Keine Gewalt gegen Mensch, Tier und Pflanze: Es genügt nicht, die Gewalt zu erklären - wir müssen sie ächten

Autor*in:  Image of Kurt TitzeKurt Titze
Veröffentlicht: 20.04.2015
Aktualisiert: 20.04.2015

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Seitenhalle eines Jaina-Tempels, 11. Jh., Kumbharia, Gujarat.

Im Jahre 1905 erschien im Bombay ein Buch mit dem Titel An Introduktion to Jainism (Eine Einführung in den Jainismus), in dem Shri A.B. Latthe, der indische Autor, die folgende Bekanntmachung der britischen Gefängnisverwaltung von Bombay Stadt und Land abdruckte:

Religion

Einwohner

Verurteilte

Personen je

 

1891

Straftäter

Häftling

 

 

1891

 

Hindu

14657179

9714

1509

Mohamedaner

3501910

5 794

604

Christen

158765

333

477

Parsen

73945

29

2 549

Juden

9639

20

481

Jaina

240436

39

6165


»Die rechte Zahlenreihe zeigt«, so kommentierte der Autor die nachgedruckte Aufstellung, »daß die Jaina die weitaus niedrigste Verbrechensrate aufwiesen. Ein noch besseres Ergebnis erbrachte eine zehn Jahre spätere Untersuchung aus dem Jahre 1901, als von je 7355 Jaina nur ein Mann eine Gefängnisstrafe verbüßte.«

Nach Prof. Dr. Vilas Sangave aus Kolhapur, Südindien, dem ich den Hinweis auf diese Verlautbarungen verdanke, sind spätere Untersuchungen dieser Art nicht bekannt, doch würden die Jaina weiterhin den Ruf genießen, die niedrigste Verbrechensrate unter allen indischen Religionsgemeinschaften aufzuweisen. Shri Chitrabhanu, ein ehemaliger Jaina-Mönch, der heute hauptsächlich in Amerika lehrt und auch Deutschland besucht hat, sagte in einem seiner Vorträge: »Einmal fragte ich Oberrichter Kotwal in Bombay, ob es schon vorgekommen sei, daß Jainas wegen Mordes verurteilt wurden. Er war über meine Frage erstaunt und sagte: 'Niemals! Nach meinem Wissen gab es niemals einen Fall, wo ein Jaina einen Mord beging.'«

Der Jainismus liefert uns also den Beweis, daß die Tabuisierung der Gewalt Sinn macht. Immerhin dauert das »Experiment« Jainismus bereits über zweitausendfünfhundert Jahre. Und es lief und läuft nicht ab in einer behüteten Umwelt. Indiens Geschichte ist nicht weniger kriegerisch verlaufen als die europäische; das zeigt schon die Beobachtung, daß westliche Touristen auf ihren Reisen durch Indien ein gut Teil ihrer Zeit mit Besichtigungen von Forts und Waffensammlungen verbringen.

Wie steht es aber in unserer Gesellschaft mit der Ächtung der Gewalt? Schlecht, sehr schlecht! Da dies nicht immer so war, sollte man sich fragen, wie es zu dieser mißlichen Lage kam. Heute haben die Menschen keine Angst mehr vor einem neuen Weltkrieg. Sie fürchten sich, nachts aus dem Haus zu gehen. »Angst in den Städten. Die Gewalt nimmt zu!« war kürzlich auf der Titelseite einer Zeitschrift zu lesen.

Könnte es sein, daß unsere sogenannten Friedensforscher übersehen haben, daß die Ächtung des Krieges nicht die Ächtung der Gewalt schlechthin beinhaltet? Zurückblickend auf unsere Zeit werden sich zukünftige Forscher verwundert fragen, wie es geschehen konnte, daß in einer sich aufgeklärt wähnenden Gesellschaft die Forderung nach Abschaffung des Krieges einhergehen konnte mit dem Ruf nach Recht auf Gewalt. Hätten nicht zumindest die Vertreter der geistigen Berufe dagegen angehen müssen?

Wie kam es dazu, daß die in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg allgemeingültige Maxime, der Zweck rechtfertige nicht die Mittel, allmählich der Mißachtung verfiel und schließlich durch Schlagworte wie Revolution und Recht auf Gewalt ersetzt wurde?

Es kamen die Jahre, wo in zahlreichen Büchern mehr oder weniger offen die Anwendung von Gewalt als ein legitimes Mittel zum Zweck propagiert wurde. Im Gefolge dieses Denkwandels erschienen schon bald umfangreiche Arbeiten, in denen Wissenschaftler die Gewalt zu erklären suchten. Die einen begründeten sie biologisch-darwinistisch: als etwas, was nicht als das Böse angesehen werden dürfe. Andere sahen in der Gewalt einen Befreiungsakt aus aufgezwungener Triebunterdrückung. Und allenthalben kursierte die leicht dahingesagte Behauptung, daß in jedem Menschen ein potentieller Mörder stecke (das Wissen von Menschen, die sich lieber töten ließen als selbst zu töten, wurde weitgehend verschwiegen). Zu guter Letzt kam ein Berufszweig zu Ehren, der sich darauf versteht, Gewaltverbrechen als entschuldbare Affekthandlungen zu interpretieren. Eine wichtige Rolle dabei spielten die Medien, die das übrige taten - und noch immer tun -, um die Bevölkerung ganzer Länder an die Gewalt zu gewöhnen. Etwas mit einem Tabu zu belegen, die seit Jahrtausenden bewährteste Strategie von Konfliktvermeidung, galt und gilt nicht mehr als zeitgemäß.

Wie beiläufig und ohne Absicht dieser Abstumpfung gegenüber der Gewalt Vorschub geleistet wird, mögen die folgenden zwei Beispiele erläutern. So sendete beispielsweise eine deutsche Rundfunkanstalt in ihrem sonntäglichem Kulturjournal einen Beitrag, in dem eine englischsprachige Romanschriftstellerin lobend vorgestellt wurde. Um den Hörern zu zeigen, wie gut sie schreibe, wurde aus einem ihrer letzten Bücher ein Abschnitt vorgelesen, der folgenden Satz enthielt: »Er hätte sie liebend gern erschossen, hätte er eine Flinte im Hause gehabt.« - So soll man nicht von Menschen sprechen, würde Mahavira antworten. - Ein deutscher Schriftsteller - als weiteres Beispiel -, dem man mit Vergnügen zuhören kann, wenn er seine Reiseerlebnisse im Rundfunk vorträgt, und von dem man annehmen darf, er sei kein Befürworter von Gewalt als Mittel zum Zweck, erzählt in seinem Bericht über eine Reise durch die USA von einer Reiseleiterin, der sie sich - er und seine Frau - während einer Besichtigungsfahrt durch Los Angeles ausgeliefert sahen. Die Stimme dieser Frau ging ihnen auf die Nerven, schildert der Erzähler sehr anschaulich; es war nicht mehr zu ertragen! Und dann läßt er seinem Ärger Lauf mit der Bemerkung, daß er von Söhnen wisse, die wegen einer solchen Stimme ihre Mütter umgebracht hätten. - So soll man nicht von Menschen sprechen, sagt Mahavira.

Letztlich ist es wohl der Verlust an Spiritualität, oder genauer formuliert, die Aufgabe des Bildes vom Menschen als ein Wesen, das nicht ganz von dieser Welt ist, was zur Ent-Ächtung der Gewalt geführt hat.

Streitgespräche über das Wie und Was des Menschen sind selten geworden. Unverständlicherweise, denn unsere Zeit steckt voller Beispiele, wo hochfliegende Pläne, von der Verwirklichung weltverbessernder Utopien bis zu Bindungen zwischen Menschen, gescheitert sind und noch immer scheitern, weil das Bild, das man sich vom Menschen gemacht hat, nicht stimmt.

Betrachtet man den Wandel des Menschenbildes in unserem Kulturkreis seit Anfang des 17. Jahrhunderts, drängt sich einem die Vermutung auf, daß es nicht so sehr das Studium des Menschen durch den Menschen war, was den Wandel bewirkte, sondern technische Dinge. Erst gab es - damals in Paris - von Menschen gefertigte Maschinen, ehe ein französischer Philosoph den Satz vom Menschen als Maschine prägte. Als im Verlauf der Jahrhunderte die Welt der Technik immer unüberschaubarer wurde, sah sich der Mensch nicht mehr als Maschine, sondern als ein Rädchen im großen Weltgetriebe. Wieder etwas später, als es weniger darauf ankam, was die Menschen dachten und fühlten, sondern was sie produzierten, galt der Satz vom Menschen als Produkt.[1]

Seit Sigmund Freud, der in der Hoch-Zeit der Dampfmaschine aufwuchs, haben wir das fatale Bild vom Menschen als ein Wesen, das nach dem Prinzip eines Dampfkessels funktioniert; und davon ausgehend, komme es nun darauf an, das an ihm vermutete Sicherheitsventil zu finden und funktionsfähig zu erhalten. Im Jahre 1866 - Freud wurde 1856 geboren - bildete sich in Mannheim der erste Technische-Überwachungsverein. Diese private Vereinigung, die sich »Dampfkessel-Revisions-Verein« nannte, wollte durch regelmäßige Inspektionen dem häufigen Explodieren von Dampfkesseln entgegenwirken. Als dann Freud nach einer Erklärung des Menschen suchte, war er, ähnlich wie jener französische Philosoph, der uns das Bild vom Menschen als Maschine hinterließ, von der Technik seiner Zeit beeinflußt: das Unbewußte - irgendwo im Innern des Menschen angesiedelt - scheint er sich als ein Behältnis vorgestellt zu haben, in dem sich unterdrücktes Triebverlangen - nach Lustbefriedigung, Rache, Macht usw. - wie das Wasser in einem beheizten Kessel bis zum Siedepunkt erhitzt und schließlich gewaltsam einen Ausweg bahnt.

Handelte es sich bei Freuds Bild vom Menschen lediglich um eine Arbeitshypothese für Psychoanalytiker, bliebe der Schaden erträglich, doch, wie es so geht mit griffigen Deutungen, hat sich in der Nachfolge von Freud dieses Bild vom Menschen als ein Wesen, das nach dem Prinzip eines Dampfkessels funktioniert, verselbständigt. Heute akzeptiert so ziemlich jeder, auch der, der über Psychologie sonst nichts weiß, unbesehen die Theorie, daß sich der Mensch, der als ein soziales Wesen nun einmal mit Zwängen zu leben bereit sein muß, hin und wieder zu »entladen« habe, nicht langsam und sanft wie eine Batterie, sondern gewalttätig wie ein Dampfkessel. Wäre die Solarzelle vor der Dampfmaschine erfunden worden, hätten wir heute mit großer Wahrscheinlichkeit ein anderes, sanfteres Menschenbild.

Die bereitwillige Übernahme der Freudschen These »Verdrängung-folgt-Entladung« ist verständlich, liefert sie doch eine willkommene Rechtfertigungsstrategie. So, wie beim explodierenden Dampfkessel die Schuld beim Konstrukteur, Hersteller oder Heizer zu suchen sei, habe die Gesellschaft meine Gewalttat als eine natürliche Folge aufgezwungener Verdrängungen zu tolerieren. Und so deuten sogar kluge und angesehene Wissenschaftler randalierendes Verhalten auf Sportplätzen nicht als dummdreistes Imponiergehabe, sondern als Entladungen aufgestauter Frustrationen.

Mit diesem Schlußwort sollte daraufhingewiesen werden, daß das Ächten der Gewalt, wie es Mahavira gelehrt hat, sinnvoll ist - und sich auch bei uns als sinnvoll erweisen würde -, während der gegenwärtig vorherrschende Glaube, den Menschen und die Gewalt erklärt zu haben, die Ausbreitung der Gewalt weiterhin begünstigt. »Hast du den Zusammenhang der Welt erkannt«, heißt es bei Mahavira, »so sieh um dich: danach bist du kein Töter und kein Helfer beim Töten.«

Appendix: Diese abschließenden Worte waren gerade geschrieben, als bei der Zeitungslektüre mein Blick auf den folgenden Satz fiel: »Auf der Suche nach einer besseren Welt' soll man nicht auf den Fortschritt hoffen, sondern selbst 'ethische Wege' finden, die unnötiges Leiden verringern. 'Keine Grausamkeit!' müsse oberster Leitsatz sein.« Wolfgang Sirmacher über Sir Karl Popper, den Begründer des Kritischen Rationalismus zu seinem 90. Geburtstag.

Fußnoten
1:

Zum Vorkommen im Text springen

Quellen
Titel: Keine Gewalt gegen Mensch, Tier und Pflanze
Verlag: Zerling Clemens, Berlin
Ausgabe: 1993
Umschlaggestaltung: Klaus Esche

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Die sinngemāße ūbersetzung des Sanskrit-Textes auf dem Umschlagbild lautet:

Mit der Absage an die Gewalt stirbt die Feindschaft zwischen den Lebewesen

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