9. Postskript
Zum Schluß noch ein Hinweis auf die Stellung des Jainismus in der indischen Gesamtkultur.
Schon die hier zur Rede stehende 'praktische' Literatur des Jainismus (Ethik im engeren Sinne, Mönchsdisziplin, Erlösungslehre) hat einen Umfang, den selbst die Spezialisten leicht unterschätzen. Dazu kommen die anderen dogmatisch-philosophischen Disziplinen (unter anderem Weltbeschreibung und Naturphilosophie), des weiteren Grammatik und Logik, des weiteren Legenden, Märchen und Epen. Die ältesten Zeugnisse stammen aus vorchristlicher Zeit, aber die Jaina-Literatur reicht bis in die Neuzeit hinein, z. B. im Fall der Jaina-Literatur auf Alt-Gujarati. Das Prakrit und das Sanskrit sind die wichtigsten, aber nicht die einzigen Sprachen des Jainismus. Es gibt wahre Berge von Manuskripten, und selbst die bis heute erschienenen Textausgaben würden mehrere Regale füllen. Manches liest sich mühelos, in anderen Fällen erfordert jeder Vers oder Satz gezielte Untersuchungen. Ein großer Teil der Literatur hat überdies Parallelen in der nicht-jainistischen indischen Literatur, und auch das will berücksichtigt werden.
Die Jaina-Kunst reicht bis in die Anfänge unserer Zeitrechnung zurück. Die Tirthankara-Darstellungen sind am besten bekannt: Der meditierende Tirthankara erscheint stehend oder sitzend, nackt oder (seltener) bekleidet. Hier sieht alles ganz einfach aus (der sitzende Tirthankara ist überdies dem sitzenden Buddha ähnlich). Aber die Ikonographie der Tirthankaras ist nicht so einheitlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Außerdem bilden Darstellungen von Jaina-Gottheiten der einen oder der anderen Art in der Jaina-Kunst einen zusätzlichen Themenkreis. Wer diese Kunst zu Hause kennen lernen will, findet in vielen Museen für asiatische Kunst Jaina-Miniaturen mit der Darstellung von Heiligenlegenden, vornehmlich solchen, die sich um die Tirthankaras ranken. Er findet auch mehr oder weniger alte Jaina-Bronzen (meist Tirthankara-Darstellungen). Verschiedene in letzter Zeit erschienene Bildbände zur Jaina-Kunst ergänzen solche Informationsmöglichkeiten auf ihre Weise. Etwas ganz anderes ist das Erlebnis der Jaina-Kunst im Lande. Zeugnisse dieser Kunst finden sich fast auf dem gesamten indischen Subkontinent. In Khajuraho gibt es nicht nur Hindu-Tempel, sondern auch Jaina-Tempel; in Ellora gibt es nicht nur Höhlentempel der Hindus, sondern auch solche der Jainas; in Tamilnadu finden sich nicht nur Felsreliefs mit Darstellungen von Hindu-Gottheiten, sondern auch solche mit Darstellungen von Tirthankaras. Überaus eindrucksvoll und einzig in ihrer Art sind zudem die auf Hügeln angelegten Tempelstädte der Jainas, vornehmlich Shatrunjaya (bei Palitana) und Girnar (bei Junagadh), beide auf der Halbinsel Kathiawar im Bundesland Gujarat.
Insgesamt überschreitet der Jainismus unser Orientierungs- und Vorstellungsvermögen. Er zeigt eine explosionsartige Ausdehnung anfangs einfacher dogmatischer Prinzipien zu einem in seinen Details nicht mehr überschaubaren theoretisch-praktischen System. Zugleich entwickelt er sich zu einer Teilkultur innerhalb der indischen Gesamtkultur. Indem er diese teils übernimmt und teils in seinem Sinne weiterentwickelt, liefert er einen quantitativ und qualitativ bedeutsamen Beitrag zur indischen Welt. Der Jainismus ist ein Reich für sich, ein religionsgeschichtlicher und kultureller Mikrokosmos. Er steht für die Ahimsa und anderes, aber die Realität ist hier wie sonst vielschichtig, unseren Denkgewohnheiten wenig entgegenkommend und komplexer, als es die dünne Decke der Abstraktionen erwarten läßt.
10. Literatur
- A. L. Basham, Kapitel IV-V (Jainismus) und VI (früher Buddhismus). In: W. TH. DE BARY, Sources of Indian Tradition. Columbia University Press, New York 1958.
- Jas. Burgess und Henry Cousens, The Architectural Antiquities of Northern Gujarat. London 1903.
- Colette Caillat, Le Jinisme. Tirage à part. Encyclopédie de la Pléiade. Paris 1970.
- Colette Caillat, Jainism. In M. ELIADE, Encyclopedia of Religion. New York, London 1986.
- Colette Caillat, Jainismo. Estratto dal Volume V della Enciclopedia delle Science Sociali.Rom 1996.
- Paul Dundas, The Jains. London 1992.
- Helmuth von Glasenapp, Der Jainismus. Eine indische Erlösungsreligion. Berlin1925.
Verschiedene Nachdrucke. Eine englische Übersetzung ist angekündigt (vergleiche unsere englische Fassung). - Phyllis Granoff, The Clever Adulteress & Other Stories. A Treasury of Jain Literature. Oakville, Ontario 1990.
- Jyotindra Jain and Eberhard Fischer, Jaina Iconography I-II. Leiden E. J. Brill 1978.
- Volker Moeller, Symbolik des Hinduismus und des Jainismus. Tafelband. In: F. Herrmann, Symbolik der Religionen. Stuttgart 1974.
- Padmanabh S. Jaini, The Jaina Path of Purification. University of California 1979. Delhi 1979.
- Adelheid Mette, Durch Entsagung zum Heil. Eine Anthologie aus der Literatur der Jaina.Zürich 1991. [Kurzgefaßte Darstellung des Jainismus auf S. 25 - 53.]
- Pratapaditya Pal, The Peaceful Liberators. Jain Art from India. Los Angeles County Museum of Art 1994.
- N. Shanta, La voie jaina. Histoire, spiritualité, vie des ascètes pèlerines de l'Inde.Paris 1985.
Unsere Leumann-Zitate entstammen einem Werk der reinen Fachliteratur: Ernst Leumann, Übersicht über die Avasyaka-Literatur. Hamburg 1934.
11. Abbildungen
Abb. 1 | Abb. 2 |
Abb. 1: Sitzender Tirthankara: Mathura 250-300 u.Z. - Abb. 2: Kultobjekt: vierseitiger Schaft mit vier stehenden Tirthankaras: Mathura (250-300 n.Chr.). Photos: Gritli v. Mitterwallner
Abb. 3: Große Komposition mit sitzenden und stehenden Tirthankaras. Patan (das alte Anahilapattana), Gujarat, 16. oder 17. Jh. Photo: Jas. Burgess und Henry Cousens, Pl. XIX.
Ausschnitt aus Abb.3 (Sockelzone). Der kleine Stier in der Mitte des Kissens deutet an, daß der große sitzende Tirthankara Rishabha ist (vgl. Avashyaka II). Photo: Jas. Burgess und Henry Cousens, Pl. XIX.