Fünf Gelübde und sechs Avashyakas - Grundzüge der Jaina-Ethik [5]

Veröffentlicht: 25.09.2012
Aktualisiert: 16.01.2013

7. Erlösung

Die ausschließliche Orientierung am Avashyaka-Sutra hat uns bis jetzt den Blick für den metaphysischen Rahmen des Ganzen versperrt. Es erhebt sich die Frage, worauf alles am Ende hinausläuft.

Der Jainismus ist eine Erlösungsreligion. Jeder Blick in die einschlägigen Darstellungen zeigt, daß im Jainismus wie im eng verwandten alten Buddhismus das ganze dogmatische System an die Vorstellung von der Seelenwanderung gekoppelt ist. Es wird davon ausgegangen, daß der Mensch wie jedes andere Wesen nach dem Tod wiedergeboren wird und daß diese ständigen Wiedergeburten nicht etwa wünschenswert, sondern leidvoll sind und unter allen Umständenbeendet werden müssen. Das kosmische Gesetz, das den ganzen Prozeß in Gang hält, ist das Gesetz des Karman, wonach auf jede Tat Bestrafung oder Belohnung folgt: Wiedergeburt in dieser Welt oder auch im Jenseits (Himmel oder Hölle). Es gilt nun, dem Kreislauf der Geburten (gut oder schlecht) zu entrinnen, indem man das Karman, mit dem man sich beladen hat (und immer wieder neu belädt), ein für alle Mal abstößt - was auch immer der dafür vorgeschriebene Weg. Der Lohn ist dann die Erlösung.

Die Wiedergeburtslehre hatte in Indien zur Zeit Mahaviras und Buddhas schon weite Kreise erfaßt. Wie der Jainismus das Problem der Erlösung von der Wiedergeburt auf seine spezifische Weise löst, ist eine andere Frage. Das worauf es im Jainismus in der Praxis ankommt, sind die größtenteils bereits erwähnten religiösen Tugenden, die gemeinindischen und die spezifisch jainistischen. All diese Anstrengungen führen dazu, daß die Seele das ihr anhaftende Karman schließlich abschüttelt. Die mit solchen Mitteln zu bewirkende Erlösung vom Kreislauf wird im Gegensatz zum Buddhismus nicht negativ beschrieben (Nirvana-Begriff), sondern mit erstaunlicher Konkretheit als Verweilen in einem genau definierten Reich der erlösten und seligen Seelen an der Spitze des Kosmos definiert. Die Jaina-Texte betonen im übrigen immer wieder, daß der Mensch auf der Suche nach Erlösung ganz auf sich selbstgestellt ist. Götter gibt es im Jainismus durchaus (die Jainas wehren sich gegen die Etikettierung des Jainismus als atheistisch), aber diese Götter greifen nicht in das menschliche Leben ein, weder als Helfer in irdischen Dingen noch als Erlösungshelfer. Die Tirthankaras ihrerseits sind logischerweise keine Götter, genießen aber hohe Verehrung (Avashyaka II) und füllen dadurch bis zu einem gewissen Grade das durch das Fehlen wirklicher Götter entstandene Vakuum.

Die von den Jaina-Göttern bewohnten Himmelswelten sind im Aufbau der Welt niedriger angeordnet als die Stätte der Erlösten (in der sich auch die Seelen der erlösten Tirthankaras befinden). Sie gehören damit zum allgemeinen Kosmos, in dem das Gesetz der Wiedergeburt allem Geschehen zugrunde liegt. Insbesondere müssen die Jaina-Götter ebenso wie alle anderen Wesen auch als Menschen wiedergeboren werden, bevor sie erlöst werden können. Der Jaina-Kosmos ist gemeinindischer Vorstellung entsprechend dreifach gegliedert: Es gibt die Himmelswelten (Götter und Genien), die irdischen Welten (die 'sechs' Kategorien) und die unteren Welten (die Höllen mit den Sündern). All diese Regionen bilden in der Jaina-Dogmatik jedoch einen hochkomplizierten Superkosmos, bei dem nicht nur die topographischen Gegebenheiten, sondern auch die Bewohner, deren Ambiente und die von geistlichen und weltlichen Heroen beherrschte Legende (Tirthankaras und mythische Könige) Gegenstand minutiöser Beschreibung sind.

Innerhalb des Jainismus existiert im übrigen eine Richtung, die ganz allgemein die Möglichkeit einer Erlösung für Frauen, das heißt die grundsätzliche Möglichkeit, daß Frauen - ebenso wie Männer - bereits in ihrer nächsten Existenz erlöst werden, leugnet. Dies sollte erwähnt werden, auch wenn wir hier auf Einzelheiten dieser Kontroverse nicht eingehen können.

Eine Erlösungsreligion wie der Jainismus ist ein System, an das der Außenstehende mit bestimmten Erwartungen herantritt. Er erwartet ein gewisses Maß an Transparenz, Geschlossenheit und Abrundung sowie eine durch moderne Darstellungen geförderte Verständlichkeit. So wie die Dinge stehen, drängen sich dem Laien jedoch, je mehr er sich mit einem solchen Gegenstand beschäftigt und je mehr 'Informationen' er erhält, desto mehr Fragen auf. Wir versuchen jetzt noch im Rahmen des Möglichen, naheliegende Fragen durch gezielte Informationen aufzufangen.

Die Annahme, daß ein Mensch und ein (rein spekulatives) Wasserwesen metaphysisch gesehen denselben Status haben (und daß die Tötung eines Wasserwesens daher ebenso gravierend ist wie die Tötung eines Menschen), ist sehr hart. Gewiß, die Dogmatik unterscheidet zwischen verschiedenen Organisationsstufen, aber das betrifft nur die Lebewesen, nicht die Seelen, die in allen Fällen gleich sind. Man mag einwenden, dergleichen sei reine Theorie; aber tatsächlich wurde die Rücksichtnahme auf die kleinsten und kleinen Lebewesen für die Mönche zur zweiten Natur. Richtig ist, daß ohnehin kein Jaina auf den Gedanken kam, Menschen zu töten oder Tierezu jagen, womit sich diese Frage grundsätzlich erledigte: Nur die untere Ebene war noch relevant, und dies wiederum speziell für den Mönch. Indessen blieb eine so extreme Position, wie sie von den Jainas vertreten wurde (totale Ahimsa mit spezieller Berücksichtigung kleiner und kleinster Lebewesen), doch aus dem einen oder dem anderen Grunde problematisch.

Ein anderes Problem ist der Erlösungsweg. Obwohl der Jainismus eine Erlösungsreligion ist, erhalten wir keine klare Auskunft darüber, wie genau die Erlösung zu erlangen sei. Wir kennen nicht den Mechanismus der Karman-Beseitigung, und wir haben keine koordinierte Darstellung der allgemeinen Ethik und der Regeln für den Mönch - wir finden nur ständig wiederkehrende Hinweise auf die Bedeutung der einzelnen Gebote. Unabhängig davon ist die Jaina-Ethik in ihrer Zusammensetzung im großen und ganzen durchaus plausibel. Wir finden Anweisungen, die sich aus dem indischen Ambiente erklären lassen (gemäßigte Ahimsa, Zölibat, Fasten usw.) und Anweisungen, die mit den speziellen Voraussetzungen des Jainismus zusammenhängen (rigorose Ahimsa und extreme Askese). Daneben finden wir aber auch die Pflicht, Almosen zu geben, die Betonung von Reue und Um-Verzeihung-Bitten und die Betonung des Rituals. Die letztgenannten Dinge sind nicht eigentlich unerwartet, aber die starke Betonung paßt doch nicht völlig in die Philosophie des Jainismus. Die Almosenspende (natürlich durch die Umstände erzwungen) ist ein altruistisches Element in einer Religion, in der sonst jeder vornehmlich durch asketische Arbeit an sich selbst sein Karman zu vernichten sucht. Die Reue ist außerhalb des Jainismus selten in den indischen Traditionen, und es wäre auch ein Irrtum, anzunehmen, daß das Bereuen einer schlechten Tat im Jainismus als unmittelbarer Weg zur Karman-Vernichtung angesehen wird. Das Ritual schließlich muß als bewußter Akt angesehen werden, wenn seine Rolle innerhalb des Systems verständlich werden soll. In seiner mechanischen Form ist es naturgemäß ein Fremdkörper.

8. Resumee

Der weiter oben gegebene Hinweis auf den Acharya Tulsi kann erweitert werden durch die Erörterung der Frage, ob die Ahimsa eine mögliche Botschaft (message) des Jainismus für die übrige Welt sein kann. Dies einschränkungslos zu bejahen, ist schwierig. Zum einen enthält die Ahimsa, wie wir jetzt wissen, vieles, was zu unseren Vorstellungen von Gewalt und Gewaltlosigkeit kaum paßt. Die Ahimsa der Jainas entstand im alten Indien und spiegelt die Mentalität einer ganz bestimmten Zeit. Zum anderen fragt man sich, ob die Jainas als eine gewalt-freie, wenn nicht gewalt-ferne Gesellschaft (Tätigkeit in Handel, Industrie, Rechtswesen, Erziehungswesen, Medizin) und als eine Gesellschaft ohne Armut und Frustration überhaupt die nötige Ausstrahlungs- und Überzeugungskraft entwickeln können, um auch nur im engsten Umfeld etwas in Bewegung zu bringen. Es sei auch daran erinnert, daß der Anteil der Jainas an der Gesamtbevölkerung der Indischen Union unter einem halben Prozent liegt. Der Acharya sagt selbst: "I have a vision of the future, but I do not believe in over-optimism" (1985).

Aber selbst wenn der Jainismus heute kaum in die moderne Welt hineinwirken kann, so hat er doch aufgrund seiner moralischen Disziplin und durch die "Atmosphäre" einer Kaufmannskultur [9] durch die wechselnden Zeiten hindurch für seine Anhänger eine Zone sozialer und politischer Sicherheit und normale (obschon nicht notwendig harmonische) Lebensverhältnisse geschaffen. Diese historische Dimension sollte nicht übersehen werden.

Des weiteren ist der Jainismus in unserem Zusammenhang interessant, weil er (deutlicher als der frühe Buddhismus) der Laien-Ethik einen so großen Stellenwert beimißt. Die Laienschaft ist fest in das religiöse System integriert, teils durch spezielle Regeln wie die Anuvratas, teils durch die allgemeinen Bemühungen, den Stand des Laien an den Stand des Mönches heranzuführen. Unter anderem proklamiert der Jainismus mit großem Nachdruck materielle Einschränkungen(das 5. Gelübde des Laien). Dabei hat er zwar den vielfachen Reichtum seiner Laienanhänger nicht verhindern können und wollen, wohl aber in der Laienschaft einen relativ puritanischen Lebensstil durchgesetzt. Angesichts explodierender materieller Ansprüche in breiten Kreisen der Gesellschaft wird die Jaina-Position damit zu einem möglichen Studienobjekt. Acharya Tulsi sagt: "Now the Anuvrat Movement advocates the path of vows which leads to self-restraint" (1985). 'Restraint' und Puritanismus können jederzeit in die wachsende Zahl globaler Themen aufgenommen werden. Daß die Dynamik wachsender materiellen Erwartungen auch neue Formen der Kriminalität (Himsa eingeschlossen) nach sich ziehen kann, braucht kaum hinzugefügt zu werden.

Das zuletzt Gesagte ist aber nur ein Beispiel. Jede Überbetonung einzelner Tugenden oder Werte, so naheliegend sie scheinen mag, verengt die ethische Perspektive. Interessant ist immer die Jaina-Ethik im Ganzen.

Am Ende ergeben sich veränderte Optionen. Neben die von der Sehnsucht nach einer besseren Welt und nach einer höheren Stufe des Lebens getragene Bereitschaft, aus indischen Religionen wie dem Jainismus unmittelbar 'zu lernen', tritt die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Ethiken eben dieser Religionen. Neben den direkten Zugriff tritt deutlicher als bisher eine systematisch operierende, aber gleichwohl engagierte wissenschaftliche Betrachtungsweise.

Fußnoten
9:

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