Die Heiligen Schriften der Jainas

Veröffentlicht: 11.10.2012
Aktualisiert: 03.07.2015

Mahāvīra, ein Mann aus vornehmem Geschlechte, der der Welt entsagt hatte, verkündete im 6. Jahrhundert v. Chr. in seinem Heimatlande Bihār eine Heilslehre, welche die Erlösung aller Wesen aus dem Meer der Wiedergeburten durch Befreiung der Seele von den Fesseln der Materie verhieß. Diese Lehre soll nach der Anschauung ihrer Bekenner ewig sein wie das Weltall und in bestimmten, gesetzmäßig feststehenden Zeitaltern von „Tīrthaṅkaras”, d. h. Propheten, verkündet worden sein. In unserer Weltperiode soll Mahāvīra 23 Vorläufer gehabt haben, von denen jedoch nur der letzte, Pārśva, der 250 Jahre vor Mahāvīra gelebt haben soll, vielleicht eine historische Persönlichkeit ist. Die Lehre, die Mahāvīra predigte, fand große Verbreitung und es bildeten sich Gemeinden von Mönchen und Nonnen, Laienbrüdern und Laienschwestern, die seinen ethischen Geboten in ihrer strengeren, für Asketen, oder ihrer leichteren, für Laien bestimmten Form anhingen. Der Jainismus, wie man die Religion der,,Jainas”, d. i. der Anhänger der Jinas (d. h. Weltüberwinder) bezeichnet, erlebte in den Jahrhunderten, die dem „Nirvāna" Mahāvīras folgten, eine große Ausbreitung, er faßte von Bihār aus in den verschiedensten Teilen Indiens Fuß, in Orissa, in Nord- und Mittelindien, in Gujarāt, im Dekhan und im dravidischen Suden. Im scharfen Kampfe gegen den orthodoxen Brahmanismus und gegen rivalisierende Sekten wußte er sich in manchen Landesteilen einen maßgebenden Einfluß zu sichern, ja, er war zeitweise in manchen indischen Staaten die vorherrschende Glaubenslehre. Mit dem 12. Jahrhundert n. Chr. begann er seine werbende Kraft einzubüßen; die brahmanische Gegenreformation und der Ansturm des Islam ließen die Zahl seiner Anhänger zusammenschmelzen, so daß er heute nur noch 1 ¼Million Bekenner aufweist, zumeist Kaufleute, die in den verschiedensten Teilen Indiens leben.

Der Jainismus stellt eine Reformbewegung dar, die, ursprünglich in den Kreisen des Kriegeradels entstanden, die Vorrangstellung der Brahmanen bekämpfte. Die Jainas erkennen deshalb den Veda und die brahmanische Überlieferung nicht an und setzen an die Stelle der heiligen Schriften des Brahmanismus einen eigenen Kanon. Dieser Kanon stellt keine göttliche Offenbarung dar - denn die Jainas glauben an keinen göttlichen Weltregierer -, sondern enthält nach ihrer Anschauung die ewigen Wahrheiten, die jeder Tīrthaṅkara in gleichlautender Weise seinen Schülern mitteilte; er soll deshalb an sich zeitlos sein, wenngleich die in ihm enthaltenen Namen und anderen Einzelheiten mit jedem einzelnen Tirtharikara gewechselt haben müssen. Der Kanon, der für unsere Zeit, für die Zeit des letzten, 24., Propheten maßgebend ist, soll auf Grund der Belehrungen Mahāvīras von seinen Schülern verfaßt worden, aber seit dem Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. zum Teil in Verlust geraten sein. Die Geschichte des Kanons ist eng verknüpft mit Ereignissen, die zu einer Spaltung der Jaina-Gemeinde führten.

Die Überlieferung besagt hierüber folgendes: Zur Zeit des Kaisers Candragupta entstand in Bihār eine Hungersnot, die einen Teil der Jaina-Mönche dazu veranlaßte, unter der Führung Bhadrabāhus nach Maisūr auszuwandern; ein anderer Teil hingegen blieb unter Bhadrabāhus Schüler Sthūlabhadra in Bihār zurück. Während die Wanderer im Süden die strengen Mönchsregeln einhielten, ja noch verschärften, indem sie das von Mahāvīra für Asketen empfohlene Nacktgehen obligatorisch machten, huldigten die Zurückgebliebenen einer freieren Auffassung und gestatteten deshalb den Mönchen allgemein das Tragen weißer Gewänder. Als die beiden Gruppen dann später wieder zusammentrafen, mußten die Emigranten den in Bihār Verbliebenen als Eiferer, jene den Ausgewanderten als Abtrünnige erscheinen. Der Gegensatz zwischen beiden Parteien verschärfte sich im Laufe der Zeit immer mehr, so daß es im 1. Jahrhundert n. Chr. zu einem Schisma kam und seit jener Zeit in der Jaina-Gemeinde zwei Konfessionen nebeneinander bestehen, die,,Śvetāmbaras”, d. h. Weißgekleideten und die „Digambaras” d. h. Luftgekleideten.

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Abb. 1. Ein Tīrthaṅkara. Statue in einem Tempel auf dem Berg Śatruñjaya.

Nach der Tradition der Śvetāmbaras soll sich bei einem Konzil, das die in Bihār ver­bliebenen Jainas um 300 v. Chr. in Pāṭaliputra abhielten, herausgestellt haben, daß das letzte unter den großen Hauptwerken des Kanons, das 12. Aṅga, das die 14 Pūrvas enthielt, den Teilnehmern an der Versammlung nicht mehr vollständig bekannt war. Man schickte daher Mönche aus, um den der Pūrvas kundigen Bhadrabāhu, der damals in Nepal asketischen Übungen oblag, dazu zu veranlassen, nach Pāṭaliputra zu kommen. Bhadrabāhu weigerte sich jedoch, die Stätte seiner Kasteiungen zu verlassen und ließ sich nur dazu herbei, den Sthūlabhadra an seinem Aufenthaltsort die 14 Pūrvas zu lehren, verbot ihm jedoch, die vier letzten derselben weiterzugeben. So konnte denn in der Folgezeit der Kanon nur mit Ausschluß von 4 Pūrvas weiter überliefert werden, und sieben Lehrergenerationen nach Sthūlabhadra ging auch die Kenntnis der übrigen 10 Pūrvas verloren. Der Rest der heiligen Werke aber soll dann durch die Jahrhunderte weiter übermittelt und auf den Konzilen von Valabhī und Mathurā (980 und 993 nach Mahāvīras Tode) schließlich endgültig in die Form gebracht worden sein, in der wir ihn heute besitzen.

Die Digambaras lehren gleich den Śvetāmbaras, daß Bhadrabāhu als letzter eine vollständige Kenntnis des gesamten Kanons besessen habe. Im Verlauf der folgenden Generationen sollen dann aber nicht nur die Pūrvas, sondern auch die einzelnen Aṅgas nach und nach in Vergessenheit geraten sein, so daß schließlich mit dem Tode Bhūtavalyācāryas im Jahre 683 nach Mahāvīras Nirvāna die Kenntnis des Kanon vollkommen erlosch. [1] Nach der Ansicht der Digambaras existiert deshalb heutzutage der Kanon überhaupt nicht mehr und der Kanon der Śvetāmbaras ist mit den echten heiligen Schriften der Vorzeit nicht identisch. Alle authentische religiöse Belehrung kann demnach nicht aus diesem, sondern nur aus den Werken von Digambara-Dogmatikern gewonnen werden, die sich auf eine Überlieferung gründen, welche in den verlorengegangenen Werken des Kanons wurzelt.

Eine zusammenfassende Darstellung des Jainismus habe ich in meinem Buche ,,Der Jainismus. Eine indische Erlösungsreligion” (Berlin 1925) gegeben. Daselbst eine Bibliographie aller wichtigeren Werke über den Gegenstand.

Der Kanon der Śvetāmbaras [2]

Der Kanon der Śvetāmbaras setzt sich aus 45 Werken zusammen. Ich lasse die Prākrit-Namen derselben hier folgen; dahinter in Klammern die Sanskritbezeichnungen der einzelnen Werke, obwohl diese vielfach schwankend und unsicher sind. Hinter jedem Titel gebe ich eine kurze Charakterisierung des Inhalts. Diese Bemerkungen können jedoch nur eine ungefähre Vorstellung von den einzelnen Werken geben, da viele von ihnen einen sehr bunten Inhalt aufweisen und deshalb außer dem genannten Gegenstand noch eine Fülle von anderen behandeln.

I. Aṅgas

Die Aṅgas, d.h.,,Glieder”:

  1. Āyāra (Ācāra) handelt vom Lebenswandel der Asketen;
  2. Sūyagaḍa (Sūtrakṛta, richtiger vielleicht: Sūcākṛta) enthält Anweisungen für das Mönchsleben und bekämpft gegnerische Ketzerlehren;
  3. Ṭhāṇa (Sthāna) gibt eine erläuterte Aufzählung der Hauptbegriffe der Lehre.
  4. Samavāya ist eine Fortsetzung des Ṭhāṇa.
  5. Viyāhapannatti (Vyakhyāprajñapti) oder Bhagavatī behandelt die Lehre in Dialogen und Legenden.
  6. Nāyādhammakahāo (Jñātādharmakathās) illustriert die Lehre durch Erzählungen und Legenden.
  7. Uvāsagadasāo (Upāsakadaśās) berichtet Legenden von frommen Jaina-Laien.
  8. Antagaḍadasāo (Antakṛtadaśās) erzählt von 10 Asketen, die ihrem Karma ein Ende machten.
  9. Aṇuttarovavāiyadasāo (Anuttaraupapātikadaśās) berichtet von Heiligen, die zu den höchsten Himmelswelten emporstiegen.
  10. Paṇhāvāgaraṇāiṃ (Praśnavyākaraṇani) behandelt in dogmatischer Form Gebote und Verbote.
  11. Vivāgasuya (Vipākasātra oder Vipākaśruta) enthält Legenden über die Vergeltung guter und böser Taten.
  12. Diṭṭhivāya (Dṛṣṭivāda) verloren. [3]
II. Uvaṅgas

Die Uvaṅgas (Upāṅga),,Nebenglieder”:

  1. Uvavāiya (Aupapātika) lehrt, wie die Existenz in Götterwelten zu erlangen ist.
  2. Rāyapaseṇaiya (Rājapraśnīya) erzählt, wie König Paesi von Kesi, einem Anhänger Pārśvas, bekehrt wurde, und später, zum Gottgeworden, dem Mahāvīra huldigte.
  3. Jīvābhigama beschreibt die Welt und ihre Lebewesen.
  4. Pannavaṇā (Prajñāpanā) behandelt die verschiedenen Formen und Eigenschaften von Lebewesen.
  5. Sūrapannatti (Sūryaprajñapti) handelt von der Sonne und anderen Himmelskörpern.
  6. Jambuddīvapannatti (Jambudvīpaprajñapti) beschreibt den Kontinent Jambūdvīpa und erzählt seine Geschichte.
  7. Candapannatti (Candraprajñapti) handelt von Mond und Sternen.
  8. Nirayāvalī (welcher Name auch für die Uvaṅgas 8-12 gebraucht wird) oder Kappiyāo (Kalpikās) berichtet von zehn Prinzen, die gegen ihren Großvater Ceḍaga (Cetaka) fochten und in die Hölle versanken.
  9. Kappāvaḍaṃsiyāo (Kalpāvataṃsakās) berichtet von den Söhnen dieser Prinzen, die Asketen wurden und in die Himmelswelten gelangten.
  10. Pupphiyāo (Puṣpikās) schildert die Vorgeburten von Gottheiten, welche Mahāvīra huldigten.
  11. Pupphacūlāo (Puṣpacūlās) enthält Geschichten ähnlicher Art.
  12. Vaṇhidasāo (Vṛṣṇidaśās) erzählt von der Bekehrung der Prinzen aus dem Vṛṣṇi-Geschlecht durch den Tīrthaṅkara Ariṣṭanemi.
III. Paiṇṇas
Die Paiṇṇas (Prakīrṇa), d. h.,,Vermischte Schriften”:
  1. Causaraṇa (Catuḥśaraṇa) enthält Gebete und Beichtvorschriften.
  2. Āurapaccakkhāṇa (Āturapratyākhyāna),
  3. Bhattaparinnā (Bhaktaparijñā) und
  4. Saṃthāra (Saṃstāra) befassen sich mit dem Sterben des Weisen.
  5. Tandulaveyāliya (Tandulavaitālika) handelt von Embryologie, Anatomie usw.
  6. Candāvijjhaya (Candrakavedhyaka) handelt von den Eigenschaften von Lehrern und Schülern u. a.
  7. Devindatthaya (Devendrastava) gibt eine Aufzählung der Götterkönige.
  8. Gaṇivijjā (Gaṇividyā) ist astrologischen Inhalts.
  9. Mahāpaccakkhāna (Mahāpratyākhyāna) ist eine Beichtformel.
  10. Vīratthaya (Vīrastava) zählt die Namen Mahāvīras auf.
IV. Cheyasuttas
Die Cheyasuttas (Chedasūtra), genannt nach dem Cheya, einer der geistlichen Strafen, befassen sich alle mit der Mönchdisziplin, sie heißen:
  1. Nisīha (Niśītha),
  2. Mahānisīha (Mahāniśītha),
  3. Vavahāra (Vyavahāra),
  4. Āyāradasāo (Ācāradaśās) oder Dasāo (Daśaśrutaskandha),
  5. Kappa (Kalpa),
  6. Pancakappa (Pañcakalpa) und Jīyakappa (Jitakalpa).
V. Einzel-Sūtras
Zwei Einzel-Sūtras:
  1. Nandī handelt von den Arten der Erkenntnis,
  2. Anuogadāra (Anuyogadvāra) ist eine Enzyklopädie der verschiedenen Wissenschaften.
VI. Mūlasutta

Mūlasutta (Mūlasūtra) Lehrschriften für Anfänger im Mönchsleben.

  1. Uttarajjhāyā (Uttarādhyayana) enthält Legenden, Dialoge, Sprüche und Predigten.
  2. Āvassaganijjutti (Āvaśyakaniryukti) handelt von den täglichen Pflichten.
  3. Dasaveyāliya (Daśavaikālika) gibt Regeln für das Asketenleben.
  4. Piṇḍanijjutti (Piṇḍaniryukti) erteilt Vorschriften über den Almosenempfang der Asketen.

Zu diesen 45 Werken werden mitunter noch andere heilige Werke hinzugerechnet, so daß dadurch die Gesamtzahl auf 84 steigt. Eine Ergänzung des Kanons stellen ferner die 36,,Nigamas” oder Upaniṣads dar.
Die genannten 45 Werke werden nicht von allen Śvetāmbaras als maßgebend anerkannt; die dem Bilderkult feindliche Sekte der Sthānakavāsīs läßt nur 32 von den 45 genannten (mit Ausschluß von III, 1—10; IV, 2 und 6; und VI, 4) als autoritativ gelten.

Die kanonischen Werke sind in Ardhamāgadhī-Prākrit abgefaßt, in der Sprache also, in welcher Mahāvīra selbst gepredigt haben soll. Ardhamāgadhī, d.h. „Halb-Māgadhī” heißt die Sprache, weil sie nicht genau der in Magadha (Bihār) gebrauchten Mundart entspricht, sondern Elemente aus anderen Dialekten in sich aufgenommen hat, offenbar war sie eine Mischsprache, deren sich religiöse Prediger bedienten, um möglichst auch von den Bewohnern anderer Gebiete verstanden zu werden. Die Sprache des Kanons entspricht jedoch unzweifelhaft nicht ganz der von Mahāvīra gesprochenen; der Wandel der Zeit ist an ihr nicht spurlos vorübergegangen, und der Einfluß des Māhārāṣṭrī-Dialekts, in welchem die nachkanonischen Schriften der Śvetāmbaras geschrieben sind, macht sich an ihr in so hohem Maße geltend, daß die europäische Forschung für sie den Namen,,Jaina-Prākrit” vorgeschlagen hat.

Die Form, in der die heiligen Werke abgefaßt sind, ist sehr mannigfaltig. Neben einfacher Prosa finden wir eine solche kunstvollen, ja überkünstelten Charakters, neben schlichten Śloken und Āryāstrophen stehen Verse in schwierigen Metren. Groß ist die Zahl der Wiederholungen und schablonenhafter Wendungen; um sich der Mühe zu entheben, diese oft ziemlich langen ständig gleichbleibenden Stücke stets erneut zu kopieren, pflegen die Abschreiber der Texte diese zumeist nur bei ihrem erstmaligen Vorkommen wiederzugeben, bei den Wiederholungen aber einfach mit ein paar Stichworten auf frühere Stellen zu verweisen.

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Abb. 2. Mahāvīra's Predigt. Miniatur aus einer Handschrift der Śrī-Śālibhadra-Caupaī.

Der Kanon will eine vollständige Darstellung der Jaina-Lehre geben und ihre Anwendung auf alle Gebiete des Lebens zeigen. Dieser Absicht entsprechend ist er seinem Inhalt nach sehr vielseitig. Metaphysische und kosmographische Erörterungen wechseln mit Legenden aus dem Leben heiliger Männer, bis ins einzelne gehende Vorschriften über das richtige Verhalten von Laien und Mönchen werden erläutert durch Erzählungen, welche die Macht der Tat und die Belohnung der Guten und die Bestrafung der Schlechten dartun sollen, Beichtformeln und Hymnen auf die Tīrthaṅkaras dienen kultischen Zwecken. Im großen und ganzen ist der Kanon trotz seiner hohen Bedeutung in religions- und sprachgeschichtlicher Hinsicht keine besonders interessante Lektüre. Die trockene und schematische Art der Darstellung nimmt dem Vorgetragenen nur zu oft den ästhetischen Reiz, und in den blutleeren Aufzählungen der Texte vermißt man den Atemzug des großen Mannes, der, nach der eigenen Aussage der heiligen Schriften, durch seine zündende Beredsamkeit alle seine Hörer in seinen Bann zog.

In seiner uns heute vorliegenden Gestalt trägt der Kanon deutlich Zeichen vielfältiger Überarbeitung an sich. In dem Jahrtausend, das der Tradition zufolge zwischen dem Tode Mahāvīras und der Schlußredaktion der heiligen Schriften lag, sind vielerlei Hände an ihm tätig gewesen, so daß sich verschiedene Schichten in der Überlieferung eines Werkes konstruieren lassen. Daß die kanonischen Texte verschiedenen Zeiten entstammen, wird übrigens von den Jainas selbst zugegeben: nur die Hauptwerke des Kanons, wie die Aṅgas und ein Teil der Uvaṅgas, sollen von Mahāvīras Schüler Sudharman verfaßt sein, während für das 4. Uvaṅga und eine Reihe anderer Werke Jaina-Heilige einer viel späteren Zeit als Verfasser angegeben werden. Daß die Aṅgas, wenn sie auch in ihrer uns vorliegenden Gestalt kaum wörtliche Wiedergaben der Reden Mahāvīras sind, doch alte und zuverlässige Stücke enthalten, erscheint im Hinblick auf die hohe Verehrung, die die Jainas schon frühzeitig den Worten ihres Meisters zollten, und auf die außerordentliche gedächtnismäßige Schulung, mit welcher seit alters in Indien heilige Texte der Nachwelt überliefert wurden (vgl. S. 22), nicht unglaubwürdig, hat doch H. Jacobi einleuchtende Gründe dafür vorgebracht, daß die ältesten Teile des Kanons bis in die Zeit von etwa 300 v. Chr. zurückreichen mögen. [4] Aufgabe der künftigen Jaina-Forschung wird es sein, das Alter der einzelnen Teile des Kanons im einzelnen zu bestimmen und die verschiedenen übereinander liegenden Schichten der Überlieferung zu scheiden.

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Abb. 3. Eine Seite aus Śāntisūri's Kommentar zum Uttarādhyayana-Sūtra. Jaina-Palmblatt-Handschrift aus dem Jahre 1250 n. Chr. im Besitz der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin.

Als Probe des Prosastils der Jainatexte sei der Anfang des ersten Werkes des Kanons, des Āyāraṅga, wiedergegeben; die Stelle will dartun, daß die Gewißheit, der Wiedergeburt unterworfen zu sein, den besinnlichen Menschen zur Abwendung vom Tun, zur Askese und damit schließlich zur Erlösung führt. Die Stelle lautet in W. Schubrings Wiedergabe: [5]

„Gehört habe ich Ehrwürdiger, daß der Herr also gesagt hat:

Manche hier auf Erden haben kein Bewußtsein davon, ob sie aus östlicher Richtung gekommen sind, ob aus südlicher, aus westlicher, aus nördlicher, ob aus der Richtung von oben, ob von unten, ob sie überhaupt aus einer Hauptrichtung oder aus einer Nebenrichtung gekommen sind. So ist auch manchen nicht bekannt, ob sie ein Ich haben, das der Wiederverkörperung unterworfen ist, ob nicht, was sie gewesen sind oder was sie sein werden, wenn sie von hinnen gefahren oder abgeschieden sind. Das kann man nur erfahren kraft eigener Erkenntnis, durch belehrende Aufklärung oder durch zufälliges Hören bei anderen, ob man (nämlich) aus östlicher Richtung gekommen ist, ob aus südlicher, aus westlicher, aus nördlicher, ob aus der Richtung von oben, ob von unten, ob überhaupt aus irgendeiner Hauptrichtung oder aus einer Nebenrichtung.

So ist denn auch manchen bekannt:,Ich habe ein Ich, das der Wiederverkörperung unterworfen ist; der diese Haupt- oder Nebenrichtungen, ja alle Haupt- oder Nebenrichtungen nacheinander durchwandert, das bin ich.' Er glaubt also an ein Ich, an eine Welt, an die Rückwirkung aller Handlungen und an die Willensfreiheit. Weil er an diese glaubt, sagt er:,Ich will handeln, ich will zu handeln veranlassen, und ich will dem zustimmen, der da handelt.' Alle diese Betätigungen durch Handlung in der Welt müssen als schädlich erkannt werden. Nicht als schädlich erkannt aber hat die Handlungen solch ein Mensch, der diese Haupt- oder Nebenrichtungen nacheinander durchwandert, mit allen Haupt-, allen Nebenrichtungen zu tun hat, sich zwischen Ursprungsstätten verschiedener Art bewegt, mancherlei Einwirkungen erfährt. Da ist denn vor dem Herrn die Erkenntnis der Zwecklosigkeit von Lobes-, Achtungs- und Ehrerweisungen gegenüber diesem Leben verkündet worden, damit die Befreiung von Geburt und Tod geschehe und so dem Leiden gesteuert werde. Alle diese Betätigungen durch Handlung in der Welt müssen als schädlich erkannt werden. Der aber, dem diese Betätigungen durch Handlung in der Welt etwas als schädlich Erkanntes sind, der ist ein Weiser, der die Handlungen als schädlich erkannt hat. So sage ich.”


Die völlige Abkehr von der Welt und ihren Versuchungen, die immer aufs neue in den heiligen Schriften der Jainas gepredigt wird, hat auch in gebundener Rede einen Ausdruck gefunden. Als Beispiel derartiger Asketenpoesie seien einige Verse angeführt, die sich in einer jüngeren Schrift des Kanons, im Dasaveyāliya (8. Kapitel) finden. Das Werk, das zu den Mūlasuttas gerechnet wird, soll von Śayyambhava verfaßt worden sein, um einem jungen Asketen, dessen Tod innerhalb eines halben Jahres bevorstand, die wesentlichsten Punkte der Lehre in kürzester Zeit mitzuteilen. Die zitierte Stelle warnt den Mönch vor dem Umgang mit Frauen.

54. Ein junger Hahn wird immer Furcht
Vor einem Kulala
[6] empfinden,
So darf auch dem Asketen nie
Die Furcht vor einem Weibe schwinden.

55. Er soll nicht blicken auf ein Bild
Und nicht auf schöngeschmückte Frauen,
Gleich wende er sein Auge ab,
Als müßt' er in die Sonne schauen.

56. Selbst wenn die Frau verstümmelt ist
An Ohr und Nase, Fuß und Händen,
Und wenn sie hundert Jahre alt,
Darf er zu ihr den Blick nicht wenden.

57. Den Körper schmücken, leckre Kost
Genießen, nach den Frauen trachten,
Das ist von jedem, der das Heil Erstrebt,
dem Gifte gleichzuachten.

64. Wer alles Leid bezwingt und seine Sinne bändigt,
Dem Studium sich ergibt und Armut sich erkor,
Strahlt, wenn der Wolkendunst des Karma ist geschwunden,
So leuchtend wie der Mond, befreit vom Wolkenflor.

Die Nachkanonische Literatur [7]

An die kanonischen Schriften der Śvetāmbaras schließt sich eine umfangreiche exegetische Literatur an, deren Aufgabe es war, die heiligen Texte zu erläutern und zu ergänzen. Dieselbe ist teils in Māhārāṣṭrī-Prākrit, teils in Sanskrit abgefaßt. Die Kommentatorentätigkeit soll bereits mit Bhadrabāhu begonnen haben, ihre Ausläufer erstrecken sich bis in unsere Zeit. Daneben fehlte es nicht an Versuchen, die Jainalehre selbständig systematisch darzustellen. Die Zahl der Kirchenlehrer, welche die gesamte Dogmatik oder wesentliche Teile derselben behandelten und in ihrer Weise fortbildeten, ist außerordentlich groß. Als die bedeutendsten unter ihnen seien Umāsvāti, Siddhasena Divākara (7. Jahrhundert?), Haribhadra (8. Jahrhundert) und Hemacandra (1088-1172) genannt.

Auch die Digambaras haben eine reiche literarische Tätigkeit entfaltet. Als Sprache bedienten sie sich des Sanskrit oder eines Prākrit-Dialekts, der der Śaurasenī nahesteht, jedoch auch Züge der Ardhamāgadhī und anderer Mundarten in sich trägt. Die Notwendigkeit, maßgebende Darstellungen der Lehre in allen ihren Einzelheiten zu besitzen, war bei ihnen um so dringender, als für den in Verlust geratenen Kanon Ersatz geschafft werden mußte. Unter ihren Dogmatikern räumen die Digambaras neben Bhadrabāhu und Umāsvāti - die sie beide gleich den Śvetāmbaras als die Ihrigen in Anspruch nehmen - dem Kundakunda, Samantabhadra (600), Pūjyapāda (700), Nemicandra (um 1000) und anderen die erste Stelle ein. Eine Reihe von Werken hervorragender Kirchenlehrer gelangte im Laufe der Zeit so zu hohem Ansehen, daß aus ihnen ein,,sekundärer Kanon” gebildet wurde, der, in vier Gruppen (Weltgeschichte, Kosmographie, Philosophie und Ethik) zerfallend, gleichsam den vierfachen Veda der Digambaras darstellt. [8] Die Dogmatiker berufen sich für ihre Lehren auf die Überheferung, die in den verschollenen heiligen Schriften wurzelt; die Autorität ihrer Werke wurde in den Augen der Nachwelt jedoch noch dadurch erhöht, daß von einigen von ihnen, wie von Kundakunda, berichtet wurde, sie hätten Gelegenheit gehabt, dank ihrer magischen Kräfte der Predigt eines in einem anderen Weltteil lehrenden Tīrthaṅkara beizuwohnen und ihm Fragen vorzulegen.

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Abb. 4. Jaina Tempel auf dem Berg Śatruñjaya

Obwohl die Śvetāmbaras und die Digambaras in manchen Punkten des Lehre und des Ritus voneinander abweichen, sind die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden Konfessionen nicht tiefgehend, es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, wenn wir feststellen können, daß mitunter Werke der einen Partei auch von den Anhängern der anderen verwendet und durch Erläuterungen oder Einschübe für ihre eigenen Zwecke nutzbar gemacht wurden. Im engen Zusammenhang mit der theologisch-philosophischen Literatur hat sich bei den Jainas auch ein reiches, wissenschaftliches Schrifttum entfaltet, das vielfach eine starke Abhängigkeit von dem brahmanischen verrät, jedoch in einzelnen Gebieten, wie der Prākrit-Grammatik, der Rechtslehre, der Astronomie und Geographie, auch eigene Wege geht.

Die der Darstellung der Lehre gewidmeten Werke enthalten vielfach Legenden in gebundener oder ungebundener Rede. Denn die Beschreibung des Lebens Mahāvīras und der 23 Tīrthaṅkaras, die ihm vorhergingen, gehört ebenso zu den Lehrgegenstanden der Jainatheologie wie die ausführliche Erörterung der Theorien von Seele und Nichtseele. Die Hagiographie der Jainas kennt außer den 24 Propheten noch 39 andere,,große Männer”, welche die Geschichte einer Weltperiode bestimmen: 12 Weltbeherrscher und 3 Gruppen von je 9 Helden (die Vāsudevas, Baladevas und Prativāsudevas). Die Biographien dieser 63,,Śalākāpuruṣas” sind immer aufs neue von Dichtern und Schriftstellern beider Konfessionen behandelt worden, teils in Einzelwerken, die nur dem einen oder dem anderen aus der Reihe gewidmet sind, teils in gewaltigen Epen, die - wie Jinasena und Guṇabhadras,,Triṣaṣṭilakṣaṇamahāpurāṇa” oder Hemacandras,,Triṣaṣṭiśalākāpuruṣacarita” - eine umfassende Welthistorie geben wollen. Da ich an anderer Stelle eine ausführliche Darstellung des Inhalts dieser Werke gegeben habe, [9] darf ich es mir hier versagen, auf sie des näheren einzugehen.

Zu den Legenden von den,,großen” Männern tritt eine Unzahl von solchen, die sich mit weniger hervorragenden, aber doch in irgendeiner Weise bemerkenswerten Persönlichkeiten befassen. Gewöhnlich sind die Helden dieser Erzählungen Männer, die sich während einer langen Reihe von Existenzen allmählich einen Schatz guter Werke erwarben, der ihnen schließlich die Wiedergeburt zur Zeit eines Tīrthaṅkara, die Bekehrung zum geistlichen Leben und die Erlösung gewährt. Als Musterbeispiel einer derartigen Legende sei die Geschichte von Śālibhadra wiedergegeben. Ihre Beliebtheit ergibt sich aus dem Vorhandensein zahlreicher Versionen des Textes sowie aus dem häufigen Vorkommen von illuminierten Handschriften desselben. [10]

Im Dorfe Śāligrāma in Magadha lebte ein Hirtenknabe Saṅgama mit seiner Mutter, einer armen Witwe. Einst sah dieser bei einem Fest alle anderen eine süße Reisspeise essen und bat seine Mutter, ihm auch etwas davon zu essen zu geben. Die Mutter, infolge ihrer Armut nicht imstande, die Bitte des Sohnes von sich aus zu erfüllen, erhält schließlich von gutherzigen Nachbarn den Reis. Saṅgama will gerade die heißbegehrte Speise genießen, als ein Asket des Weges kommt, der einen Monat gefastet hat. Der fromme Knabe gibt ihm sofort den Reis und erwirbt dadurch so großes religiöses Verdienst, daß er in seiner nächsten Existenz in der Stadt Rājagṛha als Śālibhadra, Sohn des reichen Kaufmanns Gobhadra, zur Welt kommt. Er wächst in Pracht und Herrlichkeit auf und wird mit 32 schönen Mädchen verheiratet. Gobhadra, von Mahāvīra zum Mönch geweiht, stirbt den Hungertod des Weisen, wird als Gott wiedergeboren und beschenkt als solcher seinen Sohn mit kostbaren Schätzen.

Einige Zeit danach bieten Kaufleute dem König Śreṇika acht herrliche Tücher mit magischen Kräften zu dem enormen Preise von einem Lākh in Gold an. Dem König ist dies zu teuer, Śālibhadras Mutter aber kauft sie, läßt sie zerschneiden und gibt sie ihren 32 Schwiegertochtern als Fußteppiche. Als der König hiervon hört, will er Śālibhadra kennenlernen und macht ihm mit seinem Hofstaat einen Besuch. Bei der Zusammenkunft des mächtigen Königs mit dem reichen Kaufmann ereignet sich das Merkwürdige, daß beiden die Wesenlosigkeit aller irdischen Herrlichkeit aufgeht. Śālibhadra entschließt sich bald, der Welt zu entsagen, und wird, ebenso wie sein Schwager Dhanya, von Mahāvīra selbst geweiht. Nach Jahren strengster Kasteiung sterben sie den freiwilligen Hungertod und werden als Götter im Sarvārthasiddhi-Himmel wiedergeboren, dessen Bewohner nur noch eine irdische Existenz vor sich haben und dann erlöst werden.


Derartige erbauliche Legenden sind von den Jainas in überreicher Zahl in Sanskrit, Prakrit, Apabhraṃśa in einfacher Prosa wie in der Form des Kunstromans, in volkstümlichen Versen wie im kunstvollen,,Kāvyas” bearbeitet worden. Die Stoffe zu ihnen entnahmen sie zum Teil gemeinindischer Überlieferung, so sind auch die Geschichten von Rāma, Kṛṣṇa und anderen Helden der brahmanischen Mythologie von den Jainas in ihrem Sinne umgestaltet worden. Auch die allegorische Erzählung, die die Wahrheit der Jainalehre in bildlicher Form zu vermitteln sucht, ist von den Jainas gepflegt worden. Das berühmteste Werk dieser Art ist Siddharṣis 906 n. Chr. vollendete „Upamitibhavaprapañcakathā”, eine Erzählung, welche das menschliche Leben im Gleichnis darstellt.

Einen großen Raum in der Poesie der Jainas nehmen schließlich noch Loblieder auf die Tīrthaṅkaras ein, in welchen diese angefleht werden, die Erleuchtung zu spenden. Welch edler Sinn in manchen dieser auch in ästhetischer Hinsicht oft sehr schönen Hymnen zum Ausdruck kommt, zeigt die folgende Strophe, mit welcher der Digambara Amitagati seinen,,Sāmāyika Pāṭha” beginnt:

,,Daß für alle Wesen Liebe ich empfinde,
Mitgefühl mit denen, die voll Leid auf Erden,
Daß mich stete Nachsicht Irrenden verbinde,
Herr, das wolle geben, Herr, so laß mich werden.”

Die Literatur der Jainas hat sich bis zur Gegenwart eine gewisse Bedeutung bewahrt, weil die über ganz Indien verstreuten Bekenner des Jainaglaubens sie pflegen; in der Geschichte hat sie sich einen Platz erworben durch die hervorragende Stellung, welche die Jainas früher in manchen Gebieten des indischen Kontinents einnahmen, und dank der Einflüsse, die von ihr auf eine Reihe von neuindischen Literaturen ausgingen. Verglichen mit dem brahmanischen Schrifttum tritt sie hingegen völlig zurück, weil die Anhänger der Lehre der Tīrthaṅkaras, auch als diese in Blüte stand, in Gesamtindien immer nur eine Minderheit dargestellt haben.

Fußnoten
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2:

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3:

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4:

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5:

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6:

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7:

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8:

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9:

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10:

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Quellen
Die Literaturen Indiens (1929)
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