Mitgefühl und Kreativität - Reflektionen über ein zeitgenössisches Jain Kunstwerk

Veröffentlicht: 21.02.2007
Aktualisiert: 07.01.2013

Ein gutes Gemälde inspiriert. Ein gutes Gemälde ermutigt. Ein gutes Gemälde bringt uns zum Nachdenken und Reflektieren. Shanti Panchals Gemälde ‚Paddabhishek’, das die Einsetzung eines Jaina Mönches in den höchstmöglichen Rang des Acharya zeigt, tut all dies und noch mehr. Die so eindringlichen, sanften Augen provozieren uns zu der Frage, wer wir sind, wo wir stehen und was uns zu dem macht, was wir sind. Shanti Panchal ermutigt durch sein Bild zur Selbstreflektion.

Das Gemälde wurde im Januar und Februar 2007 im Chelmsfort Museum Essex, England, von der Museumskuratorin Anne Lutyens-Humphrey ausgestellt. Man hatte mich gebeten, das Kunstwerk öffentlich vorzustellen, was für mich als Jain, der in der zeitgenössischen Gesellschaft lebt, Ehre und Herausforderung zugleich ist. Im folgenden gebe ich eine Analyse des Bildes und seine Bedeutung für die moderne Welt.

Dieses 5x7 Fuß große Kunstwerk wurde von dem in Mumbai lebenden Jaina Diamantenhändler Russel Mehta in Auftrag gegeben, der den Künstler eingeladen hatte, an der Zeremonie teilzunehmen und anschließend seine Eindrücke zu malen. Über 10.000 Menschen waren Zeugen des Ereignisses. Fotografieren war nicht erlaubt, weshalb Shanti viele Skizzen anfertigte. Das Ergebnis ist keine Illustration, sondern vermittelt den Gesamteindruck des Ereignisses.

Beim Betrachten des Bildes stellt man sich als erstes die Frage, wer die weißgekleideten, Mundschutz tragenden Mönche sind und was sie tun. Eine Antwort bietet die Beschäftigung mit dem Jainismus, eine der ältesten, weitgehend unbekannten und unverstandenen religiösen Traditionen dieser Welt. Als Jain über dieses Kunstwerk zu schreiben berührt mich sehr, denn es öffnet ein zeitgenössisches Fenster zur Tradition des Jainismus, einem riesigen Ozean an uralter Kultur, den die Welt dringend beachten und studieren sollte.

Der Jainismus entstand vor Tausenden von Jahren in Indien. Die Existenz Mahaviras, des 24. Tirthankara, ist historisch erwiesen, er wurde 599 v.Chr. geboren. Seine Lehre gründet sich auf dem Respekt und der Ehrfurcht vor allem Leben – Ahimsa. Stützpfeiler der Jain Tradition sind die zölibatär lebenden Mönche und Nonnen, die ihr genügsames Leben ganz der Verwirklichung des Selbst widmen. Sie sind Vorbilder, Übersetzer und Lehrer der Tradition, und dieses Gemälde ist ganz auf sie konzentriert.

Seit Jahrtausenden spielt die Kunst in der Tradition der Jaina eine zentrale Rolle, einige der schönsten und komplexesten Tempelanlagen Indiens sind Jain Tempel. Die berühmtesten sind in Delwara und Ranakpur, Rajasthan, und in Palitana, Gujarat. Aus weißem Marmor gebaut, leuchten diese Stätten ruhiger Heiterkeit durch das natürlich einfallende Licht und strahlen gleichzeitig die Kühle des Marmors aus. Im Mittelpunkt stehen Abbilder der Tirthankaras. Besucher nehmen von diesen Tempeln einen bleibenden Eindruck mit. Sie waren von wohlhabenden Jain Händlern und Staatsmännern, welche die kunstvolle Gestaltung eines Tempels als sublimen Akt der Philantrophie ansahen, in Auftrag gegeben worden.

Diese Tradition hat Russel Mehta mit der Erteilung seines Auftrages für dieses Gemälde fortgesetzt und auch seine Einkünfte angemessen dafür eingesetzt. Shanti Panchal setzt mit seiner Kunst das künstlerische Vermächtnis der Jaina in lebendige Realität um. In den zahlreichen Bauten von Jain-Tempeln in Indien heute versuchen wir bestenfalls das alte nachzubilden, Qualität, Kreativität und Einfallsreichtum gibt es nur selten. Shanti hat vom Alten etwas genommen und daraus sowohl etwas Neues, als auch etwas Zeitloses geschaffen.

Die in dem Gemälde gezeigten Qualitäten sind Einfachheit, Demut, Gelassenheit, Harmonie und Kreativität. Das sind auch die grundlegenden Werte der Jain Tradition, welche der Künstler in atemberaubender Weise erfasst. Die Farben sind natürlich aufeinander abgestimmt und ergeben zusammen eine lebendige Komposition. Das Gemälde beschreibt die Zeremonie, in der ein Jain Mönch zum Acharya eingesetzt wird – in den höchstmöglichen Rang. Es gibt keinen Prunk, keinen Pomp, als Geschenk ihm wird ein weißer Schal als Symbol für die Ehrung überreicht. Das Gemälde zeigt, wie die anderen Mönche ihrem Acharya den weißen Schal umlegen. Diese Heiligen verfügen über keinerlei Besitz, ein schlichter Schal ist das höchste, was sie annehmen können.

Die heutige Welt brodelt vor Disharmonie und Umweltzerstörung. Hier ist eine zeitlose Tradition, die nicht nur den Weg zum einfachen und ausgeglichenen Leben zeigt, sondern ihn seit Jahrtausenden lebt und überlebt hat. Die Tradition hat trotz der Geschichte überlebt und blüht bis heute. Vor zweitausend Jahren hätte diese Zeremonie genauso stattgefunden.

In diesem Gemälde ist eine außergewöhnliche Zeitlosigkeit, die sowohl die Integrität der Tradition erfasst, als auch ihre innewohnenden nachhaltigen Qualitäten. Die moderne Welt weiß wenig über die Jaina und gibt vor, neue Konzepte wie Vegetarismus, Nachhaltigkeit und sanfte Fußspuren zu entwickeln... während diese seit Jahrtausenden gelebt wurden, bevor sie als solche etikettiert waren. Dieses Gemälde öffnet ein neues Fenster zu dieser schönen alten Tradition, welche der Westen studieren sollte, wenn er wirklich etwas über nachhaltiges Leben lernen möchte. Ehrlich, und nicht in der Absicht, daraus einen schnellen Profit zu ziehen.

Der Titel meines Vortrages lautet ‘Mitgefühl und Kreativität'. Mitgefühl ist das den Geist der Ahimsa (Ehrfurcht vor allem Leben) umspannende Herzstück der Jaina Tradition. Wahres Mitgefühl erfordert Kreativität – wie will man sonst den Schmerz eines Anderen fühlen können? Kreativität beinhaltet für den Künstler auch das Risiko, in die inneren Tiefen einzutauchen, ohne zu wissen, wo er landen wird. Die Mönche und Nonnen riskieren ihr ganzes Leben für die Verwirklichung des Selbst. Panchal selbst hat große Risiken und Leiden auf sich genommen, als er sich als Künstler in der Welt niederließ. Doch er war geduldig und beharrlich, was in dem Gemälde zum Ausdruck kommt – er sah ähnliche Qualitäten in Zusammenhang mit seinem Thema und konnte sie deshalb so intim darstellen.

Authentische Kreativität kann nicht durch Unsicherheit, sondern nur durch innere Sicherheit in Erscheinung treten – wir leben in einer Welt voller Unsicherheit und Materialismus, weshalb wir ausgehungert nach Kreativität sind. Null und Unendlich sind Zahlen, welche auf die indische/Jain Tradition zurückzuführen sind. Dieses Gemälde fängt beides ein, Null und Unendlich – wir müssen mit unserem Durcheinander und unserem Besitzstreben zurück zu Null, damit wir unser unendliches Potential freisetzen können. Wenn wir auf Null zurückgehen, sind wir am karitativsten und hinterlassen die wenigsten Fußspuren, weil wir die Natur mit ihrem Reichtum sich selbst überlassen und uns nicht einmischen, um Profit daraus zu ziehen oder sie zu zerstören. Außerdem gleicht die Null der Selbstlosigkeit und dem unendlichen Mitgefühl. Kreativität tritt wie bei vielen unserer historischen Acharyas, welche die Tradition nachhaltig aufrecht erhalten haben, dann ganz natürlich zutage. ‘Padabhishek' grüßt alle Acharyas des Universums, die uns den Weg zu einem Leben voller Mitgefühl gezeigt haben.

Es ist eine Tatsache, dass die meisten Künstler erst nach ihrem Tod Anerkennung gefunden haben. Es wäre wirklich eine Schande, wenn Shantis einzigartige Kunst diesem Schicksal überlassen bliebe. Sie zelebriert die Vielfalt Englands, indem sie einer der am wenigsten bekannten Gemeinschaften mit den ursprünglichsten Wertvorstellungen Aufmerksamkeit schenkt. Kreativ weckt er das Beste in uns, damit wir dem Geringsten unter uns zu Diensten sind.

Quellen
Übersetzung: Carla Geerdes
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  1. 24. Tirthankara
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