Wahrscheinlich trug Mahavira keine gänzlich neue Lehre vor, sondern entwickelte ein Gedankengebäude weiter, das vor ihm bereits Parshva und davor möglicherweise noch andere verkündet hatten. Dafür spricht, dass Mahavira bei den Jainas als 24. Tirthankara (Furtbereiter) gezählt wird, also in einer langen Kette von Vorgängern den letzten Höhepunkt bildet. Seine Eltern waren bereits Anhänger Parshvas, des 23. Tirthankara. Im Gegensatz zu Buddha fußte also Mahavira schon auf einer Überlieferung, er entwickelte kein neues philosophisches System und behauptete nicht, Erleuchtung einer neuen Einsicht empfangen zu haben. Vielmehr erlangte er nur die vollkommene Einsicht dessen, was man in der Gemeinschaft schon vorher in Fragmenten wußte und lebte.
Die lange Kette jainistischer Erlöser verschwindet im Dunkel des Mythos. Sie scheinen nicht unserem Raum-Zeit-Kontinuum anzugehören, denn es werden ihnen unendlich lange Lebensspannen und gewaltige Körpermasse zugeschrieben. Das hängt mit der pessimistischen jainistischen Weltsicht zusammen, nach der die Menschen früher vollkommener von Gestalt waren und länger lebten und sich dies im Laufe der Zeit zum Negativen wandelte. Der riesige zeitliche Abstand zur heutigen Zeit soll den Ewigkeitsanspruch dieser Religion dokumentieren.
Aber natürlich bedeutet das nicht, dass diese Tirthankaras nicht existiert hätten. Drei von ihnen, Rishabha (ein anderer Name für den ersten Erlöser Adinatha), Ajita und Arishtanemi waren bereits den Autoren des Yajurveda (kurz nach 1000 v.Chr.) bekannt. Auch geben manche Namen, familiäre Zuordnungen und Symbole Hinweise auf bestimmte historische Zusammenhänge. So ist Adinathas Symboltier der Stier und verweist auf den in ältester Zeit überall im Orient gepflegten Stierkult.
Bharata, den die Hindus als Gründerkönig, der dem Land seinen Namen gab, verehren (Indien = Bharat in Hindi), gilt als Sohn Adinathas, so dass die Ursprünge jainistischen Glaubens bis in die älteste mythische Schicht Indiens hinaufgerückt werden. Die Gestalt Arishtanemis (=dessen Radfelge unbeschädigt ist), des 22. Tirthankaras, spiegelt sich in Legenden wider, die ihn als Vetter ersten Grades von Krishna bezeichnen. Sein Name verweist auf das Sonnenrad oder den Sonnenwagen und deutet darauf hin, dass er der alten halbmythischen Sonnendynastie angehörte.
Die meisten Tirthankaras allerdings sind ihrer Herkunft nach keineswegs arisch. Das könnte bedeuten, dass sich mit ihrer lebensverneinenden Philosophie erstmals einheimische Gedanken der heroisch aktiven und lebensbejahenden Welt der Arier entgegenzustellen begannen.