Keine Gewalt gegen Mensch, Tier und Pflanze: Hast du den Zusammenhang der Welt erkannt, so sieh um dich:...

Autor*in:  Image of Kurt TitzeKurt Titze
Veröffentlicht: 12.04.2015
Aktualisiert: 14.04.2015

... Danach bist du kein Töter und kein Helfer beim Töten.

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Ausschnitt eines Wandgemäldes im Tempel des Jaina-Klosters in Shravana-Belagola.

Das Bild links oben zeigt die Speisung eines nackten Munis. Dieses Ritual, bei dem der aufrecht stehende Mönch das Essen in kleinen Häppchen, die jedesmal aufmerksam nach etwaigen Lebewesen inspiziert werden, in die bloßen Hände gelegt bekommt, geht auf Mahavira zurück (möglicherweise noch sehr viel weiter) und wird noch heute in gleicher Weise zelebriert. Es herrscht der Brauch, daß der so bewirtete Mönch seinen Gastgebern anschließend eine kurze Lehrrede hält und Fragen beantwortet, wobei er immer etwas höher sitzen muß, doch nicht unbedingt so hoch, wie es im Bild rechts daneben dargestellt ist.

Ein Großteil des Gemäldes, das die linke Wand des Innenhofes bedeckt, zeigt typische Höhepunkte aus dem Leben eines Tirthankaras. Die zugrundeliegende Idee will zeigen, daß im Leben der Menschen alles im Zusammenhang miteinander stehe: Unser Hin ist es, was unser Sein bestimmt. Eingedenk dieser Sichtweise besteht die Lehre Mahaviras nicht darin, die Menschen zu trösten, wenn sie (wie zumeist geglaubt wird) unschuldig leiden müssen, sondern ihnen einen Weg aufzuzeigen, wie sie sich selbst helfen können.

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Dieses Bild (aufgenommen 1989) zeigt, wie ein Digambara-Mönch durch Stehenbleiben die Einladung in ein Haus annimmt. Die Frauen umrunden daraufhin den Mönch dreimal und sprechen die überlieferte Formel: Komm, tritt ein! Speis und Trank sind rein hier. »Rein« bedeutet, daß kein Fleisch, Honig oder Eier in der Speise enthalten sind und das Trinkwasser abgekocht ist.

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MAHAVIRA

8

Durch ihre eigene Tat, durch zugefügtes Leid, das man nicht mehr kennt, werden die Wesen zu dem, was sie sind. Sie gehen furchtverstört und grausam durchs Leben oder durch die Kette der Daseinsformen, der Geburt, dem Alter und dem Tode unterworfen. Diesen Augenblick, der nicht wiederkehrt, soll man wahrnehmen und die verkündete Erkenntnis.

9

Wahrlich ich sage: man soll nicht die Welt leugnen, nicht sich selbst leugnen. Denn wer die Welt leugnet, leugnet sich selbst; wer sich selbst leugnet, der leugnet die Welt. (Gemeint ist die Welt der sichtbaren und unsichtbaren Lebewesen. Anm. d. Hrsg.)

10

Wahrlich ich sage: die ehrwürdigen Heiligen, welche waren, welche sind und welche sein werden, alle sagen sie, sprechen sie, tun sie kund, erklären sie folgendes: kein niederes Tier, kein Gewächs, kein höheres Wesen, kein sonstiges Lebendes darf geschlagen, in Befehl genommen, bemeistert, angestrengt oder vernichtet werden. Das ist die reine, beständige, ewige Lehre, von den Wissenden, da sie die Welt begreifen, verkündet.

11

Zweifle nicht: Du bist ja das Geschöpf, von dem du meinst, es dürfe geschlagen, bemeistert, getötet werden. »Darum sei kein Töter und kein Helfer beim Töten.«

12

Zorn und Übermut schlage der Tapfere nieder, er sehe der Gier großen Abgrund; danach dem Morde entsagend schneide der Tapfere den Zufluß von wirkender Handlung ab, indem er der Sünde erleichtert dahinschreitet. Der Tapfere wandle in Selbstbezwingung. Nachdem dir das Auftauchen bei den Menschen hier vergönnt ist, betätige du dich nicht gegen das Leben der Lebendigen. So sage ich.

13

Hast du den Zusammenhang der Welt erkannt, so sieh um dich: danach bist du kein Töter und kein Helfer beim Töten.

Der Verständige soll, stets auf der Hut, sich mit dem begnügen, was zum Leben unbedingt notwendig ist; gegenüber den Erscheinungen soll er Gleichgültigkeit annehmen in großem Maßstab und in kleinen Dingen.

Sein Kommen und Gehen durch die Existenzen erkennend, tötet er niemanden in der ganzen Welt.

Manche Menschen hier sagen auch: wie seine Vergangenheit, so wird auch seine Zukunft sein. Weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft kennen die zur Vollendung Geschrittenen; die Reihenfolge der Daseinsformen hat von sich geworfen, wer dies Welttreiben überschaut und ein großer Weiser ist.

14

Er läßt die Leidenschaft hinter sich, wie die Schlange ihre Haut. Wenn er dies bedenkt, bildet er, ein Weiser, sich nichts ein, wie ein Brahmane sich auf seine Abstammung; oder hilft etwa das Schlechtmachen von anderen? Wer den anderen geringschätzt, treibt gar sehr im Lauf durch die Daseinsformen umher, und Schlechtmachen ist von Übel: wenn er dies bedenkt, bildet er, ein Weiser, sich nichts ein. Sowohl wer über allen steht wie wer des Knechtes Knecht ist, wenn er in den Mönchsstand eingetreten, so scheue er sich nicht, sondern nehme die Gleichheit aller Genossen in allen Fällen auf sich.

In Selbstzucht, welche Gleichheit mit anderen anerkennt, führe der Mönch seinen Wandel in reiner Gesinnung. Lebenslang hingegeben, hat ein Tüchtiger noch immer sein Sterben klug vollzogen.

Über weiten Zeitraum blickend, nämlich über die Lehre in Vergangenheit und Zukunft, ein Weiser, so wandelt der Fromme in der Lehre, ungebeugt, wenn Unbilden ihn berühren. In vollständiger Einsicht, stets angespannt, soll der Weise das Gesetz der Gleichheit aussprechen.

15

Betrachte hier und jetzt Geburt und Wachstum, erwäge und erkenne, was den Wesen lieb ist; davon herkommend tut ein rechter Wissender, nachdem er erkannt, daß Schonung das Höchste ist, nichts Schlimmes mehr, weil frommer Wandel sein Ziel ist. Löse die Fessel an die Menschen hienieden; sie leben unter Betätigung, sie übersehen beides: Geburt und Tod; in Wünschen begierig häufen sie Besitztümer auf; als Same ausgegossen, gehen sie wieder in einen Mutterschoß ein.

16

Ein Kluger tilgt alles schlimme Tun, und viel schlimmes Tun ist durch euch getan; nun betätigt eure Ausdauer in der Wahrheit. Auf viele Dinge fürwahr sinnt so ein Mensch: er bringt es fertig, ein Sieb füllen zu wollen, er geht aus auf die Niederwerfung, Mißhandlung, Inbesitznahme anderer, ja ganzer Länder. Der Wissende diene nicht dem falschen Ziel, nachdem er es als nichtig erkannt hat. Du hast Erhöhung und Fall im Laufe der Existenzen erfahren, nun geh, ein frommer Mensch, aus auf das, außer welchem nichts ist. Mit einem Wort: Man soll nicht töten, noch töten lassen, noch zustimmen, wenn einer tötet.

Quellen
Titel: Keine Gewalt gegen Mensch, Tier und Pflanze
Verlag: Zerling Clemens, Berlin
Ausgabe: 1993
Umschlaggestaltung: Klaus Esche

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Die sinngemāße ūbersetzung des Sanskrit-Textes auf dem Umschlagbild lautet:

Mit der Absage an die Gewalt stirbt die Feindschaft zwischen den Lebewesen

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  1. Mahavira
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