Geheimnisse des Geistes: Strategien für die spirituelle Praxis (2)

Veröffentlicht: 12.09.2012

Kayotsarga kann in zwei Schritten erreicht werden. Der erste ist die völlige Entspannung, der zweite die Stabilisierung des Körpers mit der Absicht ihn zu verlassen. Symbolisch gesprochen, lässt der Vogel  den Käfig zurück, wenn er ausfliegt.

Das ist keine Preisgabe des Körpers, sondern die konkrete Erfahrung, dass der Körper und das Bewusstsein voneinander unabhängig sind. Sie können unabhängig voneinander wahrgenommen werden und wahrnehmen. Wenn der Geist völlig in das Selbst eingetaucht ist und sich ganz aus dem Körper zurückgezogen hat, werden Hände und Füße, Sinnesorgane und Sprache stillgelegt zurückgelassen.

Das Verlassen des Körpers ist ein Prozess, in dem das Bewusstsein die Innen- und die Außenwelt abwechselnd wahrnimmt und wahrgibt.

Wenn wir uns auf die Innenwelt konzentrieren, müssen wir eine Körperhaltung einnehmen, welche den Strom der mentalen, wie auch der vitalen Energien vom Körper zum Selbst umlenken hilft (Lotussitz oder aufrechtes Stehen). 

Dann kann sich das Selbst in seiner wahren Form wahrnehmen, jeder Partikel des Körpers kommt automatisch zur Ruhe. Die Seele manifestiert sich auf eine nie zuvor erlebte Weise, welche die gesamte Persönlichkeit umfasst. Über diese Ganzwerdung ist schon viel geredet worden, doch nur wenige haben sie erlebt.

Manche glauben an die Existenz der Seele, andere nicht. Der Glaube an die Existenz der Seele kann nicht logisch bewiesen und, wie jede Glaubensfrage, leicht widerlegt werden. Wir glauben an die Existenz der Seele, weil uns gesagt wurde, dass sie existiert. Glauben ist nicht Wissen. Die unmittelbare Erfahrung, dass die Seele existiert, erlebt man im Kayotsarga, der wie ein Tor zur Seele ist. Mit jedem Eindruck von der Seele, sei er auch noch so flüchtig, sind wir automatisch im Kayotsarga. So arbeitet die spirituelle Erfahrung, die immer die Erfahrung unserer wahren Existenz des reinen Bewusstseins ist, in dem die Seele zugleich erkennt und weiß.

Wir erkennen Dinge und nehmen sie wahr, doch unsere Erkenntnis und Wahrnehmung sind nicht perfekt. Gezuckerter Joghurt ist weder reiner Zucker, noch reiner Joghurt. Er schmeckt weder wie Zucker, noch wie Joghurt allein. Das Bewusstsein ist in derselben Notlage. Wir können weder ausschließlich Materie, noch ausschließlich das Immaterielle (Bewusstsein) wahrnehmen. Unsere empirische Erfahrung ist immer eine Mischung aus beiden Komplementären. 

Die spirituelle Erfahrung ist eine reine Erfahrung des Immateriellen. Hätten wir auch nur einen zufälligen Eindruck vom reinen Bewusstsein, würden wir diese unvergleichliche Erfahrung nicht missen wollen. Wir würden die größten Opfer bringen, um sie zu wiederholen. Doch der Weg zum Selbst ist dornig und äußerst beschwerlich.

Die zurückzulegende Entfernung ist nicht groß, dennoch müssen wir uns sehr anstrengen, wenn wir sie bewältigen wollen. Überdies ist der Weg sehr beschwerlich. Wenn wir ihn gehen wollen, müssen wir unsere Einsichtsfähigkeit aktivieren, den Wert des Verzichtenkönnens erkennen und zwischen Erstrebenswertem und Nichterstrebenswertem unterscheiden lernen, denn so können wir immer wieder flüchtige Einblicke in unser wahres Dasein erhaschen.

Wenn wir in den Prozess des Verzichtenkönnens eintreten wollen, müssen wir uns klarmachen, dass Verzicht aus Einsicht nicht bloß bedeutet, dass wir etwas aufgeben. Einsicht wird erst wirksam, wenn uns beides, das Erstrebenswerte und das Nichterstrebenswerte, gegenwärtig ist und wir es voneinander unterscheiden können. Doch was wir bereit sind aufzugeben, ist noch lange nicht bereit uns aufzugeben. Verzicht ist bedeutungslos, wenn die Einsicht nicht das Erstrebenswerte wählt.

Sobald wir gewählt haben, übt das Erstrebenswerte Druck auf uns aus. Das Nichterstrebenswerte verschwindet ohne weiteres Zutun.

Die Geisteshaltung des Verzichtenkönnens wird durch den Einklang mit dem Erstrebenswerten aktiviert. 

Hätte der Mensch nicht diese Wahl, wäre er ein entseeltes Ding. Nur die aus der Wahlsituation heraus getroffene ethische Entscheidung ist ein Schritt in Richtung Selbst-Verwirklichung.

Verzichtenkönnen ist keine negative Geisteshaltung, es ist der rationale Prozess der Nichtannahme. Ratio ist Bestandteil der Natur des Menschen. Mithilfe seiner Ratio zieht der Mensch die Eisenbahn dem Ochsenkarren und das Flugzeug der Eisenbahn vor. Es liegt in der Natur des Menschen, den Fortschritt anstelle des Rückschritts zu wählen.

Die Geisteshaltung des Verzichtens zeigt uns Wert und Anziehungskraft der ethischen oder moralischen Disziplin. Man zieht es vor, in die Welt des Geistes einzutauchen und in ihr zu leben. Das Leuchten des Bewusstseins übt eine so große Anziehungskraft aus, dass man nicht mehr in die empirische Welt zurückkehren möchte.

Doch dieser flüchtige Blick zum neuen Horizont ruft im Geist einen grimmigen Kampf hervor. Äußere Einflüsse auf die Seele, natürliche Tendenzen und Emotionen leisten der Ausdehnung des Bewusstseins Widerstand, Anhaftungen und Abneigungen werfen ihre bedrohlichen Schatten auf den Geist. Vernachlässigung des Selbst und Leidenschaft für materielle Objekte, tief verwurzelt in Trägheit, leisten der neuen Entwicklung hartnäckig Widerstand. Dieser Kampf im Inneren ist eine große Chance, die man nutzen sollte, denn sie kehrt nicht wieder, heißt es im Acarang Sutra.

Nur durch diesen Kampf kann man sich zu seiner wahren Existenz durchringen, wenn man zu verstehen beginnt, dass die Rehabilitation der Seele, die erkennt und zugleich weiß, viel mehr bewirkt als Wahrnehmung des Atems, Aktivierung von Bewusstseinszentren, Fasten und moralische Disziplin. All diese Übungen lässt man mit dieser Erkenntnis hinter sich und steigt zu einer höheren Ebene des Bewusstseins auf.

Ist man erst einmal aus eigener Kraft auf dieser höheren Ebene angelangt, erlebt man den Weg nicht mehr als dornig und beschwerlich. Doch wer auf dieser Ebene nicht ankommt, muss einen Kampf auf Leben und Tod führen. Es geht keinen noch so winzigen Schritt voran, solange die inneren Feinde mit ihren Täuschungsmanövern nicht besiegt sind.

Dieser Kampf findet erst im fortgeschrittenen spirituellen Stadium statt. Am Anfang stehen die äußeren Einflüsse auf die Seele des Menschen und die natürlichen Neigungen in ihm noch nicht so unter Druck, dass sie Widerstand leisten. Mit fortschreitender Intensität der spirituellen Praxis und zunehmenden Angriffen auf die feindlichen Verteidigungslinien nimmt er zu. Wenn sie in die Enge getrieben werden, schlagen sie treffsicher wie wütende Kobras zurück. Werden sie nicht angegriffen, bleiben sie friedlich.

Doch wenn man sie mit dem Ziel angreift sie dort auszurotten, wo sie Jahrhunderte lang verwurzelt waren, werden sie wild. In diesem kritischen Augenblick braucht man Unterstützung. Ohne einen guten Lehrer verliert man vielleicht den Mut und gibt auf.

Quellen
Englischer Titel:
The Mysteries Of Mind Redaktion:
Muni Mahendra Kumar Herausgeber:
Jain Vishva Bharati Ladnun, India 2. Edition: 2002 Übertragung ins Deutsche:
2006 Carla Geerdes
2012 Überarbeitete Fassung
Carla Geerdes

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