Keine Gewalt gegen Mensch, Tier und Pflanze: Das Verstehbare verständlich machen

Autor*in:  Image of Kurt TitzeKurt Titze
Veröffentlicht: 16.04.2015

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Eine Schar Kinder hat sich im Vorhof eines kleinen Tempels in Shravana-Belagola eingefunden und lauscht nun den Worten eines Munis, der immer nur vorübergehend[1] an ihrem Orte weilt. Er hat ein Gedicht auf die Riesenstatue des Bahu-bali geschrieben, in dem er die Tugenden des legendären Helden hervorhebt, hat eine Melodie dazu gemacht und übt nun das Lied mit den Kindern ein. Seine Nacktheit scheinen sie, die ansonsten ziemlich prüde erzogen werden, nicht wahrzunehmen.

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Es ist befriedigend zu wissen, daß die wohl eindrucksvollste und höchste freistehende Monolithstatue der Erde - der aus einer Felsnadel gemeißelte Bahubali von Shravana-Belagola - die Absage an die Gewalt symbolisiert. Seit über tausend Jahren zieht sie gläubige Pilger an, für die Ahimsa (Keine Gewalt) kein leeres Wort ist.

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MAHAVIRA

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Man soll erwachen, man soll frei werden, man soll die Fessel als Fessel erkennen!

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Hat man Lebendiges oder Unlebendiges in Besitz, und sei es auch noch so geringfügig, oder man verstattet es einem anderen, so wird man vom Leiden nicht befreit.

Man kränkt Wesen durch eigenes Tun, oder man läßt sie durch andere töten, oder man stimmt dem zu, der sie tötet: stets fördert man das, was einem feind ist.

Die, in deren Geschlecht der Mensch zur Welt gekommen ist oder die seine Hausgenossen sind, Habe und Geschwister, all dieses dient ihm nicht zum Schutze vor Tod und Wiederverkörperung. Der auf Besitz sieht, der Tor, bald durch dies, bald durch jenes geblendet, ist verloren. Wer aber dieses Leben recht bedenkt, der wird frei von wirkender Tat.

Über diese Fesseln haben sich zwar manche Wanderbrüder und Brahmanen hinweggesetzt, aber sie sind nicht wissend, obwohl sie sich als wissend ausgeben. Von manchen kann man überdies noch sagen: »In Begehren befangen sind die Menschen.«

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Manche Brahmanen und Wanderbrüder behaupten, ein ihnen allein eigenes Wissen zu besitzen, nämlich: »Die Wesen in der ganzen Welt wissen alle nichts.«

Wie ein Ausländer der Nachsprecher ist von dem, was der Einheimische ihm vorgesprochen hat - den Sinn davon versteht er nicht, vielmehr spricht er nur das Gesprochene nach: so kennen, die das Nichtwissen lehren, wenn sie auch ein ihnen allein eigenes Wissen zu haben behaupten, den genauen Inhalt davon nicht.

Die das Nichtwissen lehren sind nicht imstande, mit ihrem eigenen Gedankengang einen anderen ihnen geneigten zu belehren, geschweige denn einen Andersdenkenden. Wie im Walde ein Mensch, der sich nicht auskennt, und der einem Führer folgt, der sich gleichfalls nicht auskennt - alle beide sind sie unkundig und erleiden bittere Trübsal.

Ebenso sind einige durch ihre Spekulationen einem anderen nicht nützlich, oder dieser gerät auf einen sittlichen Abweg; jedenfalls gehen diese beiden nicht ganz geradeaus. So sagen einige: »Wir streben nach dem eigenen Standpunkt, wir fördern das Gute; jener aber ist durch seine Spekulationen angeblich 'wahrlich ein Gerechter', in Wirklichkeit ein Irrender.« Durch ihre Philosophie zu solchem Ziele gelangend, ohne Kenntnis, was gut und was schlecht ist, zerbrechen sie das Leiden so wenig wie der Vogel den Käfig.

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Folgendes sind die drei Bindungen, durch welche Unrecht geschieht: man ist selbst darangegangen, man hat einen anderen gesandt, man hat mit dem Verstände zugestimmt. Das sind die drei Bindungen, durch welche Unrecht geschieht. Hiervon durchdrungen, erreicht man kraft der Reinheit des Herzens das Nirvana.

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Folgendes ist ein weiteres Zeichen des Nichtwissens, das von manchen hienieden angesetzt wird: so sagen einige, die Welt sei von Göttern, andere, von Brahman aus Samen entwickelt; andere sagen, die Welt sei von Gott gemacht, andere von der Ur-Materie, so wie sie ist, mit Lebendigem und Unlebendigem, mit Glück und Leid. Ein angeblich Weiser hat gesagt, die Welt sei von Brahman gemacht, mit Mara (= dem Widersacher des Guten, Anm. d. Hrsg.) im Bunde, darum sei die Welt vergänglich. Manche Brahmanen und Wanderbrüder sagen: »Aus dem Ei ist die Welt entstanden, und Er, Brahman, schuf das Das-Sein der Dinge.«

Ohne Wissen sprechen alle diese die Unwahrheit. Wenn sie mit ihren Beweisgründen von der Welt etwa aussagen, sie sei geschaffen, so erkennen sie die Wahrheit nicht. Denn so wenig wie die Welt geschaffen ist, wird sie jemals vergehen.

Man wisse, daß Leid aus unschönem Tun entsteht. Wenn sie aber diese Entstehung nicht kennen, wie sollen sie dann die Abwehr wissen?

Fürwahr, wem sich alle Wünsche erfüllen, der ist auf Erden ein Knecht aller seiner Gelüste. Widersacher sind sie alle gegen jeden, Verkünder ihrer ganz besonderen Anschauung. Im Ergreifen ihrer Lehre sehen sie jeweils die Vollendung schon verwirklicht. Vollendet sind sie und frei von Krankheit, so behaupten manche hienieden; die Vollendung stellen die Leute in den Vordergrund, aber an das ewig Unvollkommene sind sie gefesselt. Die Unbeherrschten werden immer wieder den anfanglosen Samsara (= Kreislauf der Geburten) durchirren. So sage ich.

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Diese - die ihren Gelüsten erlegen sind - bieten auch keine Zuflucht, das merket; wenn sie nämlich, die Toren, die sich weise denken, euch etwa belehren wollen, was man tun müsse.

Im Genüsse von Besitztümern und unter Verüben gewaltsamer Handlungen stellen manche hienieden ihre Behauptungen auf - ohne Besitz und ohne gewaltsame Handlungen zu verüben begebe sich der Mönch in den Schutz von Neuverkörperung. Unter dem, was für andere bereitet war, suche er sein Essen, kundig gehe er auf die Suche nach freiwillig Gegebenem, ohne Verlangen und in freiem Entschluß; den Anschein der Geringschätzung meide er.

Dabei hört er etwa die Auffassung von der Welt, die manche hienieden vorbringen, eine Auffassung, erwachsen aus falscher Einsicht, von anderen ausgesprochen und ihnen nachgebetet: »Unbegrenzt und beständig ist die Welt, in Ewigkeit vergeht sie nicht« - begrenzt und beständig ist die Welt, das ist die Anschauung der Weisen. »Ohne Grenze ist die Erkenntnis«, behaupten manche hienieden - in allen Fällen hat sie ihre Grenze, das ist die Anschauung der Weisen.

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Das ist fürwahr das Hauptstück des Wissenden: daß er nichts, aber auch nichts verletzt.

Man kennt fünf Arten von Handlungen: die auf körperlicher Betätigung beruhende, die auf Anwendung eines Werkzeugs beruhende, die auf feindseliger, auf quälerischer und auf tödlicher Betätigung beruhende.

Ein Mann, der von Wild lebt, an Wild denkt, nach Wild verlangt, geht in einem Gemüsegarten, auf einer fürstlichen Weide, in einer Senkung, in einer Erhebung aus dem Wasser, an einer Stelle im Busch, im Walde oder im Gebirge auf die Jagd nach Wild und legt einen Fallstrick, um ein Stück Wild zu fällen, weil er weiß und glaubt, daß es dort Wild gibt.

Dieser Mann ist dreier, vier oder fünf Arten von Handlungen schuldig: soweit Auslegen des Fallstrickes, aber nicht Binden und nicht Töten eintritt, hat er Teil an körperlicher, an werkzeughafter und an feindseliger Handlung, also an drei Handlungen; soweit Auslegen des Fallstrickes, und Binden, aber nicht Töten eintritt, hat er Teil an körperlicher, an werkzeughafter, an feindseliger und an quälerischer Handlung, also an vier Handlungen; wenn Auslegen des Fallstrickes, Binden und auch Töten eintritt, hat er Teil an körperlicher, an werkzeughafter, an feindseliger, an quälerischer und an tödlicher Handlung, also an allen fünf Handlungen.

Ein Mann, der von Wild lebt, geht... (wie oben) auf Jagd nach Wild. Während er die Bogensehne mit dem Pfeil bis zum Ohr angezogen hat, schlägt ihm ein anderer Mann, der des Weges kommt, mit eigener Hand und mit dem Schwert das Haupt ab. Der Pfeil aber fliegt kraft der Spannung der Sehne ab und trifft das Tier.

Hat nun jener zweite Mann Teil am schlimmen Tun gegen das Tier und gegen den Menschen? Nein. - Wer das Tier tötet, hat Teil an schlimmem Tun gegen das Tier; wer den Menschen tötet, hat Teil an schlimmem Tun gegen den Menschen. Denn was im Begriff ist, getan zu werden, gilt als getan; was im Begriff ist, aufgelegt zu werden, gilt als aufgelegt; was im Begriff ist, abgehen gemacht zu werden, gilt als abgehen gemacht; was im Begriff ist, entsandt zu werden, gilt als entsandt.

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Als so weitreichend erkenne man die Verpflichtung des Nichtverletzens. Tüchtig und ohne Begehren hüte man das Befolgen der Vorschriften; auf der Wanderung, im Sitzen und im Liegen und endlich bei Speise und Trank: bei diesen drei Gelegenheiten beständig achtsam, scheide der Mönch Überhebung, Zornes-Glut, Trug und Ichsucht aus - so sage ich.

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Gründlich soll man das »Kleben« der Leute kennen und ihre Lobes- und Ehr-Erweisung (...). Auch ein weit Fortgeschrittener ermangelt der frommen Haltung, wenn er mit Schlechten und ihrem Anhang umgeht. Einem Mönch, der beleidigt, der mit Fleiß rauhe Worte sagt, dem geht viel Verdienst an frommem Wandel verloren. Darum soll man klug sein und nicht beleidigen.

»Stärker als die Menschen nennt man die Triebe der Sinne«, so habe ich gehört; diesem Standpunkt haben entsagt und es haben sich zum Mönchtum entschlossen die, welche der Lehre nachleben. Die sich den Irrgläubigen nicht beugen, die kennen die fromme Haltung, wie sie verkündet worden ist.

Ein Beherrschter soll kein Schwätzer, kein Vielfrager, kein Breittreter sein. Wenn er die höchste Lehre kennen gelernt hat, so sei er nicht einer, der sich seiner Taten rühmt, und nicht einer, der nur von sich selbst spricht; ein Frommer soll weder heimliches Loben treiben noch öffentliches Rühmen. Dieser Dinge gründliches Unterlassen ist verkündet worden; hingegeben nennt man die, welche an der Entäußerung Gefallen gefunden haben. Ruhevoll, fertig, recht auf der Hut, der Lehre eingedenk, im Fasten stark, die Sinne gesammelt, so soll er Mönch sein. Schwer ist zu erringen, was einem förderlich ist.

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Das Leid, das er durch Fehlen der Erkenntnis auf sich gezogen, mindert sich einem Mönch von bedachtsamem Tun durch Selbstzucht. Die Klugen wandern als Mönche, indem sie das Sterben dahinten lassen. Die an Wünschen kein Gefallen finden, werden gleichbenannt mit denen, die über die Flut gänzlich hinüber sind. Deshalb blickt aufwärts, indem ihr das Begehren wie eine Krankheit anseht.

Die Leute hier auf Erden, die dem Erwünschten nacheilen, Knechte ihrer Sinne, in Gelüsten verblendet, sind tatenstolz und meinen daher: »Was habe ich mit dem da zu tun, der mir Bescheidung predigt?« Sie kennen die fromme Haltung nicht, die verkündet worden ist.

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Wehe über den, dessen Blick gehemmt ist durch »verblendende« Tat, die er getan hat! Da man in Verblendung immer wieder Leid erfährt, empfinde man Mißvergnügen an Ruhm und Ehre. So soll ein Fertiger, Beherrschter die Gleichheit seiner selbst mit den übrigen Wesen erkennen. Auch im Hause wohnen bleibe der Mensch (der Laie), indem er gegenüber den Wesen in ihrer Stufenleiter beherrscht ist. Denn allseitig wird Gleichheit des Menschen mit den übrigen Wesen gepredigt.

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Zehnfach ist die sittliche Pflicht der Mönche. Sie besteht in Langmut, Armut, Redlichkeit, Demut, Schuldlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Selbstzucht, Askese, Enthaltung und Reinheit (...).

Das erste große Gelübde (der Mönche) lautet: Ich enthalte mich jeder Schädigung von Wesen, sie sei klein oder groß und betreffe ein bewegliches oder selbständig unbewegliches Wesen. Ich will weder selbst eine Schädigung von Wesen vollziehen noch veranlassen, daß eine solche von anderen vollzogen wird, noch es gutheißen, wenn ein anderer sie vollzieht, und das mein Leben lang, und weder mit innerem Sinn noch durch Rede noch durch körperliches Tun. Im Übertretungsfalle will ich, Herr, dafür zur Beichte kommen, mich tadeln und schelten und mich in Reue ganz hingeben.

Nun folgt das zweite große Gelübde. Ich enthalte mich jeder Wortsünde unwahrer Rede, mag sie aus Zorn, Begier, Furcht oder Freude entspringen. Ich will weder selbst unwahr sprechen noch veranlassen, daß andere unwahr sprechen, noch es gutheißen, wenn ein anderer unwahr spricht.

Nun das dritte große Gelübde. Ich enthalte mich jeder nicht erlaubten Aneignung, sie biete sich in Dorf oder Stadt oder abseits von Siedlungen, und sie bestehe in Wenigem oder Vielem, in Kleinem oder Großem, in Lebendigem oder Unlebendigem. Ich will weder selbst mir aneignen, was nicht gegeben ist, noch veranlassen, daß andere sich solches aneignen, noch es gutheißen, wenn ein anderer sich solches aneignet.

Nun das vierte große Gelübde. Ich enthalte mich jedes geschlechtlichen Tuns, es betreffe himmlische, menschliche oder tierische Wesen. Ich will weder selbst zu geschlechtlichem Tun schreiten noch veranlassen, daß andere dazu schreiten, noch es gutheißen, wenn ein anderer dazu schreitet.

Nun das fünfte große Gelübde. Ich enhalte mich jedes Besitzes, er sei wenig oder viel, klein oder groß, lebendig oder unlebendig. Ich will weder selbst Besitz ergreifen noch veranlassen, daß andere Besitz ergreifen, noch es gutheißen, wenn ein anderer Besitz ergreift.

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Nun folgt, wie verkündet, der zwölfteilige Pflichtenkreis des Laien, nämlich die fünf Klein(er)en Gelübde, die drei Verdienstlichen Gelübde und die vier Stärkungsgelübde.

Die fünf Klein(er)en Gelübde sind: die Enthaltung von grober Schädigung von Wesen, von grober Unwahrheit, von grober Aneignung nicht gegebener Dinge, des Sichgenügenlassen an der eigenen Frau und die Selbstbeschränkung im materiellen Streben.

Die drei Verdienstlichen Gelübde sind: die Enthaltung von allem, was indirekt Schaden tun kann, die Begrenzung des weiteren Bewegungsbereiches und die Selbstbeschränkung im Genuß und Gebrauch von Speisen und Dingen, die Leben enthalten.

Die vier Stärkungsgelübde sind: tägliche Andacht, enge Begrenzung des Lebensraumes, Halten von Fastentagen und Spenden an Heischende. Hinzu kommt der freiwillige Vollzug der endgültigen, zum Tode führenden gänzlichen Entkräftung. (Das Gelübde, seinen Lebensraum zu begrenzen, ist zeitlich eingeschränkt. Beispielsweise gelobt man sich, an bestimmten Tagen des Monats kein Fahrzeug zu benutzen oder seinen Wohnbereich nicht zu verlassen. Anm. d. Hrsg.)

Fußnoten
1:

Zum Vorkommen im Text springen

Quellen
Titel: Keine Gewalt gegen Mensch, Tier und Pflanze
Verlag: Zerling Clemens, Berlin
Ausgabe: 1993
Umschlaggestaltung: Klaus Esche

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Die sinngemāße ūbersetzung des Sanskrit-Textes auf dem Umschlagbild lautet:

Mit der Absage an die Gewalt stirbt die Feindschaft zwischen den Lebewesen

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