Wieder staunten wir über die gewaltigen Veränderungen, die in der indischen Hauptstadt vor sich gehen. Die ganze Stadt scheint eine Baustelle zu sein.
Das Stadtzentrum verließen wir in nördlicher Richtung und gelangten auf eine Ausfallstraße (NH1), die über die ca. 150 km nördlich von Delhi gelegene Stadt Ambala im Bundesstaat Haryana hinaus bis in den pakistanischen Teil des Punjab führt, genauer gesagt, bis Lahore. Wir konnten nicht ahnen, dass unser Ziel durchaus einen Bezug zum indischen Punjab hat. Jedenfalls lag es schon bei Kilometer 20 der G.T. Karnal Road in Alipur. Bereits von der autobahnähnlich ausgebauten Straße hatten wir einen Tempelkomplex gesehen und Christian Geerdes meinte, dass er eine Idee habe, wohin wir fuhren. Tatsächlich, wir fuhren zum Atma Vallabh Smarak Jain Tempel! Dieser wurde von der Anhängerin eines Svetambara Acharyas gegründet, dem der Beiname „Kesari (eine in ganz Indien beliebte Süßspeise) des Punjab“ vom Volk verliehen wurde. Doch davon später mehr. Erst einmal musste der Weg zu dem Tempelkomplex gefunden werden. Als wir schon beim Aussteigen die Anlage mit großen Augen bewunderten, strahlte unser Gastgeber. Das war aber eine gelungene Überraschung. Es sollte nicht die einzige dieses Nachmittags bleiben.
Vom Parkplatz aus näherten wir uns dem Seiteneingang des Atma Vallabh Smarak Jain Mandir. Am Fuß der Treppe Vidhya Saggar ji Garg (l) und sein Enkel Arham.
Dieser beeindruckende Shvetambara Tempel liegt in einer sehr gepflegten, weitläufigen Anlage und ist umgeben von Bäumen und Blumen. Zum Tempelkomplex gehören das 1984 hier gegründete Bhogilal Leherchand Institute of Indology (B.L. Institut für Indologie), ein Museum für Jaina Kunst und Kultur (Museum Of Jain Art & Culture), das Skulpturen und Darstellungen der Tirthankaras der mittelalterlichen Tradition Westindiens, speziell aus Maharashtra, Gujarat und Rajasthan, zeigt, sowie literarische Artefakte aus dem Shvetambara Kanon. Wie in vielen Shvetambara Tempelanlagen gibt es auch hier Unterkunft- und Waschmöglichkeiten für die Gläubigen.
Der Straße zugewandte Haupteingang des Atma Vallabh Smarak Jain Mandir, der auch von der NH1 aus zu sehen ist.
Zuerst einmal betrachteten wir den Tempel von außen. Hier ein näherer Blick auf das kunstvoll gearbeitete Dach.
Die vergoldete Spitze des Tempels leuchtete in der Nachmittagssonne. Auch sie ist vielen Autofahrern von der NH1 aus ein vertrauter Anblick.
Wir waren wieder zu unserem Ausgangspunkt, dem Seiteneingang, zurückgegangen und betraten von dort aus das in das Obergeschoss des Tempels führende Treppenhaus. Im Obergeschoss befindet sich das Garbhagriha. Im Allerheiligsten stehen die Skulpturen von vier Tirthankaras: Vasupujya (12.), Parshvanatha (23.), Munisuvrata (20.), Adinatha / Rishabhanatha (1.). Jeder schaut in eine Himmelsrichtung.
12. Tirthankara Vasupujya
23. Tirthankara Parshvanatha
Auch hier waren die Skulpturen mit frischen Rosenblüten geschmückt. Alle Statuen der Tirthankaras sind aus feinst poliertem weißem Marmor. Das und die Merkmale aus Gold auf ihrer Brust lässt sie durch jeden auf sie fallenden Lichtstrahl überirdisch hell aufscheinen. Das Sonnenlicht fällt nur zeitweise durch in die Mauern eingelassene Fenster in das Garbhagriha, in dem sonst ein angenehmes Halbdunkel herrscht, aus dem die Skulpturen buchstäblich hervorleuchten.
Wir waren hingerissen und versunken in ihren Anblick, als Vidhya Saggar ji uns mit geheimnisvollem Gesichtsausdruck bedeutete, ihm zu folgen.
Prof. G.C. Tripathi, akademischer Direktor des zum Tempelkomplex gehörenden Bhogilal Leherchand Institute of Indology.
Prof. Tripathi, Vidhya Saggar ji Garg, Vandana Garg (mit dem Rücken zur Kamera)mit der prächtigen Anlage im Hintergrund
Vidhya Saggar ji machte uns mit Prof. Tripathi bekannt, dem er zufällig begegnet war auf der Suche nach jemandem, der Details über den Tempel weiß. Als dieser hörte, dass Vidhya Saggar ji mit deutschen Gästen den Tempel besuchte, kam er gleich mit ihm, um uns kennenzulernen. Wie sich zu unserer Überraschung und Freude herausstellte, spricht Prof. Tripathi ausgezeichnet deutsch, denn er hatte von 1963-66 in Freiburg studiert und von 1973-77 als Dozent dort Übungen und Seminare gehalten. Angesprochen auf sein immer noch ausgezeichnetes Deutsch, lächelte er bescheiden und sagte, er habe sein Deutsch nicht verlernt. Nach mehr als 45 Jahren. Er fügte später noch hinzu, dass er Deutschland als seine zweite Heimat betrachte und sich immer sehr freue, wenn Besucher aus Deutschland kämen. Das hieß für ihn auch, uns gern herumzuführen und alles zu zeigen, was in den wenigen Stunden unseres Aufenthaltes möglich war. Und das Gezeigte natürlich auch zu erläutern. Wie wunderbar, alles auf Deutsch! Das war uns vorher noch nie passiert, dass uns jemand so sachkundig und in unserer Muttersprache durch einen Jaina Tempel führte.
Die Skulptur des großen Jainalehrers Acharya Vijay Vallabh Suri befindet sich in der großen Halle des Tempels gegenüber dem Haupteingang. Ihm ist der Tempel dediziert (gewidmet).
Zum Gedenken an den Gründer zahlreicher Bildungseinrichtungen und Krankenhäuser hatte seine Anhängerin Sadhvi Mrigavati den Gedanken, ihm zu Ehren einen Tempel zu gründen. Beim Anblick des damals trostlos verwilderten und sehr weitläufigen Areals am Rande der alten NH1 wurde sie dazu inspiriert, hier den Tempel errichten zu lassen. Acharya Vijay Vallabh Suri war hier auf seinem Weg in den Punjab vorbei gekommen, wo er maßgeblich zur Ausbildung sozial Benachteiligter in mentaler und spiritueller Hinsicht beigetragen hatte. Sein Leben und Werk wirkt in den Aktionen seiner Anhänger bis in die Gegenwart. Verkörpert er doch in besonderer Weise die sozialen Lehren, die man aus dem Leben und Wirken der Tirthankaras ziehen kann.
Betritt man die große Halle, verweilt das Auge zuerst auf dem mit kunstvollen Einlegearbeiten versehenen Marmorboden, geht weiter zur Skulptur des Lehrers, über dem durch ein Fenster die Darstellung des 23. Tirthankara Parshvanatha zu sehen ist, der über allem zu schweben scheint.
Der Tempel ist einem aus dem 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung aus Gujarat stammenden Vorbild nachgebaut und wurde Ende des 20. Jahrhunderts (1986) fertiggestellt. Es wurden nur traditionelle Materialien wie Mörtel und Sandstein verwendet, weder Stahl noch Eisen, auch nicht für die Säulen. Das obere Stockwerk wird von den halbrund angeordneten Mauern getragen. In der Mitte des Bodens bilden die Einlegearbeiten vor der Skulptur des Jainalehrers einen zentralen Punkt. Setzt man sich dorthin, um zu meditieren, kann man sich besonders gut konzentrieren und erhebende spirituelle Erfahrungen machen. Das wurde Prof. Tripathi schon von mehreren Tempelbesuchern berichtet, wie er uns erzählte.
Hier kann man ahnen, wovon Prof. Tripathi von Meditierenden berichtet wurde.
Für die Decke wurden Sandsteine nach einem traditionellen Verfahren so aneinander gesetzt, dass sie sich selbst trägt und keine Stützpfeiler oder –streben benötigt!
Blick von der großen Halle auf den Park vor dem Tempel. Hinter dem Tor verläuft die alte Straße.
Als wir den Tempel durch den Seiteneingang wieder verließen, machte uns Prof. Tripathi auf zwei besondere Bauwerke aufmerksam. Geradezu zu unserer Blickrichtung sahen wir eine rasenbewachsene Anhöhe mit einem Eingangsportal aus dem gleichen roten Sandstein des Tempels. Dieser höhlenartige Bau wurde zum Andenken an Sadhvi Mrigavati (1926-86) errichtet. Sadhvi Mrigavati war die Gründerin des Tempels. Sie starb im Alter von nur 60 Jahren, als der Tempel noch im Bau war. Ihre sterblichen Überreste wurden hier kremiert. Die Urne mit ihrer Asche wird dort zu Füßen ihrer Skulptur aufbewahrt. Wie ihr großer Lehrer setzte auch sie sich sehr für die Bildung sozial Schwacher ein und gründete neben anderen Tempeln auch viele Schulen. Die Mittel dazu erhielt sie durch flammende Spendenaufrufe. Überhaupt erinnert man sich an sie noch immer als begnadete Rednerin, die mit ihren Reden die Herzen der Menschen bewegen konnte.
Bau zu Ehren und zum Andenken an die große Jainalehrerin und –nonne Sadhvi Mrigavati.
Skulptur der Gründerin des Tempels, zu deren Füßen ihre Asche
Rechts neben dem Bau zu Ehren der Tempelgründerin ist ein der Padmavati geweihter Tempel. Padmavati wird als Begleiterin und Schutzgottheit des 23. Tirthankara Parshvanath verehrt.
Darstellung der Padmavati mit Schlangenhaube, mit der auch der 23. Tirthankara Parshvanath dargestellt wird.
Eine Mutter mit ihrem Sohn in Andacht...[1]
Wir haben einen unvergesslichen Sonntag erlebt und stellten im Nachhinein fest, dass wir uns gar nicht alle Hintergrundinformationen merken konnten, die uns Prof. Tripathi gab. Außerdem waren wir überwältigt von der natürlichen Anmut des Gesehenen. So viel Schönheit und Ausgewogenheit macht einen innerlich ganz still. Auch, wenn man vom Leben von Menschen hört, die einen außergewöhnlichen Lebensweg gegangen sind, welcher sie nicht nur in die Höhen erfolgreichen Wirkens in der Welt, sondern weit darüber hinaus führte und die Welt mit Sicherheit zu einem besseren Ort für viele gemacht hat. Menschen mit großen Herzen und viel Liebe, die uns alle und das ganze Leben in allen seinen Facetten und Gestalten einschließt und die auch lange nach ihrem Gehen noch die Herzen und den Geist derer, die von ihnen hören, erleuchtet. Diesen Menschen fühlt man sich vielleicht ein bisschen näher nach einem Besuch in einem Tempel, einer Kirche, einer Moschee. Unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit inspirieren sie durch ihr Beispiel und regen zum Nachdenken an.
Als wir zurückfuhren, ging es uns allen so. Tage wie dieser sind ein Geschenk, DANKE!
Slideshow: Dehli Jaina Temple
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