Die Erlebnisse des Vorabends wirkten noch in mir nach, besonders in meinem Körper. Er fühlte sich an wie nach einem Fieberanfall, doch ohne geschwächt zu sein. Energiewirbel durchpulsten ihn fortwährend, so etwas hatte ich nie zuvor erlebt.
Dieses Erlebnis interpretierte ich als geistig-seelischen Reinigungsprozess. Von den Heiligen gehen konzentrierte Schwingungen subtiler Energien aus, die in der Meditation übernommen und verinnerlicht werden können. Diese Schwingungen verstärkten sich noch durch das ungewohnte Erlebnis, in einer Gruppe von 120 Menschen zu meditieren. Das gesamte Energieniveau wurde beträchtlich erhöht, was bei mir die geschilderten Wirkungen hatte.
In den morgendlichen Vorlesungen von Professor Muni Mahendra Kumar wurde die Theorie der Preksha Meditation dargelegt sowie der philosophische Hintergrund verschiedener Aspekte beschrieben. Der erste Vortrag befasste sich mit dem Aspekt ‚Kayotsarg’.
Kayotsarg ist die erste Phase der Preksha Meditation und bedeutet wörtlich ‚den Körper verlassen’. Ein verlassener Körper bewegt sich nicht mehr. Ein so bewegungslos gewordener Körper ist im Allgemeinen ein toter Körper, das Verlassen des Körpers ist also eine Simulation des Todes. Warum das?
In Kayotsarg geht es darum, das Selbst vom Körper getrennt zu erleben, damit das Selbst oder die Seele wahrgenommen werden kann. Die Wahrnehmung der Seele ist für die spirituelle Entwicklung im Hinblick auf die Auflösung des Karma notwendig.
Karma ist an mentale und physische Aktivitäten gebunden, die Geist und Körper in subtile Schwingungen versetzen. Diese subtilen Vibrationen ziehen Karmapartikel an, die der Seele wie winzige Staubkörnchen anhaften. Auch in der Wissenschaft sind diese Erschütterungen bekannt, sie werden dort mit einer Überaktivität des Nervensystems erklärt.
Den ganzen Tag über führen wir mentale, psychische und emotionale Handlungen aus, diese permanente Beanspruchung generiert allmählich Spannungen. Kayotsarg unterstützt den Geist dabei, sich zu entspannen. Angefangen mit dem rechten großen Zeh bis zum höchsten Punkt des Schädels wird der Körper durch Autosuggestion schrittweise entspannt.
Während der Bewegungslosigkeit des Körpers werden die physikalischen und mentalen Aktivitäten auf ein Minimum reduziert, die Atmung verlangsamt sich, der Blutzuckerspiegel sinkt, die metabolischen Aktivitäten und die des Gehirns werden reduziert, seine elektrischen Impulse werden in Alphawellen produziert. Unsere operationale Effektivität erhöht sich ebenso wie unsere Fähigkeit, Hitze, Kälte und Schmerzen zu ertragen. Die Fähigkeit zur Konzentration wächst, was unter anderem Klarsichtigkeit bis zur Wahrnehmung der Aura ermöglicht. Weisheit hinsichtlich der Unterscheidung von richtig oder falsch in Theorie und Praxis kann sich entwickeln.
Im vollen Bewusstsein der Segnungen des Kayotsarg war nun jeder bereit für die Anupreksha mit Samani Shardapragya. Mit ihrer wundervollen Stimme motivierte sie jeden für die Arbeit der charakterlichen Verfeinerung in Form von Wiederholung des von ihr Vorgesprochenen: ‚Ich werde zunehmend duldsamer’ und ‚Ich werde zunehmend ausgeglichener’. Im Anschluss daran löste eine Kayotsarg-Sitzung mit Muni Kishan Lal unsere Spannungen, welche vielleicht durch die neue Umgebung, den neuen Lebensrhythmus mit frühem Aufstehen und Konzentration unserer gesamten Persönlichkeit auf die Meditation entstanden waren.
Der Meditationssitzung am frühen Nachmittag folgte der spirituelle Vortrag Seiner Heiligkeit Acharya Mahaprajnas über ‚Kontinuität des Wandels’.
Die Welt der Objekte verändert sich ständig, Freud und Leid sind mit diesem Wechsel eng gekoppelt. Verbindung mit Positivem freut uns, Trennung davon nicht. Verbindung mit Negativem macht uns unglücklich, Trennung davon freut uns.
Auch Gedanken unterliegen ebenso wie Handlungen der Kontinuität des Wandels. Im Allgemeinen werden Gedanken nicht verwirklicht, doch das Bewusstsein formende Gedanken schaffen dieselbe Realität in unserem Inneren wie eine Handlung. Dieser Prozess wird in der Kontemplation bewusst herbeigeführt. In der Anupreksha konzentrieren wir uns darauf, einen Gedanken in eine das Bewusstsein formende Realität zu transformieren. Das ist möglich, weil ein Bewusstseinseindruck – anders als Gedanken – nicht von anderen entliehen werden kann.
Wer kontrolliert unseren Geist? Spirituell gesehen, unser Karmakörper, dessen subtile Vibrationen unsere Gedanken und Handlungen generieren.
Wenn wir uns aus diesen Mechanismen befreien wollen, müssen wir auf die Komponenten des Gehirns einwirken. Anatomie ist ein wichtiges Werkzeug in der Preksha Meditation, verschafft sie uns doch das Wissen, wie wir die Veränderung bewirken können.
Dies wirkte wie eine brillante Überleitung zum folgenden Anatomievortrag von Dr. G. L. Jain aus Udaipur. Er brachte uns das Wunder der Natur nahe, das als Körper des Menschen bekannt ist. Von den Grundlagen der Zellen bis zu den kooperierenden Systemen (z.B. Atmung, Blutkreislauf, Nervensystem, Verdauung) fassten seine Präsentationen das Wesentliche zusammen und vermittelten einen Überblick der Abläufe. Durch regelmäßiges Meditieren kann man allmählich diese subtilen Prozesse wahrnehmen, die sich üblicherweise ohne unsere Beachtung ereignen.
Während des Camps verliefen fast alle Tage in dieser gleichen Abfolge, mit Ausnahme des ersten, letzten und des 15. Oktober, dem Geburtstag des indischen Präsidenten Dr. Abdul Kamal.
Der Präsident Indiens verbrachte einige Stunden an seinem Geburtstag mit Seiner Heiligkeit Acharya Mahapragya. Die ‚Erklärung von Surat’ (Declaration of Surat) wurde ihm dort übergeben, deren fünf Schlüsselelemente von allen anwesenden religiösen Führern unterschrieben worden waren. Als Wissenschaftler und Politiker einerseits und Religionsführer andererseits hatten der Premierminister und der Acharya den Vorsitz über diese in Surat stattfindende Konferenz von dreizehn religiösen Oberhäuptern und Gelehrten, die das sogenannte ‚Garland Projekt’ für die ‚Einheit im Geist’ der ‚aufgeklärten Bürger’ Indiens verwirklichen wollten.
Die Delegierten des internationalen Preksha Meditationscamps nahmen zusammen mit Tausenden herbeigeströmter Pilger an der feierlichen Übergabe teil.
Am letzten Tag war das Camp nach dem Mittagessen beendet.
Der nächste Aspekt in Professor Muni Mahendra Kumars Vorträgen war die ‚Innere Reise’, die zweite Phase der Preksha Meditation.
Die Methode der ‚inneren Reise’ ist einfach zu erlernen. Die Aufmerksamkeit wird zuerst in einer die Wirbelsäule hinunter verlaufenden Bewegung auf das Zentrum der Energie im Steißbein konzentriert. Als nächstes bewegt sich der Geist entlang der Wirbelsäule aufwärts zum Zentrum der Weisheit, dem höchsten Punkt des Schädels. Diese Bewegungen werden mit dem Atem synchronisiert; beim Einatmen fokussiert sich die Aufmerksamkeit auf das Zentrum der Energie, beim Ausatmen auf das Zentrum der Weisheit. Nach einiger Zeit können wir tatsächlich das Pulsieren der Lebensenergie in den beiden Zentren und die subtilen Vibrationen in den Nervenbahnen der Wirbelsäule wahrnehmen.
Die Konzentrationsfähigkeit wird durch diese Phase der Preksha Meditation erhöht, die aufwärts gerichteten Ströme der Lebensenergie erfahren eine Verstärkung. Daraus erwächst eine Offenheit des Geistes, die sich nicht mehr an den Polen ‚Zuneigung - gefällt mir’ oder ‚Abneigung – mag ich nicht’ orientiert. Diese ausgeglichene Haltung vermindert karmische Bindungen und verändert unsere Einstellungen, so dass Hindernisse auf dem Weg zum spirituellen Fortschritt überwunden werden können. Unsere Reaktionen in Form von negativen Affekten und Impulsen werden in bewusstes Handeln transformiert.
Die dritte Phase der Preksha Meditation war der nächste Aspekt, den Professor Muni Mahendra Kumar in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit rückte. Es ist die Wahrnehmung des Körpers oder der psychischen Zentren oder der psychischen Farben, gefolgt von Anupreksha.
Die Wahrnehmung des Körpers konzentriert unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Körperregionen von den Zehen aufwärts. Mit dem Körper zusammen nehmen wir die Seele wahr, denn der Körper ist eine der sieben Ebenen, auf denen die Seele wahrgenommen werden kann. In der Konzentration auf den Körper bemerken wir auch die für alle Aktivitäten notwendige Lebensenergie. In dieser Phase geht es darum, alle Vorgänge ohne Zuneigung oder Abneigung einfach nur zur Kenntnis zu nehmen. Mit wachsender Konzentration bemerken wir auch die subtilen Vibrationen, welche der kontinuierliche Fluss des Prana erzeugt.
Fünf verschiedene Arten von Prana wirken auf fünf verschiedene Regionen unseres Körpers ein:
Rectum | - | Steißbein |
Nabel | - | Magen |
Herz | - | Kopf |
Nase | - | Gesicht |
Haut | - | Körper |
Ein ausgeglichenes Wohlgefühl entsteht, wenn alle harmonisch zusammenarbeiten. Dieser Prozess wird durch die Wahrnehmung des Körpers unterstützt. Die verschiedenen Systeme im Körper wie Knochen, Muskeln, Verdauung, Blutkreislauf, Atmung, das endokrine und reproduktive System sowie Ausscheidungs- und Nervensystem optimieren sich und koordinieren ihre Funktionen.
Nicht nur die subtilen Schwingungen des Prana können wahrgenommen werden, sondern auch die feinsten Schwingungen der Organe bei ihrer Arbeit. Diese Fähigkeit zur Wahrnehmung der subtilsten inneren Prozesse ist anfangs noch nicht sehr ausgeprägt, entwickelt sich aber mit fortdauernder Meditationspraxis.
Die Wahrnehmung des Körpers unterstützt die Wahrnehmung von Körper und Seele als separaten Einheiten. Dies befreit die Seele von ihren karmischen Bindungen. Wenn wir uns auf bestimmte Stellen des Körpers konzentrieren, fühlen wir Qualen und Schmerzen. In dieser Situation ist es sehr wichtig, auf die Empfindungen des Körpers nicht zu reagieren. Bleibt die Reaktion aus, sind wir nicht mit dem Erleben der Körperempfindungen beschäftigt. Geist und Seele sind frei von ihren karmischen Bindungen und nehmen Gleichmut als die ursprüngliche Natur des Selbst wahr.
Über den grobstofflichen Körper können wir den feinstofflichen bio-elektrischen Körper erreichen und über diesen den subtilen karmischen Körper. Es ist sehr schwierig, mit diesen sehr feinstofflichen Körpern zu kommunizieren, aber mit steigender Konzentration möglich.
Der Karmakörper verwehrt uns die Erkenntnis der Wahrheit und verhindert spirituellen Fortschritt. Seine Transformation und Auflösung sind für die Befreiung der Seele unerlässlich. Die Aufgabe des Karmakörpers ist es, die Seele daran zu hindern, ihre wahre Natur zu erkennen und die falsche Annahme ‚Ich bin der Körper’ aufrecht zu erhalten und sie somit tiefer und tiefer in das Karma der materiellen Welt einzubinden. Wenn wir uns am Ende der Meditationssitzung mit den Worten ‚Vande Sachcham’ (Prakrit: Ich verbeuge mich vor der Wahrheit’) verneigen, drücken wir damit die Tatsache aus ‚Ich bin die Seele, ich bin nicht der Körper’.