Es war genau der richtige Morgen, um die berühmten Nakoda Jain Tempel zu besuchen. Nakoda ist nur 13km von Balotra entfernt und über die kleine Stadt Jasol gut zu erreichen. Um 08:00h verließen wir alle den Oshwal Bhawan in Balotra und machten uns auf die Suche nach einem Transportmittel. Swami Dharmananda wollte wieder nach Tapra, und wir 3 verabredeten uns dort für den frühen Nachmittag. Die Strecke nach Nakoda konnte gut mit einer Motorrikscha bewältigt werden, und bald fanden wir auch eine.
Jaina Torana (Torbogen) mit Dharmachakra mitten auf der Straße nach Nakoda
Noch ein bisschen dunstig war es, und wir noch etwas verschlafen. Beinahe hätten wir diesen schönen Jaina Torbogen mitten auf der Straße verpasst. Er steht zwischen Balotra und Nakoda kurz hinter Jasol mitten auf der Straße, wo sie gerade einen Hügel am höchsten Punkt überquert. Ein Torana weist auf einen Ort hin, der spirituelle Bedeutung durch einen Heiligen, Lehrer oder Jaina Tempel erlangt hat, der hier oder in der Nähe gewirkt oder einmal gestanden hat, vielleicht vor langer Zeit. Jedenfalls stimmt er hier den Besucher schon auf Nakoda ein.
Außer den Kühen und wenigen Motorrikschas war noch nicht viel Andrang
Ein Blick auf den Parkplatz zeigte uns, dass wir noch vor dem großen Besucheransturm angekommen waren. Selbst die vor den Tempelbereichen recht zahlreichen Händler waren um diese Zeit, ca. 09:00h, noch nicht da. An diesem Morgen bekamen wir einen ungestörten Eindruck vom Zauber des Ortes. Wir wandten uns um und sahen einen kleinen Tempel zu unserer Rechten vor dem Haupteingang des Tempelkomplexes.
Shri Mahavir Bhagwan Mandir Nakoda
Die geöffneten Tore wirkten sehr einladend, und als wir uns dem kleinen Tempel näherten, kam sogleich ein freundlicher Mensch näher und lud uns zum Betreten ein. Er sagte uns auch den Namen des Tempels und bestätigte unseren Eindruck, dass dieser Tempel erst vor einigen Jahren gebaut worden war. Auf dem Vordach über dem Eingang fand sich dieselbe Darstellung wie auf der Torana auf dem Weg hierher, ein Dharmachakra. Zwei Antilopen, die ihre Köpfe nach oben richten und zwischen ihren Kehlen ein Rad banacieren, in dem kreisförmig Blütenblätter angeordnet sind und aus dessen Mitte sich eine Flüssigkeit aus einem Krug nach unten bis an den Rand des Rades ergießt.
Halle im Inneren
Beim Betreten des kleinen Tempels wird man sich der tieferen Bedeutung des Wortes Mandir (Tempel) bewusst, nämlich dass sich an einem derartigen Ort die beiden Welten begegnen, die himmlische und die irdische. Ins Auge fiel sofort die zeitgemäße, von Beginn an bewusst eingesetzte Beleuchtung der Halle, welche das von oben durch milchglasgefilterte Dachfenster einfallende Tageslicht mit LEDs und geschickt eingesetzten Neonleuchten kombiniert. Keine Selbstverständlichkeit in Jaina Tempeln, besonders nicht in älteren, in denen Stromkabel oder provisorisch wirkende Bürolampen für Licht sorgen und ein wenig störend wirken. Besonders angesichts der aus sehr kostbaren Materialien angefertigten Skulpturen darin.
Detailansicht der zentralen Darstellung Mahaviras
Es fällt ferner auf, dass es hier kein Garbhagriha gibt, sondern eine Darstellung Mahaviras auf einer bühnenartigen Plattform. Schaut man sich dann um, weiß man auch sofort, warum. Hier werden keine religiösen Rituale zelebriert, sondern hier handelt es sich um eine Darstellung verschiedener Lebenssituationen Mahaviras in Text und Bild. Im Folgenden wird auf eine Auswahl etwas näher eingegangen.
Zeremonie der Götter anlässlich der Geburt des künftigen Tirthankara: Sakendra bringt ihn zum Heiligen Berg Meru der Jaina
Die Geburt eines Tirthankara wird von den Göttern als epochales Ereignis betrachtet. Das sieht man daran, dass der künftige Tirthankara zum Berg Meru befördert wird, wo er von den Göttern vor allen anderen begrüßt wird. Hier wird dargestellt, wie der Embryo von einem Boten der Götter namens Sakendra unter einem schützenden Schirm in Begleitung von göttlichen Musikern und Tänzern zum Berg Meru gebracht wird.
Zeremonie der Götter anlässlich der Geburt des künftigen Tirthankara:
Indra badet den künftigen Tirthankara
Sakendra legt auf dem Berg Meru Indra den zukünftigen Tirthankara für die Badezeremonie in den Schoß. Viele Göttinnen und Götter sind mitsamt den 63 Verkörperungen Indras anwesend. Für das Bad haben himmlische Wesen Wasser von verschiedenen heiligen Orten zum Berg Meru gebracht. Die Zeremonie wird mit Gesängen und Tänzen zu einem Fest der Freude. Anschließend erhält der kleine Prinz den Namen Vardhaman von seinen königlichen Eltern in einer weltlichen Zeremonie.
Prinz Vardhaman im Kreis seiner Familie
Bis zum Alter von 28 Jahren lebte Prinz Vardhaman im Kreis seiner Familie ein Leben in weltlichem Wohlstand mit den Privilegien adeliger Herkunft. Er war mit einer Prinzessin verheiratet (worden) und hatte mit ihr eine Tochter. Diese Szene zeigt Prinz Vardhaman (l. mit seinem älteren Bruder) mit seinen Eltern (M) - seine Mutter Trishala (r) hat ihre kleine Enkeltochter Priyadarshana auf dem Schoß -, seiner Frau Yasoda (r. mit ihrer Schwägerin) umgeben von Musiker und Tänzern beim Abendgebet.
Prinz Vardhaman mit 9 Lokantika Göttern
Zwischen seinem weltlichen Leben im Kreis seiner Familie und seiner Initiierung fanden einige Ereignisse statt, die des Prinzen weiteren Lebensweg zum Tirthankara bestimmten. 9 Lokantika Götter sprechen bei Prinz Vardhaman vor. Lokantika Götter nehmen nicht an den Annehmlichkeiten und Vergnügungen himmlischen Lebens teil. Sie konzentrierensich in dieser sehr langen Spanne ihres Lebens als Götter durch Meditation und Gebete ausschließlich auf die Lösung und Befreiung vom Karma und bereiten sich so auf ihre darauffolgende Inkarnation als Menschen vor, in der sie dann Erlösung (Moksha) erlangen können. Sie bitten Prinz Vardhaman um die Gründung eines religiösen Ordens, bzw. darum, sein weiteres Leben der Erneuerung des bestehenden, vom 23. Tirthankara Parshvanath gegründeten zu widmen.
Prinz Vardhaman bittet seinen älteren Bruder um die Erlaubnis, dem weltlichen Leben zu entsagen.
Im Alter von 28 Jahren bat Prinz Vardhaman seinen älteren Bruder um Erlaubnis, dem Anliegen der Lokantika Götter und seinem eigenen Wunsch entsprechend sich aus dem weltlichen Leben zurückziehen zu dürfen, um ein ausschließlich spirituelles Leben zu führen. Sein Bruder war durch den Tod der Eltern kurz zuvor so traurig, dass er ihn bat, noch zwei weitere Jahre damit zu warten. Vardhaman willigte ein. Zuvor hatte er bereits den nun verstorbenen Eltern versprochen, seine Initiierung bis nach ihrem Tod aufzuschieben.
Prinz Vardhamans Furchtlosigkeit wird getestet
Als Vardhaman während dieser Zeit einmal mit seinen Freunden unterwegs ist, wollte ein neidischer und eifersüchtiger Gott dessen Mut und Aufrichtigkeit prüfen. Er verwandelte sich in eine gefährliche Schlange und kreuzte als solche den Weg der jungen Männer. Vardhamans Freude flohen entsetzt, während Vardhaman der Schlange fest in die Augen schaute und sie dann in hohem Bogen wegschleuderte.
Der Gott nimmt die Gestalt eines Dämons an.
Nach der bestandenen ersten Probe gibt der eifersüchtige Gott nicht auf und nähert sich Vardhaman erneut, diesmal in Gestalt eines Kindes, das Vardhaman ein Spiel vorschlägt, bei dem der Sieger den Verlierer über eine Schulter geworfen tragen darf. Der Gott verwandelte sich anschließend als Sieger rasend schnell in einen gigantischen Dämon und erhob sich in die Lüfte. Vardhaman verpasste ihm einen kräftigen Fausthieb, der den Gott vor Schmerzen winselnd wieder seine Originalgröße annehmen ließ. Dabei ließ er Vardhaman aus großer Höhe fallen. Sakendra eilte Vardhaman zu Hilfe, heilte seine Wunden und verlieh ihm den Namen Mahavira, großer Held.
Die letzten Riten für Mahavira wurden von Göttern und Menschen gemeinsam zelebriert.
Mahavira lebte noch 42 Jahre das Leben eines Asketen, der den Grundsatz Ahimsa (Abkehr von der Gewalt) als höchstes spirituelles Ziel predigte. In dieser Zeit ordinierte er Tausende Männer und Frauen als Mönche und Nonnen, die gemeinsam mit den männlichen und weiblichen Laienanhängern die vierfältige Jaina Gemeinschaft bilden. Im Alter von 72 Jahren verbrachte Mahavira die Regenzeit (Chaturmas, die vier Monate Juli bis Oktober, während der Jaina Mönche nicht unterwegs sind) in Pavapuri, Rajasthan. Dort hielt er eine 48 Stunden dauernde Predigt, während der die letzten vier verbleibenden Karmas von ihm abfielen. Das hatte zur Folge, dass in ihm das Potential für alle 8 Arten von Karma vollständig getilgt wurde und er Allwissenheit und Moksha erlangte. Seitdem befindet er sich an einem Menschen unzugänglichen Ort im Universum, wo sich gemäß der Jainalehre alle erlösten und befreiten Seelen in ewiger Glückseligkeit aufhalten und sich nicht mehr verkörpern müssen. Mahaviras sterbliche Überreste wurden von Göttern und Menschen in einer gemeinsamen Zeremonie dem Feuer übergeben.
Mahavira war 12 Jahre und 6 Monate lang in fast ununterbrochener Versenkung
Nachdem er der Welt entsagt hatte, fastete und meditierte Mahavira mit wenigen Unterbrechungen 12 Jahre und 6 Monate seines Lebens. In dieser Zeit erreichte er den höchstmöglichen Bewusstseinsstand und war gleichzeitig fast ständig Verfolgung, Verunglimpfung und Unverständnis durch seine Mitmenschen ausgesetzt. Er lebte in Parks und Wäldern von den wenigen Almosen, die ihm gegeben wurden.
Mahavira in tiefer Meditation (Kayotsarga, stehend)
Dieser zeitlich kurze, aber geistige Äonen durchquerende Abstecher in die Details der legendären Biographie Mahaviras war sehr beeindruckend und auch einprägsam. So war es in früheren Zeiten häufig Aufgabe von Tempeln, auch Details der legendären Biographie Heiliger bildhaft zu erzählen. Hier war es eine ansprechende Mischung aus Text und Bild, die bekannte Details aus dem Leben Mahaviras anschaulich vertiefte. Vor uns lag der Besuch des Nakoda Parshvanath Tempels, der ursprünglich Mahavira geweiht war. Wie uns der alte Mann zu Beginn schelmisch versicherte, ist dieser kleine Tempel vielleicht deshalb gebaut worden.
Blick auf die dem Mahavira Tempel schräg gegenüberliegende Baustelle, vielleicht ein weiterer Bau zur Unterbringung von Pilgern?
Blick auf den Eingangsbereich des Nakoda Tempelkomplexes
Nun näherten wir uns dem Eingangsbereich des weitläufigen Tempelkomplexes, an dem gerade Ausbesserungsarbeiten vollzogen wurden. Der Vorplatz wirkte schon belebter als vor gut einer halben Stunde. Die Restaurants öffneten gerade, und Händler richteten ihre Stände ein. Nun aber husch vorbei, ehe uns noch jemand aufhielt.