Überraschend hatte es sich ergeben, dass wir den Mehrauli Dadabari Jain Tempel schon an diesem Nachmittag besuchen konnten. Der Tempel liegt wie das ASK im Bezirk Mehrauli im Südwesten Delhis unweit des Flughafens. Auto und Fahrer warteten bereits auf uns, wie uns im Büro des Organisationsteams gesagt wurde. Natürlich ließen wir uns die Gelegenheit nicht entgehen und machten uns auf den Weg. Sushil Bafana hatte sofort seine Begleitung angeboten, was wir gern annahmen. Von früheren Tempelbesuchen wussten wir, dass es viele Türen öffnet, wenn in der Landessprache um Einlass gebeten wird. Nach kurzer Fahrt erreichten wir unser Ziel.
Seit einiger Zeit interessieren wir uns für Tempelanlagen als Zeugnisse der Jain Kultur. Hier werden nicht nur die Jina verehrt und gewürdigt, sondern es wird auch bedeutender Acharyas und spiritueller Lehrer gedacht. Häufig wurden und werden sie an Orten errichtet, von denen über Begegnungen zwischen der sichtbaren grobstofflichen und der unsichtbaren feinstofflichen Welt berichtet wird oder von denen denkwürdige Begebenheiten überliefert sind. Es sind heilige Orte der Besinnung, an denen sich feinstoffliche Schwingungen verdichten und die eigenen feinstofflichen Energien spürbar werden. Die gemeinsame Ausrichtung aller Besucher auf die höheren Wirklichkeiten wirkt belebend und erhebend. Hier kann man sich geschützt dem Leben in all seinen Facetten anvertrauen und Kraft aus gemeinsamen Zeremonien oder dem Betrachten der Darstellungen schöpfen. Von den meisten alten Tempeln ist eine wundersame Entstehungsgeschichte überliefert, die einem die besondere Ausstrahlung des Ortes nahebringt. Der Trubel des Alltags bleibt draußen, und das gibt der Seele Kraft.
Über die Straße gelangt man vom den Stand, an dem die Schuhe abgegeben werden, auf Teppichen zum Eingang des Tempels. Davor saß ein Paar mit Fluggepäck in Erwartung eines Taxis.
Alle Türen sind hier tagsüber weit geöffnet, denn der Tempel wird nicht nur von Jains aufgesucht, sondern auch von Muslimen und Hindus.
In diesem Schrein befindet sich bis heute die Urne des Dada Gurus Jina Chandra Suri Manidhari, der auch von Muslimen und Hindus als Heiliger verehrt wird.
Jina Chandra Suri Manidhari (Träger des Juwels) wurde 1141 u.Z. in Jaisalmer, Rajasthan, am Rande der Wüste Thar geboren. Bereits mit 6 Jahren wurde er mit Erlaubnis seiner Eltern der Mönch Jina Chandra Suri. Diesen Namen hatte ihm sein Lehrer und Mentor Jina Dutta Suri – selbst ein großer Gelehrter, Heiliger, Sozialreformer und einer der vier Dada Gurus - bei der Initiierung gegeben. Mit 8 Jahren wurde er wegen seiner profunden Kenntnisse philosophischer Schriften, Kosmologie, Metaphysik, Mantras und Astrologie zum Acharya ernannt, mit 14 Jahren wurde ihm die Leitung seines Sangh übertragen. Während seiner 12 Jahre als Acharya setzte er sich unermüdlich für religiöse und soziale Reformen ein. Er predigte Ahimsa, religiöse Toleranz, Gleichheit und universelle Bruderschaft, wofür er als „Dada Gurudev“ auch von Hindus und Muslimen respektiert und verehrt wurde und wird. Tempelanlagen, die mit der Ehrung der Tirthankaras zugleich im Andenken an die Dada Gurus errichtet wurden, heißen Dadabari, Garten der Dadas. Im Mehrauli Dadabari wird zudem bis heute die Urne Jina Chandra Suri Manidharis aufbewahrt.
Darstellung des „Dada Gurudev“ im Mehrauli Dadabari
Mit 26 Jahren verbrachte er seinen Chaturmas auf Einladung des Herrschers in einem Distrikt nahe der Stadt Delhi, dem heutigen Mehrauli. Als er dort spürte, dass sein Leben sich dem Ende nähert, bat er seine Anhänger, auf dem Weg zum Verbrennungsplatz nicht anzuhalten und während der Verbrennung den Juwel in seiner Stirn in einer Silberschale aufzufangen. Doch über der Trauer vergaßen sie, worum sie der Heilige gebeten hatte und rasteten in Manik Chowk (Mehrauli). Danach gelang es niemandem mehr, seinen toten Körper von der Stelle zu bewegen. Es blieb nichts anderes übrig, als ihn in Manik Chowk (Mehrauli) zu verbrennen und beizusetzen. Bei der Einäscherung fing einer seiner Anhänger, ein muslimischer Fakir, den, wie vorhergesagt, aus seiner Stirn austretenden Edelstein in einer Schale auf.
Rund um die vielbesuchte Gedenkstätte des Heiligen herum entstand diese wunderbare Anlage.
Erst im 20. Jahrhundert wurde das den Tempel umgebende Gelände in seiner jetzigen weitläufigen Form gestaltet.
Von Jin Chandra Suri Manidhari ist die Vorhersage überliefert, dass die Gegend rund um seine Bestattungsstätte für 800 Jahre nicht verändert werden würde.
Es war wohl die richtige Entscheidung, den Tempel an diesem Nachmittag zu besuchen. Wir konnten diesen Ort der Stille und des Friedens seinen Zauber entfalten und auf uns einwirken lassen, ohne uns in Besucherströme einreihen zu müssen. Der Tempel ist zu einer Pilgerstätte auch für Hindus und Muslims geworden mit zeitweise mehr als 1000 Besuchern täglich. Wir Drei genossen es, diesen schönen Ort individuell entdecken zu können und ihn im Licht der goldenen Nachmittagssonne leuchten zu sehen.
Viel Vergnügen beim Betrachten und der Entdeckung immer wieder neuer facettenreicher Einzelheiten dieses täglich allen Besuchern offenstehenden Tempels.