Eine alte Aufgabe der Jaina-Forschung

Veröffentlicht: 15.11.2012
Aktualisiert: 16.01.2013

Philologisch-historische Forschungsgebiete, die sich neu entwickeln, wenden sich nach den ersten, meist vom Zufall geleiteten Anfängen den Ursprüngen ihres Gegenstandes zu. Unter günstigen Sternen bringt die gemeinsame Arbeit Vieler die Sammlung der Quellentexte zustande und legt damit die Grundsteine, auf denen der umfassende wissenschaftliche Ausbau geschehen kann. Für den alten Buddhismus hat die Pali Text Society dem Bedürfnis, das Tripitaka in handlicher europäischer Ausgabe lesen zu können, seinerzeit Rechnung getragen und konnte sich sogar der Übersetzung, der Kommentare und mancher in weiterem Sinne zugehöriger Werke annehmen.

Die ältere Schwester der Lehre des Buddha, die Erlösungsweisheit seines Zeitgenossen Mahāvīra, der heilige Besitz der Jainas, ist nicht so glücklich gewesen. Zum einen Teil in ihr selbst, die keine Weltreligion werden konnte, sondern im Hindutum verwurzelt geblieben ist, zum anderen Teil in der Forschungsweise ihrer Bahnbrecher lag die Ursache, daß sie im Abendlande die größere Zahl von gelehrten Arbeitern und hilfreichen Freunden der Wissenschaft nicht anzog, die ein Seitenstück zu jener Gemeinschaft hätten bilden können. Unsere Vorstöße in den Bezirk der alten Quellen sind vereinzelt geblieben und folgten keinem bestimmten Plan. An der Kenntnis jener brauchte es nicht zu fehlen: die große Mehrzahl von ihnen ist nebst dem Kommentar dank der Freigebigkeit der Gläubigen in Indien gedruckt worden, und wer sich diese, allerdings unbeholfenen und jedenfalls unkritischen Ausgaben nicht verschaffen kann - sie sind seit Jahren völlig vergriffen -, der mag sich an die wenn auch wenigen Druckbände und an die Handschriften halten, die sich in einigen Biblio­theken Europas und Indiens finden.

Wenn gleichwohl neuere Gesamtbilder ohne diese Grundlagen ausgekommen sind, so hat das eine innere Ursache. In viel höherem Grade als der frühe Buddhismus ist die Jainalehre ein groß gesehenes und bis ins kleinste durchgearbeitetes Ganzes. Von Ewigkeit her, so glauben die Jainas, ist die wandernde Seele dank der wie immer gearteten Betätigung ihres Inhabers mit wesensfremden Atomen behaftet, die nach verschieden langer Lagerzeit Empfindungen, Zustände und Handlungen in ihr hervorrufen. Durch asketischen Wandel wehrt ihr menschlicher Träger deren weiterem Zuströmen, tilgt sie, soweit sie noch in der Seele schlummern, und verwirklicht dadurch deren eigenes wahres Wesen, die von allem Stofflichen einschließlich der Sinnesempfindungen und der Denkvorgänge freie, unbegrenzte Geistigkeit.

Dies Entfliehen aus dem Gesetz der zukünftigen Vergeltung alles Tuns führt die befreite Seele hinaus über die unirdischen Wesen, die Menschen, die Tiere, die Pflanzen und diejenigen Seelenträger, die in Gestalt der feinsten, sinnlich nicht faßbaren Teilchen der Elemente Erde, Wasser, Feuer und Wind verkörpert sind. Die Vollendeten haben jenes Karman-Gesetz überwunden; ihr Gegenstück bilden diejenigen unentwickelten Seelen, bei denen es noch nicht in Kraft getreten ist. Unendlich an Zahl wie jene, enthalten sie den unerschöpflichen Bestand der Erlösungsfähigen in der zeitlich anfang- und endlosen, räumlich aber begrenzten Welt.

Der selige Ort liegt an deren Spitze, weit jenseits des Auf und Ab der Daseinsformen, in das gebannt durch ihr eigenes Tun die Seele bald zu den übereinander getürmten Götterhimmeln emporsteigt, bald in die untereinander hängenden Höllenstätten hinabsinkt, bald ein irdisches Leben führt als ver­nunftbegabtes oder unvernünftiges Wesen in den Flächen der Festlandsringe und der innersten Scheibe, die unser aller Wohnort enthält. Nur in diesen Andeutungen kann hier die den Jainas eigene Verzahnung der Mönchsordnung und der keineswegs auf den Menschen beschränkten Sittenlehre mit der kosmischen und physischen Weltvorstellung vorgeführt werden, aber sie reichen aus, um von der Geschlossenheit des Systems einen Begriff zu geben, ohne daß freilich auch der in ihm herrschende Zahlengeist zum Ausdruck käme. Im Wesen eines solchen Gedankenbauwerks, d. h. dem Niederschlag aus Idee und Erfahrung eines geistig gebietenden Mannes, liegt es nun, daß es einer inneren Weiterbildung nicht eigentlich fähig ist, und so sind, wie wir dem ungeheuren, wenn auch erst teilweise bekannten nachkanonischen Schrifttum entnehmen, die Grundlagen bis heute dieselben geblieben, während Veränderungen, an denen es nicht fehlt, so gut wie allein in Äußerlichkeiten eingetreten sind.

Da ist es denn begreiflich, daß die zusammenfassende Darstellung sich bisher vorwiegend an jüngere Texte ge­halten hat, weil diese sowohl leichter erreichbar wie leichter verständlich waren als die alten Lehren in ihrer beschränkten Zugänglichkeit, ihrer uneinheitlichen Überlieferung und ihrem oft krausen Durcheinander. Es liegt aber auf der Hand, daß die Indologie sich bei diesem Zustand nicht beruhigen kann, sondern endlich darangehen muß, sich der Grundlagen planmäßig zu bemächtigen - eine Arbeit, deren Umfang dank gewisser Möglichkeiten bedeutender Vereinfachung nicht überschätzt werden sollte, die aber doch des Zusammenwirkens Mehrerer nach festgelegten Gesichtspunkten bedarf.

An diese Grundlagen endlich heranzuführen ist mein Ziel gewesen, als ich für eine Darstellung der Lehre Mahāvīras die Texte des Kanons erstmalig in ihrer Gesamtheit ausbeutete, soweit der erlaubte Raum es zuließ. [1] Die Herausgabe wenigstens der kanonischen Werke ist nicht nur ein Bedürfnis des wissenschaftlichen Ordnungssinnes. Sie erst wird einem großen Systematiker des indischen Altertums die ihm zukommende Stellung geben.

Wir haben keinen Anlaß, unseren Quellen zu mißtrauen, wenn sie das Denkgebäude, das vorhin umrissen wurde, Mahāvīras Eigentum nennen, wobei sie übrigens auch angeben, zu welchen Lehrpunkten er selbst bekannte, in der Spur seines geistigen Ahnen Pārśva zu wandeln. Freilich dürfen wir nicht erwarten, seine eigenen Worte wiederzufinden, denn auch die ältesten Texte weisen eine jüngere Sprachform auf als Mahāvīras Alt-Ardhamāgadhī und führen, wie es bis jetzt scheint, nur einzelne Altertümlichkeiten dieser in ihrem Strome mit. Aber seine persönliche Art macht sich immer noch als eine strenge und herbe geltend, wie man denn auch den Gegensatz zu Pārśvas Wesen empfunden haben wird, da man dieses als ein „gewinnendes” bezeichnet hat. Daß Mahāvīras rednerische Gleichnisse nur in Stichworten erhalten sind, die uns Heutige leider oft um die letzte Klarheit bringen, mutet uns an, als hätte die Jaina-Lehre ihre Nüchternheit von dem großen Verkünder geerbt, und als sollte dessen Verzicht auf Wärme und Schwung der Preis sein für den planmäßigen Bau der geschauten und erlebten Welt zu einem großartigen Gefüge.

Einige wenige Steine dieses Gefüges sollen im Vorübergehen näher auf eine bestimmte Eigenart betrachtet werden. Wenn jede, auch die kleinste oder die frömmste Handlung, eben weil sie Handlung ist, unabsehbare metaphysische Folgen nach sich zieht, so würde selbst der asketisch Lebende sich niemals der Daseinskette, die sich aus Ursache und Wirkung herstellt, entziehen können. Aber es gilt der Satz - wie schön ist es, dekretieren zu können! -, daß die aus religiöser Pflicht entspringende fromme Handlung nur eine sehr schnell vorübergehende Wirkung hat, die ihrem Urheber nicht schadet. Und wenn ferner, wie wir gleichfalls oben sahen, die bewegte Luft (nur solche kennt man) aus beseelten win­zigsten Teilen besteht, die nach einem Hauptgebot Mahāvīras genau so geschont werden müssen wie jedes Tier und jede Pflanze, so würde der Mensch, mag er sich auch der willkürlichen Lufterschütterung durch Fächeln, Schlagen usw. völlig enthalten, doch den Windzug bei jeder Bewegung, ja selbst beim Atemhauch niemals vermeiden können. Aber es gilt der Satz, daß eine in solchen unwillkürlichen Handlungen bewegte Luft nicht Träger von Seelen ist und ihr Urheber deshalb keine Schuld auf sich lädt. In beiden Fällen wird man den Willen gewahr, die unerbittliche und daher zur Selbstaufhebung führende Folgerechtheit des Systems zu vermeiden, mag auch das Wesen des Gegenstandes damit völlig preisgegeben sein: in dem einen Falle die Wirkungsweise des Kaimans, im anderen die Beseeltheit des Windes, beides Grundgesetze des Weltaufbaus, die doch gänzlich unabhängig sind von der Beschaffenheit des Handelnden oder seiner Handlung.

Jene Überlegungen sind seinerzeit dem Gedankengebäude selbst entsprungen und in ihm auch wieder zur Ruhe gekommen. Wir stoßen aber ferner auf Fälle, wo Mahāvīras Ideen sich mit solchen, die außerhalb liegen, berührten und sich diese anglichen. Die gemeinindischen Grundlagen können hier außer Betracht bleiben. Wenden wir uns aber zu einer Einzelheit, so ist schon längst gefragt worden, ob die Vorstellung vom Farbenspiel der Seele entsprechend dem Wechsel des in ihr wirksamen Karmans nicht vielleicht von Mahāvīra der Lehre seines Nebenbuhlers Gosāla entlehnt sei. Denn diese Vorstellung ließe sich mühelos aus dem Ganzen lösen, ohne eine Lücke zu hinterlassen. Wer aber von beiden sie auch zuerst in ein System gebracht haben mag, auf jeden Fall entstammt sie dem Volksglauben an lichte gute und dunkle böse Herzen. Ihn sehen wir auch anderwärts im Spiele, und zwar gelegentlich, was uns hier allein angehen soll, im Widerstreit zur Logik der Lehre. Wenn besprochen wird, ob der allwissende Übermensch von einem bösen Geist besessen sei oder nicht, so sind in diesem Ausdruck allerdings die Unkenntnis und das Übelwollen Außenstehender sichtbar, denn für den gläubigen Jaina reicht kein solches Gebilde des Volksglaubens in die geistige Höhe des Übermenschen hinauf. Wenn aber - um einen anderen Fall zu nennen - die Luftgeister, ohne die das indische Märchen nicht auskommen kann, weder den genau abgegrenzten Klassen der halbgöttlichen Wesen einverleibt sind, noch auch in der Einteilung der Menschen eine Stelle gefunden haben, während ihnen doch bestimmte mythische Wohnbereiche zugewiesen sind, so mußte augen­scheinlich den landes- und zeitüblichen Vorstellungen Rechnung getragen werden selbst auf Kosten der systematischen Sauberkeit. Und diese vermissen wir auch, wenn magische Fähigkeiten, insbesondere das Schwe­ben im Räume, als Erfolg der Versenkung auf der reinsten Stufe erscheinen. Es liegt ja auf der Hand, daß diese zur Selbsterlösung, also zum höchsten Ziel menschlichen Strebens führende äußerste Sammlung der geistigen Kräfte mit zauberischem Spiel nicht belastet sein dürfte.

Wir streifen zum Schluß das Gebiet der heiligen „Geschichte". Die frommen Kaiser der Jainassage, weltliche Seitenstücke zu den geistlichen Heroen, gewinnen als Eroberer der Erde neben lebendigen Kleinodien (wie Roß, Würdenträger, Gattin) auch solche von sächlicher Art (Schwert, Richterstab, Wunderfell und andere). Die ersteren haben natürlich fünf Sinne, die letzteren, wie angegeben wird, einen einzigen, auf Grund dessen aber auch sie als beseelt gelten. Denn wenn auch die Sinnesorgane und ihre Leistungen der Materie angehören, sind sie doch nur in Verbindung mit Seelen denkbar. Jedoch unter den Wesen mit nur einem Sinn (nämlich dem Gefühl) versteht die Weltbaulehre Mahāvīras allein jene Elementarteilchen, von denen im Anfang dieses Aufsatzes die Rede war, und die Pflanzen. Auch hier ist also eine aus ganz anderer, den Jainas fremder Gedankenwelt stammende Anschauung auf Kosten der Folgerechtheit aufgenommen worden. Wir erinnern uns ja an Wehr und Waffen epischer Helden Altindiens und ihr selbständiges Handeln und Reden.

In dem geschilderten Ausweichen vor der äußersten Konsequenz und in der Aufnahme von Bestandteilen des Volksglaubens zeigen sich uns Stellen, wo das unter dem Namen Mahāvīras gehende Denkgebäude der letzten Glättung entbehrt. Vielleicht sind unter ihnen einige Ansatzpunkte gegeben, die eine zeitliche Schichtung bloßzulegen erlauben. Natürlich kommt ihre Verteilung auf die älteren und jüngeren Texte, die in diesen Zeilen nicht dargelegt werden konnte, wesentlich mit in Betracht. Sind die kanonischen Jainawerke einst in der erstrebenswerten Gesamtausgabe, die in überlegter Zusammenarbeit ohne besondere Schwierigkeiten mit mäßigem Geldaufwand ausführbar ist, in den Händen der Indologen, so dürfte damit der Anreiz zur gemeinschaftlichen kritischen Forschung gegeben sein. Sie wird noch manch andere Bausteine als die eben berührten auf Herkunft und Einpassung zu prüfen haben.

Fußnoten
1:

Zum Vorkommen im Text springen

Quellen
Erstveröffentlichung:

Forschungen und Fortschritte 11 (1935), S. 266-268.


HN4U Online-Publikation:

Redaktion: P. Krüger

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