4. Avashyaka IV: Pratikramana
Das vierte Avashyaka besteht im wesentlichen aus mehreren Abschnitten, deren jeder ein Reuebekenntnis (Pratikramana) einschließt. Als Inhalt enthält jeder Abschnitt einen kürzeren oder längeren Katalog von verschiedenen Formen monastischen Fehlverhaltens, auf die sich die Reue bezieht. Wir zitieren zunächst den folgenden Abschnitt zum Thema Ahimsa:
Ich will bereuen.
Welche Lebewesen ich durch Verletzung der Pflicht zu korrektem Gehen verletzt habe - im Kommen und Gehen, im Treten auf Lebewesen, auf Samen und grüne (unverwelkte) Pflanzen, auf Tau, auf Uttingas (Insekten oder Würmer), auf feinen Schlamm, auf groben Schlamm (?), auf Spinnweben,
mit einem Sinn ausgestattete Lebewesen (vier Elemente [Erde, Wasser, Feuer, Luft] und Pflanzen), mit zwei, drei, vier Sinnen ausgestattete (niedere Tierwelt), mit fünf Sinnen ausgestattete (höhere Tierwelt und Menschen),
welche ich niedergeschlagen, …, zertreten habe (usw.), welche ich vollends getötet habe, was immer ich (denen gegenüber) gesündigt habe, das habe ich aus Irrglauben getan.
Der Abschnitt verbindet unterschiedliche Vorstellungen vom belebten Kosmos. Er spiegelt damit die Mentalität der frühen Jainas, die von der Vorstellung verfolgt waren, daß ihnen auf Schritt und Tritt sichtbare und unsichtbare, in jedem Fall aber schutzbedürftige Lebewesen entgegentraten. Im Laufe der Zeit bildete sich diese überhitzte Haltung etwas zurück, aber die wesentlichen theoretischen und praktischen Grundsätze blieben unverändert. Soweit die alten Jainas. Es ist ein weiter Weg von der Himsa-Phobie der pflichtbewußten Jaina-Mönche zu einer radikalen Abkehr von Mißhandlung, Grausamkeit und Mord. Statt Montaigne's "grausamem Haß der Grausamkeit" [5] und R. Fielding's Kritik an Jagd und Jäger ("that cunning, cruel, carnivorous animal man") [6] finden wir bei den Jainas halb-magische und halb-ethische Vorstellungen von der natürlichen und kreatürlichen Umgebung. Rücksichtsnahme, wie zunächst einmal im Zitat geschildert, entwickelt sich zu einer Lebensform, bei der der einzelne weiß, daß man alle, aber auch alle Lebewesen zu schützen hat (z.B. durch extrem vorsichtigen Umgang mit Wasser), bei der aber unmittelbare Anschauung und Spontaneität zurücktreten: niemand sieht die Erdwesen (Wasserwesen usw.), und niemand kann sie sich vorstellen.
Es scheint, als ob das Problem der absoluten Gleichbehandlung alles Lebenden durch die Einführung von Organisationsstufen (zunehmende Zahl der Sinne, siehe oben) etwas entschärft wird. Dies ist aber nur in sehr beschränktem Umfang der Fall (vgl. auch den Abschnitt über Erlösung).
Zwei weitere Abschnitte des Pratikramana haben die spezielle Form von Begriffsketten, die nach der zunehmenden Zahl der Glieder angeordnet sind. Dieses Anordnungsverfahren findet sich ähnlich bei den Buddhisten und dient der Organisation des Materials in enzyklopädisierenden Texten. Der längere der beiden Abschnitte geht bis 33, d. h. bis zu einer Begriffskette mit 33 Gliedern. Bei den Positionen 3-6 finden wir jeweils mehrere, sonst nur jeweils eine Kette. Wir zitieren aus diesem Abschnitt zehn Begriffsketten, die zu den Positionen 1-10 gehören. Nach Position 6 sind die einzelnen Glieder der Ketten im Avashyaka-Sutra nicht mehr erwähnt. Sie müssen dann dem Kommentar oder anderen Texten entnommen werden. Der Begriff der Reue, der über dem ganzen vierten Avashyaka schwebt, liefert wie zu erwarten den Rahmen für die Begriffsketten, wobei die hier zur Rede stehende längere über den Umfang eines normalen Ritualtextes spürbar hinausgeht.
In zeitlicher Hinsicht unterscheidet das Pratikramana-Konzept unter anderem zwischen Verfehlungen im Lauf eines Tages, Verfehlungen im Lauf einer Nacht und Verfehlungen im Lauf einer Monatshälfte. Unser Text bezieht sich - parallel zum abendlichen Vandana - nur auf die Verfehlungen am abgelaufenen Tag.
Es folgt unser Auszug aus dem längeren Abschnitt:
Ich bereue jedwedes Vergehen, das ich begangen habe- im Stande des einen Asamyama (Mangel an Selbstzucht oder an Samyama als der fundamentalen Tugend),
- durch die zwei Formen der Bindung an die Welt:
- die Bindung durch Liebe
- die Bindung durch Haß,
- durch Nichtbeachtung der drei Formen der Behutsamkeit:
- Behutsamkeit in Gedanken
- Behutsamkeit in Worten
- Behutsamkeit in Taten,
- durch die vier Leidenschaften:
- Zorn
- Stolz
- Unredlichkeit
- Gier,
- durch Nichtbeachtung der Fünf Großen Gelübde: (der Gelübde)
- nicht zu töten
- nicht zu lügen
- nicht zu stehlen
- Keuschheit zu üben
- auf Besitz zu verzichten,
- durch Nichtbeachtung der sechs Kategorien von Lebewesen:
- der Lebewesen, die das Element "Erde" bilden,
- der Lebewesen, die das Element "Wasser" bilden,
- der Lebewesen, die das Element "Feuer" bilden,
- der Lebewesen, die das Element "Luft" bilden,
- der Pflanzen
- der Tiere (einschließlich der Menschen),
- durch die sieben Formen der Furcht:
- Furcht vor dem Diesseits
- Furcht vor dem Jenseits
- Furcht vor Raub
- Furcht vor unerwartetem Ereignis
- Furcht vor Hunger
- Furcht vor dem Tod
- Furcht vor Schande,
- durch die acht Formen des sündigen Stolzes:
- Stolz auf die Kaste
- Stolz auf die Familie
- Stolz auf Stärke
- Stolz auf Schönheit
- Stolz auf Askese
- Stolz auf Autorität
- Stolz auf Gelehrsamkeit
- Stolz auf Gewinn,
- durch die Nichtbeachtung der neun Maßnahmen zur Sicherung der Keuschheit:
- nicht an Frauen denken, nicht über Frauen sprechen usw.,
- nicht an Frauen denken, nicht über Frauen sprechen usw.,
- durch die Nichtbeachtung der zehn Regeln für den Mönch:
- Langmut
- Demut
- Lauterkeit der Gesinnung
- Begierdelosigkeit
- Askese
- Selbstzucht (Samyama)
- Wahrhaftigkeit
- Reinheit (ungetrübte Selbstzucht)
- Armut
- Zölibat,
Die fünf 'Großen Gelübde' sind die Gelübde für den Mönch, die sogenannten Mahavratas (maha = groß, vrata = Gelübde). Ihnen entsprechen bei den Laien die weniger strengen Anuvratas oder 'Kleinen Gelübde' (anu = klein). Sie werden uns bei der Behandlung des sechsten Avashyaka begegnen. Unser 'längerer Abschnitt' wendet sich nicht ausschließlich, aber weitgehend an den Mönch; eine strenge Trennung von Mönchen und Laien ist von den alten Autoren nicht beabsichtigt.
Im Zusammenhang mit den sechs Kategorien von Lebewesen ist unser Text wörtlich zu nehmen: Die vier Elemente werden von den Lebewesen regelrecht gebildet. Diese Lebewesen bestehen jeweils aus einer Seele und einem mit der Seele verbundenen und als 'Körper' dienenden Minimum an Materie. Es ist demnach streng zu unterscheiden zwischen diesen rein spekulativen 'Elementarwesen' (Kleinstlebewesen) und zufällig in den Elementen (z.B. im Wasser und in der Luft) befindlichen mehr oder weniger sichtbaren und realen kleinen Lebewesen. Soweit es beispielsweise Vorschriften gibt, das Wasser vor dem Gebrauch zu filtern, dient dies logischerweise nur dem Schutz der kleinen Lebewesen im Wasser, nicht dem Schutz der Lebewesen, aus denen das Wasser besteht. Der Schutz der eigentlichen 'Elementarwesen', der vor allem vom Mönch erwartet wird, ist bei allen vier Elementen ein Kapitel für sich, das hier nicht behandelt werden kann.
Am Ende des Pratikramana erscheint der folgende Vers:
Text | Übersetzung |
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khamemi savva-jive, savve jiva khamantu me/ | Ich bitte alle Lebewesen um Verzeihung, alle Lebewesen mögen mir verzeihen; |
metti me savva-bhuesu, veram majjham na kenai// | ich empfinde Liebe zu allen Kreaturen, niemandem begegne ich mit Haß. |
Essay über "cruauté" (vgl. J.N. Shklar, Ordinary Vices, Harward University Press 1984, pp.1-9 et passim). - Der Jainismus wird gern als Religion der "Gewaltlosigkeit" bezeichnet. Wenn wir den Begriff der Grausamkeiteinführen, so deswegen, weil die Verwendung zusätzlicher, verwandter Begriffe zu größerer Konkretion führt. Ein breites Begriffsspektrum findet sich im Jainismus selbst zwar nicht, ist aber für jede auf den Jainismus bezogene (oder darüber hinaus führende) Diskussion ethischer Fragen unverzichtbar.