz geringfügigen Punkten voneinander unterscheiden, spricht jedoch dafür, daß das noch heute in Geltung stehende System wenigstens in seinen Grundzügen auf Mahāvīra zurückgeht und in der Folgezeit in seinem Sinne in von allen Jainas als verbindlich anerkannter Weise fortgebildet worden ist, wird doch heute noch die erste wissenschaftlich-systematische Dogmatik der Śvetāmbaras, der,,Leitfaden zur Erfassung des wahren Sachverhalts” (Tattvārthādhigama-Sūtra) des Umāsvati (wahrscheinlich 4.-5. Jahrhundert n. Chr.) auch von den Digambaras benutzt. Die einzelnen Phasen der Lehrentwicklung der älteren Zeit sind zum großen Teil noch dunkel; seit der Mitte des 1. Jahrtausends scheint das System keine wesentlichen Veränderungen mehr erfahren zu haben, so daß eine Darstellung, die auf Umāsvāti fußt, jedenfalls den Anspruch darauf erheben kann, die allgemeinen Grundzüge der Jaina-Philosophie wiederzugeben. Da ich die Lehre der Jainas zu wiederholten Malen mit größerer oder geringerer Ausführlichkeit behandelt habe, [1] erübrigt es sich hier, sie eingehend darzustellen. Der Vollständigkeit halber sei jedoch eine knappe Skizze der Hauptpunkte des Jaina-Systems gegeben.
Die sieben Grundwahrheiten (tattva), auf denen die Weltanschauung und Heilslehre von Mahāvīras Gemeinde beruht, heißen:
- Seelen (jīva, wörtlich: 'Leben'),
- Lebloses (ajīva),
- Einströmen (āsrava),
- Bindung (bandha),
- Abwehr (saṃvara),
- Tilgung (nirjarā) und
- Befreiung (mokṣa) der Seelen von dem in Form von Leblosem (Stoffen) in sie eingedrungenen Karma.
Die ersten beiden Grundwahrheiten befassen sich also mit den Substanzen, die durch ihr Zusammenwirken das Weltgeschehen zustande bringen, die übrigen fünf mit den Zuständen, die an der ersten Gruppe von Substanzen eintreten, wenn sie sich mit dem Leblosen verbinden oder von ihm lösen.
Es gibt unendlich viele ewige, erkennende und tätige Einzelseelen (jīva), die alle einander im Range gleichstehend, von Natur aus Allwissenheit, Seligkeit, moralische Vollkommenheit und unbegrenzte Kräfte besitzen. Sie werden zwar als immaterielle Geistmonaden bezeichnet, tatsächlich aber eher als feine Substanzen vorgestellt, die sich ausdehnen und kontrahieren können und Stoffe in sich hineinziehen und ausstoßen.
Der andere Grundbestandteil der Welt ist das Unbelebte (ajīva). Zu diesem werden drei Arten von Äther gerechnet: der Raum (ākāśa), die Medien der Bewegung (dharma) und die Ruhe (adharma), ferner die Zeit (kāla) sowie die Materie (pudgala). Die letztere besteht aus ganz feinen gleichartigen Atomen, die dadurch, daß sie sich zu Aggregaten verbinden, die verschiedensten feinen und groben Formen annehmen.
Im Gegensatz zum klassischen Sāṅkhya, für welches Seelen und Materie etwas so verschiedenes sind, daß eine reale Verbindung zwischen ihnen nicht möglich ist, lehrt der Jainismus, daß die Seelen seit Ewigkeit mit Stoffen durchsetzt sind. Diese Infektion hat zur Folge, daß die natürlichen Eigenschaften der Seele ganz oder teilweise verhüllt werden und aus einer Geistmonade ein der Geburt und dem Tode unterworfenes empirisches Lebewesen wird, das mit materiellen Leibern behaftet, im Saṃsāra umherirrt. Die Jīvas, welche die Welt bevölkern, zerfallen in zahllose Klassen, denn außer Göttern und Dämonen, Höllenwesen, Menschen, Tieren und Pflanzen betrachten die Jainas auch Steine und Erdklumpen, Flammen, Wassertropfen und Winde als belebt, und zwar insofern, als sie annehmen, daß zahlreiche Seelen diese Dinge als Kollektivkörper besitzen.
Die Verbindung der Seele mit den Stoffen hat seinen Grund darin, daß infolge der Betätigung (Yoga) der Seele Stoffe in diese hereingezogen werden, welche in ihr zu Karma werden. Das Karma äußert sich in achtfach verschiedener Weise: es verhüllt 1. das Wissen und 2. das Schauen (das heißt die formaliter unbestimmte Erkenntnis) der Seele, es verursacht 3. das Empfinden von Lust und Leid, es stört 4. den wahren Glauben und rechten Wandel, es verleiht 5. ein bestimmtes Dasein als Gott, Mensch, Tier oder Höllenwesen, es versieht 6. das empirische Lebewesen mit bestimmten physischen, psychischen oder schicksalhaften Eigenschaften, es bestimmt 7. den Rang, der jemandem durch Geburt zuteil wird und es hindert 8. die Energie, die dem Jīva von Natur eigen ist. Die acht „Karma-Arten” (karma-prakṛti) werden von den. Dogmatikern bis ins Einzelne beschrieben und klassifiziert, so daß sich insgesamt 148 Unterarten ergeben. Die alte Anschauung, daß eine Tat die Seele mit einer Schuldsubstanz behaftet, die sich solange in unheilvollen Geschehnissen auswirkt, bis sie sich verzehrt hat oder durch rituelle Begehungen entfernt worden ist, findet hier ihre quasi-wissenschaftliche Ausgestaltung.
Die Qualität der von einem Lebewesen vollbrachten Tat ruft das Einströmen (āsrava) von gutem oder bösem Karma in die Seele hervor und veranlaßt die „Bindung” (bandha) der Seele durch dieses. Ein geistiger Aufstieg ist nur möglich, wenn es gelingt, das Eindringen von Karma zu verhindern und das schon in der Seele aufgespeicherte Karma aus dieser zu entfernen, bevor es sich realisieren kann. Der Abwehr (saṃvara) dient die Führung eines tugendhaften Lebens, das durch Erfüllung der moralischen Pflichten dem schlechten Karma den Eingang versperrt, der Tilgung (nirjarā) die Ausführung von asketischen Übungen. So wie nämlich Mango-Früchte dadurch, daß man sie großer Hitze aussetzt, frühzeitig zur Reife gebracht werden können, so kann auch durch Tapas (wörtlich: 'Erhitzung') bewirkt werden, daß das Karma vor der Zeit in den Zustand gelangt, in welchem es sich durch Realisation verzehrt und nun wirkungslos ausfällt. [2]
Hat die Seele im Verlaufe unzähliger Wiedergeburten die drei schlimmsten Ursachen der Bindung an die Welt: Irrglaube, Zuchtlosigkeit und Leidenschaft beseitigt und sich von allem schlechten Karma geläutert, so ist sie schließlich in der Lage, schon in diesem Leben den Zustand der Heiligkeit zu erringen, bei welchem die Karmas ausgeschaltet sind, welche ihrer Erkenntnis, ihrem Wandel und ihrer Energie Schranken setzen. Als bekörpertes Wesen weilt sie dann als ein,,noch mit irdischer Aktivität versehener Allwissender" (sayogi-kevalin) unter den Menschen, bis sie vermittels eines Samudghāta genannten Prozesses alles noch in ihr vorhandene Karma ausstößt. Ist sie so von allem Stofflichen und von der vierten Ursache der Bindung, der weltlichen Aktivität (yoga) frei geworden, so steigt sie, da ihr selber keine Schwere zukommt, zum Gipfel der Welt empor. Hier über allen Götterhimmeln, nahe an der Grenze des leeren Raumes, liegt die Stätte, wo die Vollendeten als körperlose Geister in ewiger Ruhe die Seligkeit der Erlösung genießen, indem sie ihre wahre Natur verwirklichen.
Der Jainismus lehrt ein streng dogmatisches System, dessen Wahrheit nach der Meinung seiner Anhänger dadurch sichergestellt ist, daß allwissende Heilige, die über transzendente Erkenntnisse verfügen, es verkündet haben. Die Notwendigkeit, ihre Anschauungen gegen die Angriffe anderer Schulen zu verteidigen, nötigte die Jainas aber seit alter Zeit, sich mit der Logik und Dialektik zu beschäftigen. Eine Anzahl von Śvetāmbara- und Digambara-Schriftstellern haben deshalb in ihren Werken auch logische Probleme behandelt. [3] Berühmt ist die unter dem Namen „Syādvāda” bekannte Relativitätstheorie der Jainas, die auf Mahāvīra zurückgeführt wird, die aber vielleicht in Anlehnung an ursprünglich von Skeptikern entwickelte Prinzipien ausgebildet worden ist.
Der Syādvāda lehrt: das Reale hat unendlich viele Attribute. Jede Aussage über ein Ding ist deshalb einseitig; ihr Gegenteil kann von einem anderen Gesichtswinkel aus betrachtet, genau so zutreffend sein. Im ganzen werden sieben Arten von Aussagen, die gemacht werden können, unterschieden, das ganze System der „sieben Tropen” heißt dementsprechend „saptabhaṅgī”, eine jede von diesen Formeln wird durch das Wort „Syāt”,,es möchte sein", das heißt „in gewissem Sinne”, eingeleitet.
W. Schubring [4] faßt die Theorie wie folgt zusammen:
„Die Sapta-bhaṅgī besagt, daß von gewähltem Standpunkt aus gesehen ein Ding: 1. als existent (syād asti), 2. als nicht-existent (syān nāsti), nämlich unter Aspekten eines anderen Dinges betrachtet, 3. als sowohl existent wie nicht-existent (syād asti nāsti) jenes unter eigenen, dieses unter fremden Aspekten bezeichnet werden kann. Die beiden Aussagen von 3. können aber nur nacheinander gemacht werden. Sie gleichzeitig zu machen, ist nicht möglich, unter diesem Gesichtspunkt ist der Gegenstand 4. unbeschreibbar: syād avaktavya. Die übrigen drei Sätze lauten wie die drei ersten mit Hinzufügung von avaktavya. Dies gibt im Satz 5. an, daß ein Ding existent ist, aber neben dieser positiven Beschaffenheit in bezug auf ein anderes Ding ein solche negative Art hat, welche beide gleichzeitig auszusprechen nicht möglich ist: syād asti ca avaktavya. Die Umkehrung auf der Basis der Nicht-Existenz ist Satz 6: syān nāsti ca avaktavya. Satz 7. endlich drückt aus, daß ein Gegenstand wie in 3. positiv und negativ prädiziert werden kann, aber nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander: syād asti ca nāsti cāvaktavya.”
Diese Theorie der sieben Tropen hat ihre Ansätze schon in kanonischen Texten, hat ihre volle Ausbildung aber erst in der späteren Zeit erhalten. Die Jainas bedienten sich ihrer in ihren dialektischen Kämpfen mit ihren Gegnern, um darzutun, daß kein bejahendes oder verneinendes Urteil absolute Geltung habe, sondern nur in begrenztem Sinne richtig sei, weil es stets auf die Beziehung ankomme, in welcher es ausgesprochen wird. Es ist klar, daß der Syādvāda eine scharfe Waffe darstellt, geeignet, gegnerische Ansichten zu widerlegen, und man versteht es, daß die Jainas aus Stolz über den Besitz dieser unfehlbaren Methode ihr ganzes System auch als „Syādvada” bezeichnen. Wie alle Verfechter einer bestimmten dogmatischen Lehre beachten sie dabei aber nicht, daß oft die gleichen Argumente, mit welchen sie ihre Gegner bekämpften, auch gegen sie selbst mit gleichem Erfolge in Anwendung gebracht werden können.
Die Lehre der Jainas ist von allen, die heute noch in Indien blühen, wohl diejenige, die am meisten altertümliche Züge bewahrt hat. Während die anderen Systeme, die bis ins 1. Jahrtausend v. Chr. zurückreichen, sich im Laufe der Zeit durch Aufnahme fortschrittlicher Ideen erneuert haben, hat das der Jainas wohl manche Einzelheiten verändert und weiter ausgebildet, in seinen Grundzügen aber ist es den einmal geprägten Denkformen treugeblieben.
Vgl. Helmuth von Glasenapp: Die Religionen Indiens, Stuttgart: Kröner, 1943, S. 189ff. - ders., Die Lehre vom Karman in der Philosophie der Jainas. Nach den Karmagranthas dargestellt, Phil. Diss. (Bonn), Leipzig: Kreysing, 1915. - ders., Der Jainismus. Eine indische Erlösungsreligion, Berlin: Alf Häger, 1925.
Satis Chandra Vidhyabhusana, History of the Mediaeval School of Indian Logic, Calcutta 1909, S. 1-55.