Lediglich Parshva, der Vorgänger Mahaviras, scheint eine historisch fassbare Person gewesen zu sein; dafür sprechen sein relativ “vernünftig” erscheinendes Lebensalter von “nur” 100 Jahren, die Hinweise auf ihn in der Biographie Mahaviras und die Zeitangabe, die ihn 250 Jahre vor diesem ansetzt, d.h., danach müsste er im 8.Jahrhundert v. Chr. gelebt haben, eine Zeit, auf die viele Umstände seiner Lebensbeschreibung passen.
Zwar bewegen wir uns auch hier noch in einem Zeitraum, der über Indien kaum verlässliche Informationen bietet. Aber Aussagen über Parshva setzen ihn in Bezug zu jenen ganz allgemeinen Glaubens- und Lebensvorstellungen, die im 2.Jahrtausend und zu Beginn des ersten den gesamten Orient wie ein lockeres Band verbunden haben: Sie beruhen auf der streng dualistischen Sichtweise eines ewigen Kampfes zwischen den Mächten des Lichtes und der Finsternis, wie wir ihn in Ägypten, im Zoroastrismus Persiens und der jüdisch-christlichen Tradition ausgebildet finden. In der Mythologie des Vorderen Orients wird dieses Thema häufig in den zwei Brüdermärchen in Szene gesetzt, beispielsweise im Kampf zwischen Kain und Abel, Jakob und Esau oder den beiden verfeindeten Brüderpaaren Anubis-Bata sowie Horus-Seth.
Und genauso wird auch das Leben Parshvas und seiner vielen irdischen Existenzen vorher immer wieder beschrieben als ein Kampf zwischen ihm und einem bösen, dunklen Bruder, der Begierden, Machtwillen und Lebenshunger widerspiegelt. Wir werden in einem späteren Kapitel darauf zurückkommen, aber wichtig erscheint der Hinweis, dass der im Vergleich zu Mahavira frühere Erlöser Parshva noch viel mehr in allgemeine, “internationale” Glaubensvorstellungen eingebunden erscheint als dies Mahavira verkörpert.
Bis heute ist Parshva im Kult populärer als Mahavira. Dies mag mit der geringen Leutseligkeit des Jüngeren und seinem Eintreten für eine noch stärker asketische Lebensweise zusammenhängen, vielleicht auch mit der Verknüpfung Parshvas mit dem überall in Indien sehr populären Schlangenkult. In Ranakpur kann man das im Bild sehr eindrucksvoll nachvollziehen.
Vier Vorschriften der Lehre Parshvas haben sich erhalten: der strenggläubige Jaina soll nichts Lebendes verletzen, nicht die Unwahrheit sprechen, sich keine Dinge aneignen, die ihm nicht gegeben worden sind und kein Eigentum besitzen.
Am Ende seines Lebens sollen Parshva 164.000 Männer und 327.000 Frauen als Laienanhänger gefolgt sein, 16.000 Mönche und 38.000 Nonnen hatten die Gelübde abgelegt. Mögen diese Zahlen auch übertrieben sein, so könnte doch das deutliche Übergewicht des weiblichen Elementes dafür sprechen, dass der Jainismus nicht nur gegen das Kastensystem vorging, sondern auch den Frauen eine bessere Position im Leben zuwies.